Die Macht der Bilder – Gegen Putin und russische Propaganda
Eine Fotografin im Exil berichtet
Die russische Fotografin Emmie America setzte sich in ihrer Heimat für Freiheit und LGBTIQ-Rechte ein. Nach ihrer Verhaftung in Moskau lebt sie nun in New York. Ein Gespräch über die Macht der Fotografie und über den verlorenen Kampf für ein freies Mutterland.
Emmie, wie bist du zur Fotografie gekommen? Ich wollte Künstlerin sein, seit ich denken kann! Mit sechs Jahren war es noch Modedesignerin, bis ich dann mal feststellte, dass ich es hasste, mit den Händen zu arbeiten. Ich war zwölf, als ich zu Weihnachten eine Spiegelreflexkamera geschenkt bekam. Danach entwickelte sich alles sehr natürlich. Ich überlege mir zurzeit, wohin mich das führen kann, denn der Gedanke, ein Leben lang das gleiche zu machen, finde ich beängstigend.
Deine Mutter ist lesbisch. Wie hat ihr Leben in Russland deine Kindheit geprägt? Sie hat mir zu verstehen gegeben, welche Folgen die Unterdrückung auf die menschliche Seele haben kann. Ich bin fest davon überzeugt, dass das russische Regime der Grund dafür ist, dass meine Mutter eine sehr kalte und distanzierte Person ist. Sie musste ihr ganzes Leben verstecken und wurde sehr paranoid, misstrauisch und schottete sich von der Welt ab. Für ein junges Kind ist es sehr schwierig, eine Mutter zu haben, die keine Zuneigung zeigt. Ich konnte das erst als junge Erwachsene verstehen.
Mein Aktivismus – wenn man ihn so nennen kann – rührt zu einem Grossteil davon, wie ihre Erfahrungen mich prägten. Die Beziehung zu meiner Mutter wäre eine andere, stammten wir nicht aus Russland, und ist ein gutes Beispiel dafür, wie Regierungen ganze Familien zerstören können.
Konnte sie ihre Liebe offen ausleben? Als ich 14 Jahre alt war, brachte sie eine Frau nach Hause und sagte: «Diese Frau wird jetzt bei uns wohnen, sonst werde ich deine Schule nicht mehr bezahlen.» Es war zu jener Zeit, als Russland unter Putin die ersten homophoben Gesetze erliess. Mit der Zeit durfte ich niemandem davon erzählen, weder der erweiterten Familie noch meinen Lehrpersonen.
Diese Frau wird jetzt bei uns wohnen, sonst werde ich deine Schule nicht mehr bezahlen
Nach Elternabenden würde sie mich anschreien, dass ich es anderen erzählt hätte. Dabei stimmte das gar nicht. Das gab mir zu verstehen, wie Propaganda funktioniert, wie Regime mit Hass Gehirnwäsche betreiben. Meine Mutter war lange mit dieser Frau zusammen. Wie offen sie ihre Liebe ausleben konnte, ist die andere Frage.
War es dadurch schwieriger für dich, dich bei deiner Mutter zu outen? Ich hatte meine erste Freundin mit 15, outete mich aber erst letztes Jahr bei ihr (lacht). Hätte sie ihre Augen offengehalten, hätte sie es gewusst. Als ich noch in Russland wohnte, war ich oft in der Öffentlichkeit und sprach über viele Dinge.
Zudem ist es auf meinen Social-Media-Kanälen offensichtlich. Hätte ich eine Zeitmaschine und würde meine Mutter im gleichen Alter treffen – ich bin überzeugt, wir wären beste Freundinnen.
Sie war freimütig, zielgerichtet und ging auf die Kunstschule. Sie hatte als eine der ersten einen Irokesenschnitt. Das Regime hatte sie aber dermassen kaputt gemacht, dass nichts mehr davon übrig war, als ich auf die Welt kam. Ich habe das Gespräch mit ihr gescheut, weil sie mich oft für Dinge verurteilte, die sie selbst in meinem Alter getan hatte. Aber das tat sie schlussendlich nicht. Ihre Akzeptanz war gross und sie war einfach toll. Danke Mama.
Für dein Bild mit dem Schriftzug «Freiheit» wurdest du verhaftet. Wie kam es dazu? Ich wollte etwas mit Wächtern machen, die unsere Freiheit bewachen. Zu dieser Zeit wurde Alexej Nawalny vergiftet, in Russland brodelte es. Es war Aufbruchstimmung, als würde uns nur noch ein Schritt von der Revolution trennen. Ich wusste also, dass ich für das Bild Ärger bekommen würde.
Ich dachte aber, dass nur ich Probleme kriegen würde und nicht die Statist*innen, die für das Bild posierten und so klein nicht erkennbar waren. Ich fotografierte aus einer Wohnung im zwölfte Stock. Es stellte sich heraus, dass der Nachbar ein Bulle war und die Polizei rief.
Was geschah nach eurer Verhaftung? Ich verbrachte schliesslich 13 Stunden auf dem Polizeiposten. Die Polizei wollte die Geschichte so spinnen, dass ich von den USA bezahlt werde, um das Land zu destabilisieren. Sie nötigten die Statist*innen, ein Geständnis zu unterschreiben, aber alle lehnten ab – das war süss. Da meine Verhaftung viel Medienaufmerksamkeit mit sich brachte – unter anderem auch dank meinen Freund*innen, die bei den Medien arbeiteten – kam ich ohne Haftstrafe davon. Das wäre heute nicht mehr möglich. Nach der Invasion in die Ukraine änderte Russland die Gesetze: Für «Landesverrat» gibt es heute bis zu elf Jahren Gefängnis. Die Erfahrung auf dem Polizeiposten hat mir jedoch gezeigt, wie gestört und unorganisiert das System ist.
Inwiefern? Du siehst, wie die Bullen untereinander sind: «Mach du es!» «Ich weiss nicht wie!» «Ich auch nicht!» «Was tun wir?» Es war wie eine Episode aus «The Office». Ein anderes Beispiel: Da viele der Statist*innen Frauen waren, mussten sie von einer anderen Frau auf die Toilette begleitet werden. Da nur eine Polizistin auf der Wache war, fluchte diese jedes Mal, weil sie das Spiel auf ihrem Smartphone unterbrechen musste.
Russland hat die Verfolgung von LGBTIQ-Personen verschärft. Wie hat sich das auf dich oder den Alltag deiner Freund*innen ausgewirkt? Zwei Freundinnen heirateten 2021 symbolisch auf einem Boot. Dabei wurden sie vom Ufer aus gefilmt. Wenig später kam die Hochzeit im Staatsfernsehen mit der Headline: «Was erlauben sich diese dreckigen Lesben?» Bald kursierten Screenshots von Männern, die Pläne ausheckten, um sie zu überfallen. Es war beängstigend. Mittlerweile leben meine Freundinnen in Portugal – viele haben das Land verlassen.
Du lebst in New York. Die USA stehen auch in den Schlagzeilen, was LGBTIQ-Feindlichkeit angeht. Siehst du Parallelen zu Russland? Es ist nicht dasselbe, aber es fühlt sich ähnlich an. Jedes Mal, wenn ich Bruchteile aus einer Rede eines republikanischen Politikers höre, frage ich mich: «Spricht er Englisch? Das klingt nämlich wie die Scheisse bei mir zuhause.» Wir müssen begreifen, dass die Geschichte zurückgedreht werden kann. Rechte können dir einfach weggenommen werden, das hat uns Roe v. Wade gezeigt (Grundsatzentscheid zum Abtreibungsrecht, MANNSCHAFT berichtete).
Du fotografierst für Kund*innen und für persönliche Projekte. Was motiviert dich? Als ich jünger war, wollte ich nur Mode machen und ging mit dem Flow. Mit der Zeit stellte ich fest, dass ich genauer hinschauen und ein besseres Verständnis davon haben wollte, was ich eigentlich tat. Heute versuche ich, mehr als nur Fotos zu machen. In Russland war alles ein Kampf, hier in den USA sind die Leute offen und inklusiv, was die Richtung eines Projekts angeht. Natürlich kann ich mich nicht immer durchsetzen, aber die Menschen erweitern ihre Perspektiven über die Inspiration hinaus. Als Fotografin ist das meine grösste Macht.
Du hast dir deinen Kindheitstraum bereits erfüllt: Du hast das Foto für das Cover von Vogue Russland fotografiert. Zugegeben ist es ein generischer Traum. Ich glaube jede Person, die sich für Mode interessiert, will mal etwas für die Vogue machen. Ich war 24, als ich auf das Set lief und es kaum glauben konnte. Besonders, weil das Verlagshaus Condé Nast ein konservativer und hierarchischer Konzern ist.
Das Cover bedeutet mir sehr viel, da ich mit der neuen Chefredakteurin zusammenarbeiten und einen Essay über die Meinungsfreiheit schreiben durfte. Das Thema war äusserst politisch und behandelte Themen, die viele schockierten, da Vogue normalerweise nicht mit solchem Inhalt in Verbindung gebracht wird. Chefredakteurin Xenia Solowjewa ging ein erhebliches Risiko ein, indem sie es zu ihrer ersten Ausgabe machte, und dafür bin ich ihr dankbar.
Das Magazin gibt es heute nicht mehr. Xenia war nur ein Jahr lang Chefredakteurin. Wir arbeiteten an einem weiteren Cover, das eine wichtige Ausgabe zum Thema psychische Gesundheit werden sollte, als der Krieg ausbrauch. Condé Nast schloss den Sitz in Russland und entzog die Lizenz. Wir hatten die Ausgabe bereits fertig gestellt, durften sie aber nicht drucken. Eine verheerende Entscheidung, besonders zu einer Zeit, in der Russland dringend Diskussionen über psychische Gesundheit benötigte.
Welche Auswirkung hat die Invasion in die Ukraine auf dich? Um ehrlich zu sein, ist die Diskussion rund um den Krieg in der Ukraine ziemlich herausfordernd. Es gibt so viel darüber zu sagen, und ich habe festgestellt, dass jedes meiner Interviews seitdem schwierig war, weil nichts mit dem Ausmass der Zerstörung, die die Ukrainer*innen gerade erleben, wirklich vergleichbar ist. Ich bin Russin, 27 Jahre alt. Als Putin Präsident wurde, war ich vier. Ich bin festgenommen worden, habe den Krieg verurteilt und mich als Freiwillige für Menschen aus der Ukraine engagiert. Trotzdem verspüre ich immer noch ein überwältigendes Gefühl von Schuld und Hilflosigkeit.
Glaubst du an ein Russland für LGBTIQ-Menschen? Früher war ich sehr motiviert, als ich mich für Freiheit und LGBTIQ-Rechte einsetzte. Aber jetzt, mit der Invasion, habe ich den Glauben daran verloren, dass ich ein freies Russland in meiner Lebenszeit erleben werde. Das Russischsein ist jetzt der prägendste Teil meiner Identität, und ich weiss nicht, wie ich das in Einklang bringen soll. Oft frage ich mich, wie anders mein Leben wäre, wenn ich nicht Russin wäre.
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