«Oracle» – Alan Turings Vermächtnis zwischen Enigma und KI

Der polnische Starregisseur Łukasz Twarkowski feiert Uraufführung bei der Ruhrtriennale in Duisburg

«Oracle» des polnischen Starregisseurs Łukasz Twarkowski feiert Uraufführung bei der Ruhrtriennale in Duisburg
Eine Szene aus «Oracle» des polnischen Starregisseurs Łukasz Twarkowski (Bild: Katrin Ribbe, Ruhrtriennale 2025)

Alan Turing ist eine der grossen tragischen Figuren des 20. Jahrhunderts: genialer Mathematiker, Codeknacker im Zweiten Weltkrieg, Pionier der Computertechnik – und zugleich ein schwuler Mann, den der britische Staat wegen seiner Sexualität demütigte und zerstörte.

1952 wurde er wegen «Homosexualität» verurteilt und einer chemischen Kastration unterzogen. Zwei Jahre später nahm er sich das Leben.

Dass Regisseur Łukasz Twarkowski ihn in seiner Ruhrtriennale-Inszenierung «Oracle» zum Mittelpunkt eines vierstündigen Theaterrauschs macht, ist mehr als ein historischer Verweis. Es ist eine Rückeroberung: Turing erscheint nicht länger als Randfigur der Wissenschaftsgeschichte, sondern als queerer Held, an dem sich die Fragen unserer Gegenwart entzünden.

Bereits 2022 war Twarkowski mit seiner immersiven Performance «Respublika» bei der Ruhrtriennale zu Gast. Nun kehrt er zurück – diesmal in Zusammenarbeit mit dem Dailes Theatre aus Riga (Lettland). Die Textfassung von «Oracle» stammt von der polnischen Dramatikerin Anka Herbut, mit der Twarkowski schon mehrfach gearbeitet hat.

Gemeinsam haben sie in der Kraftzentrale des Duisburger Landschaftsparks ein multimediales Theaterereignis geschaffen, das Turings Biografie mit Fragen zur Macht der Künstlichen Intelligenz verbindet. Zugleich ist «Oracle» der zweite Teil von Twarkowskis Wissenschafts-Trilogie: Nach «Quanta» folgt hier die nächste theatrale Erkundung der Schnittstellen von Forschung, Technologie und Gesellschaft. 

Andere Künstler*innen haben sich bereits intensiv mit Turing beschäftigt. In «The Imitation Game» (2014) verkörperte Benedict Cumberbatch den Mathematiker in einem Historienfilm, der weltweit ein Millionenpublikum erreichte. Im November 2022 brachte das Staatstheater Nürnberg mit der Oper «Turing» eine musikalische Annäherung auf die Bühne.

Twarkowski und Herbut schliessen hier daran an, wählen jedoch einen gänzlich anderen Zugang: Statt einer klassischen Biografie verweben sie verschiedene Zeitebenen. Turings Leben und Vermächtnis verbinden sich mit einer Reflexion über KI und die gesellschaftliche Macht der Technologie – und öffnen so den Blick nicht nur zurück, sondern vor allem nach vorn.

Neben den Szenen aus Bletchley Park, wo Turing mit seinem Team die Enigma-Maschine entschlüsselte, treten Figuren unserer Gegenwart auf – etwa der Google-Ingenieur Blake Lemoine, der öffentlich erklärte, eine von ihm mitentwickelte Künstliche Intelligenz habe ein eigenes Bewusstsein. So entsteht ein Bilderstrom, in dem Vergangenheit und Zukunft ineinanderfliessen: das analoge Ringen um den Code und das digitale Staunen über Maschinen, die längst mehr scheinen als blosse Werkzeuge.

Die ästhetischen Mittel sind ebenso wuchtig wie exzessiv. Kameras und Projektionen zerlegen die Bühne in Split-Screens, Klangflächen wummern bis in die Körper des Publikums, ein Labyrinth aus mobilen Räumen verschiebt sich ständig neu. Wer sich darauf einlässt, erlebt ein Spektakel von seltener Sinnlichkeit. Wer Distanz behält, kann die Gefahr der Reizüberflutung kaum übersehen. Gerade darin aber steckt eine besondere Spannung: Das Stück wirkt manchmal wie ein Spiegel queerer Erfahrung – das ständige Navigieren zwischen zu vielen Codes, das gleichzeitige Leben in zu vielen Räumen, die Überforderung, die auch eine Form von Erkenntnis sein kann.

Berührend sind die ruhigen Szenen, in denen das Ensemble innehalten darf: Turings Gespräche mit seiner Kollegin und kurzzeitigen Verlobten Joan Clarke, seine Erinnerung an den früh verstorbenen Freund Christopher oder die Begegnung mit Hedy Lamarr, die als Schauspielerin und Erfinderin selbst gegen die engen Rollenbilder ihrer Zeit ankämpfte. Hier tritt die menschliche Dimension hervor, die zeigt, dass Turings Denken immer auch von seinem Begehren und seiner Aussenseiterposition geprägt war. Und doch bleibt spürbar, wie brüchig diese Nähe ist: Liebe erscheint oft nur in Andeutung, gleich wieder verschluckt vom Rauschen der Maschinen.

«Oracle» ist kein Stück, das Antworten liefert, sondern ein Abend, der sich als Rätsel begreift. In seiner Mischung aus historischen Fakten, digitaler Magie und queerer Erinnerungskultur zeigt es Turing nicht nur als genialen Wissenschaftler, sondern als Mann, der sein Anderssein nie von seiner Arbeit trennen konnte. Am Ende bleibt nicht die Frage nach den Maschinen, sondern die Erkenntnis: Die moderne Welt, in der wir leben, ist auch das Erbe eines Schwulen, dem man damals den Platz in dieser Welt verwehrte.

Nächste Vorstellung: Am 2. September um 19 Uhr. Tickets und Infos hier.

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