«Sollte Marine Le Pen gewinnen, weiss ich nicht, was ich tue»

Wie geht es weiter in Frankreich?

Le Pen hat unter anderem angekündigt, die Eheöffnung zurücknehmen zu wollen und bereits geschlossene Ehen zwischen Homosexuellen zu Lebenspartnerschaften herunterzustufen. 

Gerhard (53) und Joe (44) leben in Paris und haben sich 2010 dort verpartnert, 2015 haben sie in Joes US-Heimat geheiratet. Gerhard, der aus Deutschland stammt (auf dem Titelbild rechts zu sehen), lebt schon seit 18 Jahren in Frankreich. Die französische Staatsbürgerschaft hat er erst kürzlich beantragt – zu spät um bei der Präsidentschaftswahl teilzunehmen. Darum kann er dieses Mal noch nicht wählen. Auch Joe kann nicht wählen. Bisher sah er keine Notwendigkeit für einen französischen Pass, weil er einen englischen besitzt. Aber jetzt, da Grossbritannien die EU verlässt, wird er es sich vielleicht nochmal überlegen. Er findet Macron gut, den ehemaligen Wirtschaftsminister. «Er ist mit 39 sehr jung und unabhängig. Er ist nicht Teil des Establishments. Ich glaube, er wäre gut für Frankreich.»

Jeder Vierte will für Macron stimmen

Emmanuel Macron und Marine Le Pen werden die besten Chancen eingeräumt, die Stichwahl zu erreichen. Laut einer aktuellen Umfrage von Harris Interactive für France Télévisions käme Macron auf 25 Prozent der Wählerstimmen, Le Pen könnte mit 22 Prozent rechnen. Gerhard ist sich sicher, dass die Rechtspopulistin es in die entscheidende Stichwahl schafft. „Ich glaube aber nicht, dass sie die Stichwahl gewinnt. Wenn doch, wäre es eine grosse Katastrophe für das ganze Land. Sie will aus der EU, sie will die Eheöffnung zurücknehmen. Ich habe zu Joe gesagt wenn sie gewinnt, gehen wir nach London, aber das ist seit dem Brexit auch keine Option. Sollte sie wirklich gewinnen, weiss ich nicht, was ich tue.“

Le Pen hat u.a. angekündigt, die Eheöffnung zurücknehmen zu wollen und bereits geschlossene Ehen zwischen Homosexuellen in „Pactes Civiles“ (Lebenspartnerschaften) herunterzustufen. Dasselbe würde dem deutsch-amerikanischen Paar drohen, wenn sie nach Deutschland gingen – dort wird ihre Ehe nicht anerkannt. Die USA, Joes Heimat, käme auch nicht in Frage.

«Wer will unter Trump leben», sagt Joe. «Kanada wäre eine gute Option», meint sein Mann.

Der schwule Vize des Front National: Florian Philippot (Foto: Twitter)
Der schwule Vize des Front National: Florian Philippot (Foto: Twitter)

«Interessant ist, dass einer der Vizepräsidenten des Front National schwul ist. Aber da redet hier kaum jemand drüber“, sagt Gerhard. Gemeint ist Florian Philippot, der seit 2012 stellvertretender Vorsitzender ist; Ende 2014 wurde er von einem Boulevardblatt geoutet. Die Strategie, die rechtspopulistische Partei gemässigter auftreten zu lassen und offen rassistische und antisemitische Rhetorik zu verzichten, wird ihm zugeschrieben; Philippot soll auch Marine Le Pen überredet haben, ihren Vater aus der Partei auszuschliessen: Der Holocaust-Leugner Jean-Marie Le Pen hatte die Partei 1972 mitgegründet.

Wie kann jemand, der schwul ist, für eine Partei stimmen, die seine Identität beschneiden und seine Rechte einschränken will?

Schwule Freunde, die Le Pen wählen wollen, haben die beiden Männer nicht. «Wir haben uns das gefragt: Wie kann jemand, der schwul ist, für eine Partei stimmen, die seine Identität beschneiden und seine Rechte einschränken will?», sagt Joe.

Auch Gerhard fallen nur Freunde ein, für Francois Fillon stimmen wollen, den republikanischen Kandidaten, der es Umfragen zufolge kaum in die Stichwahl schaffen dürfte. Auch Fillon ist kein Verfechter von LGBTI-Rechten: So stimmte er im Jahr 1981 im Parlament gegen einen Antrag, Homosexualität nicht mehr zu bestrafen. (Im Folgejahr wurde das Schutzalter für homosexuelle Beziehungen einheitlich auf 15 Jahre festgesetzt.) Auch die Eheöffnung bekam seine Stimme im Parlament nicht.

Gerhard kennt aber viele alte Leute, die den Front National wählen wollen. Er arbeitet als mobiler Krankenpfleger und weiss von vielen Patienten, denen die Ziele der rechtspopulistischen Partei gefallen.

Joe, der als Manager für ein Software-Unternehmen arbeitet, erinnert die Beliebtheit von Le Pen an die Lage in den USA vor den Wahlen, und die Begeisterung für Donald Trump. «Du hast Leute, die die Mainstream-Politik sehr satt haben. Sie fühlen sich von der Globalisierung bedroht, es herrscht grosse Xenophobie.“

Die Angst vor Fremden, vor Migranten aus islamischen Ländern vor allem, ist seit den Terroranschlägen in Paris gross, angefangen mit dem Bataclan vor eineinhalb Jahren.

Ausnahmezustand seit 2015

«Wir leben immer noch im Ausnahmezustand. Ich fühle das auch selber, wir stehen noch unter Schock von den Attentaten», erzählt Gerhard. „Überall ist die Polizei, das Militär, auch vor jüdischen Schulen. Ausserdem gibt es eine grosse Nervosität, es gibt mehr Gewalt.»

«Die Polizei kann auch jede Haus betreten ohne Grund, ohne Durchsuchungsbefehl, wegen des Ausnahmezustands», ergänzt Joe. „Wegen der Terrorangriffe hat der Front National Aufwind bekommen. Viele Leute denken, vielleicht ist es gut, wenn wir eine strengere Einreisepolitik bekommen.»

Beide Männer glauben fest daran, dass Macron am Sonntag die Wahl gewinnt. Dass Le Pen am Ende ihr Ziel nicht erreicht, könnte auch etwas mit dem zu tun haben, was derzeit in den USA zu beobachten ist.

Weil es hier dieses System mit zwei Runden gibt, können die Wähler in der ersten Runde ihre Wut loswerden.

«Die Leute, die sich vorstellen können, für die Rechtspopulisten zu wählen, schauen auf Trump und sehen, wie verrückt er ist, und sie überlegen es sich nochmal. Das hat man in Holland auch gesehen – da wurde den Rechtspopulisten auch ein besseres Ergebnis vorausgesagt. Also, die die bisher mit dem Front National geflirtet haben, sehen, was in den USA passiert, und denken sich: Nein, das sind wir nicht.»

Vorteilhaft findet Joe die Besonderheit des französischen Wahlsystems im Vergleich zu den USA. «Weil es hier dieses System mit zwei Runden gibt, können die Wähler in der ersten Runde ihre Wut loswerden, in Form einer Protestwahl. In der zweiten Runde können sie dann vernünftiger abstimmen. Ich glaube, wenn es so ein System in den USA gegeben hätte, wäre Trump nicht Präsident geworden.»

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