Alter Ego: Die unerträgliche Redlichkeit des Seins

Die MANNSCHAFT-Kolumne

Zwei Männer beim Biertrinken
Symbolbild (Bild: Pexels, Ketut Subiyanto)

Der Text ist geschrieben, der Feierabend naht – doch im Kopf des Autors meldet sich eine Stimme, die keine Ruhe gibt. Erst ein spontanes Bier mit einem Freund bringt sie zum Verstummen.

Es ist Dienstagnachmittag, ich sitze zuhause am Computer und habe soeben den Text für eine Reportage abgeschlossen.

Ich (aufatmend): So, Feierabend. Alter Ego (mit einem Blick auf die Uhr): Schon? Es ist erst 15.30 Uhr. Ich: Na und? Alter Ego: Ich weiss nicht. Kommst du denn heute auf deine acht Stunden Arbeit?

Ich: WIE BITTE!? Seit wann arbeite ich denn nach der Stechuhr? Ich bin selbstständig und hab’ weder feste Bürozeiten noch bin ich zu einer 42-Stunden-Woche verpflichtet. Und wenn du schon so genau rechnen willst, dann zähl doch bitte den heutigen Hundespaziergang zur Arbeitszeit – da hab’ ich nämlich mehr als eine Stunde lang an dem neuen Text rumstudiert. Und beim Duschen ist mir der Titel eingefallen. Alter Ego (kleinlaut): Schon gut, schon gut. Man wird ja wohl mal fragen dürfen . . .

Genervt werfe ich mich aufs Sofa, schnappe mir die neue MANNSCHAFT und beginne zu lesen.

Alter Ego (leise): Jetzt wär’ doch eigentlich eine gute Zeit für etwas Sport. Würde dir guttun. Die Waage hat heute morgen ja gemeint, dass du mittlerweile ganze zwei Kilo . . . Ich: Ja, ja, ich habe verstanden. Ich möchte trotzdem erst einmal in Ruhe diese Reportage lesen. Alter Ego: Na ja, die Tafel Schokolade von vorhin kann so natürlich wunderbar anschlagen. Aber wenn du meinst.

Ich schmeisse das Magazin hin und stehe wieder auf.

Ich: Mann, du nervst! Dann geh’ ich halt noch eine Runde Fahrrad fahren. Alter Ego: Sehr gut! Und darf ich dich bei der Gelegenheit daran erinnern, dass du immer noch keinen Helm gekauft hast? Im Jahresservice war dein Rad diesen Frühling übrigens auch nicht. Ich: Sag mal, hast du eine Steuerbeamtin verschluckt, oder was ist los? Alter Ego: Ich meine ja nur – wegen der Sicherheit und so. Ich: Ja, ja . . .

Draussen öffne ich mein Fahrradschloss, schwinge mich auf den Sattel und fahre los. An der nächsten Kreuzung spure ich, brav Handzeichen gebend, ein und warte, bis die Ampel grün wird, bevor ich abbiege. Ein Polizeiwagen kommt mir entgegen.

Illustration: Dominik Schefer
(Bild: Dominik Schefer)

Alter Ego: Oh nein! Haben sie uns gesehen? Verhalt dich ganz unauffällig und schau nicht rüber. Ich: Wieso? Ich hab’ doch gar nichts falsch gemacht. Alter Ego: Irgendwas finden die immer. Den Polizisten nicht in die Augen sehen, das wirkt verdächtig! Ich (kopfschüttelnd): Du hast sie echt nicht mehr alle.

Die Strasse geht nun etwas nach unten.

Alter Ego: Nicht so schnell. Bremsen. Da vorne ist ein Fussgängerstreifen. Nicht zu nahe an die Tramschienen. Achtung! Ist das Vorderrad locker? Da schlingert doch was. Nicht so schnell!

So geht das die ganze Fahrt über weiter. Irgendwann quengelt mein Alter Ego, dass es nach Hause will. Es möchte sich einen Salat zubereiten, etwas lesen und die Nachrichten um halb acht sehen.

Ich rufe stattdessen einen alten Freund an, und wir verabreden uns spontan zu einem Bier. Aus diesem werden zwei, dann drei, und bevor wir aufhören zu zählen, verstummt mein Alter Ego endlich. Morgen früh wird es ein Donnerwetter geben, aber für diesen freien Abend ist es das wert.

Weitere Beiträge von Mirko gibt's in der Kolumne «Alter Ego»

Entdecke weitere Beiträge in unserem Online-Magazin:

Unterstütze LGBTIQ-Journalismus

Unsere Inhalte sind für dich gemacht, aber wir sind auf deinen Support angewiesen. Mit einem Abo erhältst du Zugang zu allen Artikeln – und hilfst uns dabei, weiterhin unabhängige Berichterstattung zu liefern. Werde jetzt Teil der MANNSCHAFT!

Das könnte dich auch interessieren

Kommentare