«Meine Familie und die Gesellschaft würden mich zerstören»
Ali wurde mit dem Tod bedroht, weil er schwul ist
Ali Tawakoli floh unter lebensgefährlichen Umständen aus Afghanistan. Gegenüber MANNSCHAFT+ schildert er, wie unmenschlich die Gesellschaft dort gegenüber queeren Menschen ist.
«Ich wurde in einem Land geboren, in dem es eine unverzeihliche Sünde ist, LGBTIQ zu sein.» Das sagt Ali Tawakoli, ein heute 22-jähriger Mann, der in Afghanistan geboren wurde und von dort fliehen musste. Afghanistan ist ein Land, das stark ländlich-bäuerlich geprägt ist, berichtet Ali. Und wo die geschlechtliche Dualität von Mann und Frau nicht infrage gestellt wird. Wo keinerlei queere Rückzugsräume existieren. Nicht einmal im Untergrund in den Städten. Wo es keinerlei verbreitetes Wissen über geschlechtliche Identitäten gibt.«2016, im Alter von 14 Jahren fand ich heraus, dass ich schwul bin», sagt Ali. Und sofort packte ihn die Angst. Ihm war klar, was ihn erwartete: Tod durch Steinigung oder lebendiges Begraben werden. Er dachte, dass er der einzige Mensch sei, der so fühlte. Sofort versuchte Ali, seine Homosexualität zu verbergen. Er hatte Angst vor der eigenen Familie. «Ich wusste: meine Familie und die Gesellschaft würden mich zerstören, wenn sie herausfinden würden, dass ich schwul bin», sagt er.
Nach zwei Jahren dieses schrecklichen Lebens im Versteck, «hinter dem Vorhang», wie Ali sagt, bekam er Zugang zum Internet. Ihm eröffnete sich eine neue Welt: «In jedem Winkel der Welt gibt es LGBTIQ-Menschen unterschiedlicher Orientierung», stellte Ali damals überrascht fest. Das hat ihm Hoffnung gegeben, sagt er heute. In seinen Chats mit trans Menschen erfuhr er selbst erst einmal, wie schlimm es um diese Gruppe in Afghanistan steht. Sehr viele von Ihnen werden aus ihren Elternhäusern geworfen. Viele von ihnen werden in unfreiwillige Sex-Arbeit gezwungen, müssen auf Tanz-Partys auftreten und verlieren unter diesen Umständen oft ihr Leben.
Als sich Ali Tawakoli dann zum ersten Mal selbst mit anderen schwulen und trans Menschen traf, entsetzte ihn eines ganz besonders: «Viele von ihnen hielten sich für krank», erinnert er sich. Sie hatten die vergiftete Perspektive ihrer Familien und der Gesellschaften bereits tief verinnerlicht. Daraufhin entschied sich Ali, auf seiner Facebook-Seite Informationen über geschlechtliche Identitäten zu veröffentlichen. Die Reaktion darauf liess nicht lange auf sich warten. Ali erhielt Drohungen, man wollte ihn sogar enthaupten.
Eine lebensgefährliche Flucht in den Iran scheitert Dann kam im Jahr 2021 die Machtübernahme der Taliban (MANNSCHAFT BERICHTETE). «In der ersten Nacht, als die afghanische Provinz Herat in die Hände der Taliban fiel, riefen mich mehrere LGBTIQ-Personen an und sagten, wir sollten Afghanistan so schnell wie möglich verlassen.» Und plötzlich hatten die Taliban auch noch seine Handynummer herausgefunden. Als er einem Freund davon berichtete, erzählte dieser ihm, dass in der Zwischenzeit bereits viele queere Menschen verhaftet worden waren. Für Ali war klar: er musste aus Afghanistan fliehen, wenn er überleben wollte.
Viel Zeit zum Überlegen hatte Ali aber nicht. Etwa, was es bedeuten würde, alles Bekannte zurückzulassen und ob man ihn dort, wohin er gehen wollte, überhaupt haben wollte. Innerhalb einer Stunde nach dem Anruf des Freundes machte sich Ali auf den Weg in den Iran. «Ich musste umgerechnet 300 US-Dollar an die Menschenhändler zahlen», sagt Ali. Diese Schmuggler brachten ihn in einem Kofferraum über die iranische Grenze. Dort aber geriet er in einen Hinterhalt der iranischen Grenztruppen. Entkommen ist er ihnen und den Gewehrsalven, die diese auf ihn abfeuerten, nur um Haaresbreite.
Nach fünf ungewissen Monaten im Iran zerschlugen sich alle Hoffnungen für ihn. Denn die iranischen Behörden schoben ihn wieder ab nach Afghanistan. Ali liess sich aber trotz allem davon nicht entmutigen. Sein neuer Plan war nun: nach Pakistan und von dort nach Deutschland. Doch auch dies ging fast schief. Denn die Taliban waren ihm auf der Spur. Ein Mitarbeiter des Hotels, in dem Ali unterkam, warnte ihn noch rechtzeitig, sodass er den Islamisten gerade noch entkam. In den folgenden Tagen irrte er durch Kabul und versteckte sich schliesslich in einem anderen Hotel. Ein Lichtblick immerhin: Zwischenzeitlich hatte ihm die pakistanische Botschaft tatsächlich ein Visum zur Eineise ausgestellt.
Von da aus brauchte es jetzt nur noch einen letzten Schritt. Er musste nur noch über die pakistanische Grenze und diesen Weg wollte er gemeinsam mit einem trans Mann gehen, den er vorher kennengelernt hatte. Doch auch diesen Versuch musste Ali beinahe mit dem Leben bezahlen. Dann als er sich auf den Weg machte, den trans Mann zu treffen, wurde er in Kabul von den Taliban gefangengenommen. Sie schlugen ihn mit Peitschen und verhörten ihn. Nur dem Umstand, dass sie ihn letztlich nicht identifizieren konnten, verdankte er, dass er wieder freigelassen wurde.
Er schleppte sich zurück in sein Hotel, war aber sehr geschwächt. «Ich konnte aufgrund der Folter durch die Taliban nicht richtig laufen», erinnert sich Ali. Zu Hilfe kam ihm dann der trans Mann, mit dem er eigentlich nach Pakistan wollte. Und sie schafften es schliesslich tatsächlich bis nach Pakistan. Sie gelangten dort zur deutschen Botschaft und konnten nach Deutschland evakuiert werden.
Afghanistan-Hilfe der deutschen Bundesregierung könnte gestrichen werden So oder so ähnlich wie Alis Lebensgeschichte klingen auch viele andere derjenigen, die aus Afghanistan fliehen, sagt Jörg Hutter, Bundesvorstandsmitglied des LSVD. Er beschäftigt sich seit Jahren mit Menschen, die aus Afghanistan weg müssen. «Die Taliban hatten angekündigt, diese Menschen durch Folter, Steinigung oder lebendiges Begraben zu vernichten», sagt Hutter. Queere Menschen seien dort allein wegen ihrer schlichten Existenz in Lebensgefahr.
Es sei unmöglich, in Afghanistan für die eigenen Rechte einzutreten, erklärt Hutter. Weder auf der Strasse, noch mit einer eigenen Organisation. Diese Situation sei auch schlimmer, als bei anderen diskriminierten Gruppen. Seit der Machtübernahme der Taliban habe sich die ohnehin schwierige Situation noch einmal verschlechtert. Nun sei der menschenunwürdige Umgang mit queeren Menschen sogar vonseiten des Staates legitimiert worden.
Ganz besonders bedrückend sei auch der Umstand, dass die Bedrohung unmittelbar aus der eigenen Familie komme, beklagt Jörg Hutter: «Für die meisten Familien bedeuten queere Kinder eine absolute Schande, die es zu tilgen gilt. Viele Eltern lassen ihre Kinder umbringen, bringen ihre Kinder selber um oder liefern sie den Taliban aus.» Auch die eigenen Leute würden so zur Bedrohung, «weil alle Kontakte, die man einmal hatte, einen selbst verraten können. Jeder steht mit dem Rücken zur Wand und kämpft für sich selber.»
In seiner täglichen Arbeit kommt Jörg Hutter kaum hinterher, wie er betont. «Ich kriege jeden Tag unzählige Hilfegesuche, meine Kolleg*innen ebenso. Aber wir können nur ein Bruchteil davon überhaupt versorgen,» sagt Hutter schweren Herzens. Es kämen nur ganz wenige Leute aus dem Land raus. Auch die finanziellen Mittel, die es für die Flucht brauche, hätten die meisten Menschen ohnehin nicht.
Im pakistanischen Islamabad harrten derzeit «über 3.700 Personen aus, die sich bereits im Aufnahmeverfahren befinden. Weitere ca. 15.000 Personen hat die Bundesregierung bereits ausgewählt und kontaktiert, viele warten seit Monaten auf Rückmeldung.» Dies schrieben unter anderem der LSVD, der Afghanistan-Schulen Verein, und Amnesty International in einer gemeinsamen Stellungnahme Mitte Juli.
Im Oktober 2022 hatte die deutsche Bundesregierung eigens ein Programm aufgelegt, um gerade solchen Menschen zu helfen. Angestrebt war seitens der Bundesregierung eine Zahl von 1000 Menschen monatlich. Bisher seien aber bis zum Juli 2024 nur gerade einmal 533 Personen aufgenommen worden, beklagt der LSVD.
Dieses Programm könnte aber bald vor dem Aus stehen. Denn im kommenden Bundeshauhalt ist das aktuelle Aufnahmeprogramm nach bisherigen Planungen gar nicht mehr vorgesehen. «Nicht nur wir und andere NGOs waren davon überrascht, sondern selbst deutsche Regierungsstellen waren darauf nicht vorbereitet», sagt Jörg Hutter vom LSVD. Bis in den Herbst laufen jetzt noch die Haushaltsberatungen und das Parlament muss sich damit noch befassen. «Das Programm muss ohne Wenn und Aber bis zum Ende der Legislaturperiode 2025 fortgesetzt werden», sagt Hutter. «Ich hoffe, dass auch unsere Community es nicht hinnimmt, dass ein Programm, das unsere Leute rettet, einfach so mit einem Federstrich gestoppt wird.»
Menschenrechte kennen keine Grenzen!
Für den Fortbestand des Aufnahmeprogramms kämpft auch, der mittlerweile in Bremen lebt und dort die Organisation Rainbow Afghanistan mitgegründet hat. «Wir hoffen, dass die Bundesregierung gefährdete Menschen nicht zurücklässt, insbesondere die LGBT-Menschen Afghanistans,» sagt er. Ali ist froh, dass er in Deutschland sein kann, hatte bei seinem Neuanfang aber auch mit Problemen zu kämpfen. Erstmal musste er sich langsam körperlich und mental von der Folter der Taliban erholen. Dann wurde er in seinem ersten Aufnahmeort in Fulda zu allem Überfluss auch noch ausländerfeindlich beschimpft.
In Bremen jedoch fühlt er sich nun wohler. «Ich bin hinter dem Vorhang hervorgetreten», hinter dem er so lange in Afghanistan leben musste, weil er seine Identität nicht leben konnte. «Mit meinem Gesicht und meinem richtigen Namen habe ich begonnen, mich dafür einzusetzen, das Leben von LGBTIQs in Afghanistan zu retten und für die Rechte von LGBTIQ in Afghanistan zu kämpfen.» Wenn diesen Menschen nicht geholfen werde, drohe ihnen in Afghanistan Folter und Hinrichtung, so Ali und fordert: «Menschenrechte sollten nicht auf geografische Grenzen, Geschlechtsidentitäten und bestimmte soziale Gruppen beschränkt sein.»
Geschlecht anpassen beim Standesamt – aber wie? (MANNSCHAFT BERICHTETE)
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