Die Redaktion liest: unsere aktuellen Buchtipps
Egal ob tiefgründige Geschichten, literarische Überraschungen oder intensive Erzählungen – der Winter lädt dazu ein, sich mit einem guten Buch und einer warmen Decke zurückzuziehen.
Alain Claude Sulzer – Fast wie ein Bruder Der erste Satz: Frank war zweiunddreissig, als er starb, genauso alt wie ich.
Das Genre: Ein Roman über Freundschaft und Abschied, Ruhm und das Vergessen von Kunst.
Die Handlung: Der Ich-Erzähler und Frank wachsen zusammen Tür an Tür in Bochum der 1970-Jahre auf. Von den Eltern geliebt, fast wie Zwillinge.
Die Entfremdung beginnt mit dem Tod der beiden Mütter und einem Skandal, der von Frank entfacht wird und dazu führt, dass beide Familien in unterschiedliche Städte ziehen.
Frank ist von Kunst besessen und strebt eine Karriere als Maler an, entdeckt seine Homosexualität und zieht nach New York. Der Ich-Erzähler kann mit dem allem nichts anfangen.
Ihre Leben gehen in unterschiedliche Richtungen, – der Ich-Erzähler heiratet, zieht nach Frankreich, wird ein bekannter Kameramann – während Frank in New York als erfolgloser Künstler ein wildes Sexleben lebt.
Als Frank an Aids erkrankt, kehrt er zurück nach Deutschland. Die beiden Freunde treffen sich an Franks Sterbebett wieder und auch wenn ihre Leben sie in unterschiedliche Richtungen geführt haben, ist die Verbindung aus Kindertagen noch immer vertraut. Folgerichtig erbt der Ich-Erzähler Franks gesamtes Werk, das er in einer Scheune auf seinem Grundstück verstaut – ohne sich aber je die Bilder näher anzuschauen oder sich damit zu beschäftigen.
Das Urteil: Ein vielschichtiger Roman, der Freundschaft, Homosexualität, die Aids-Krise, Kunst und deren Vergessen beinhaltet – zeittypisch beklemmend und über die Vergänglichkeiten des Lebens. – Roman, Galliani, 185 Seiten
Maë Schwinghammer – Alles dazwischen, darüber hinaus
Der Debütroman von Maë Schwinghammer sucht nach einem eigenen Ich, einer eigenen Sprache, dem eigenen Körper – und findet. Der Weg dorthin führt durch die Arbeitendenklasse, Wurzeln in Österreich und Serbien, hin zu der Fluidität der Geschlechter, von Sexualität, Liebe und Freundschaft, von Autismus und der Annäherung an gewählte und ungewählte Familien.
Wir finden: Ein schmerzhafter, zugleich heilsamer Roman mit einer feinfühligen, poetischen Sprache, der man im besten Sinne anmerkt, dass Maë (geboren 1993, aufgewachsen in Wien-Simmering) Sprachkunst studiert, Lyrik, Theaterstücke und Essays schreibt. Die Texte haben etwas Szenisches, das aus dem Lesen ein Eintauchen macht, so dass man einfach da ist, still, beobachtet. – Roman, Haymon, 232 Seiten
Neil Smith – Jones Abi und Eli Jones verbindet ein besonderes Band. Ihre Kindheit in den Siebzigerjahren ist geprägt von ihren verkorksten Eltern: ihrem Vater Pal, sanft, aber alkoholkrank, und der Mutter Joy, zwanghaft und aufbrausend.
Die Familie schlägt nirgendwo Wurzeln, sondern zieht immer dorthin, wo Pal Arbeit findet. Das schweisst die Geschwister zusammen, doch Eli erkennt bald, dass er sich von den Jones lossagen muss, wenn er überleben will.
Von da an versuchen Abi und Eli getrennt voneinander ihren Weg ins Erwachsenenleben zu finden: beim Entdecken von Elis Schwulsein, beim Experimentieren mit Drogen und Alkohol – und mithilfe des rettenden Potenzials der Kunst.
Wir finden: Eine fesselnde Geschichte über Familienchaos und Missbrauch. Smiths Werk ist sowohl herzzerreissend als auch dunkel komisch und bietet eine ehrliche und brillante Darstellung der Auswirkungen familiärer Fehltritte. – Roman, Schöffling & Co., 304 Seiten
Thea Rojzman, Bernardo Muñoz – Scum. Die Tragödie Valerie Solanas In welches Regal? Zu den biografischen Comics mit Hauptfiguren weitab von beliebten oder berühmten Held*innen. Also neben «Gift» von Barbara Yellin und Peer Meter, in dem es um die Giftmörderin Gesche Gottfried geht, Shigeru Mizukis Graphic Novel «Hitler» oder «Haarmann» von Isabel Kreitz und Peer Meter.
Wie sieht es aus? Semi-funny Gestaltungselemente (grotesk verzerrte Gesichter, menschliche Tiergestalten) bringen Dynamik in eine düstere Lebensgeschichte, die an Bilder eines zerborstenen Spiegels erinnern: Zersplittert und messerscharf.
Um was geht es? Schon der Untertitel verrät: Hier geht es nicht um Valerie Solanas Mordversuch an Andy Warhol, der ihr neben den ersehnten 15 Minuten Ruhm Gefängnis und Einweisungen in geschlossene Anstalten einbrachte.
Die Tragödie ist ihr gesamtes Leben, das zwischen Verletzung, Ablehnung, Aussenseiterdasein, Wahnvorstellungen und Aggression in eine immer wildere Abwärtsspirale gerät: 1936 in eine dysfunktionale Familie geboren, macht sie ihren Schulabschluss, obwohl sie zu der Zeit auf der Strasse lebt.
Ein Abschluss in Psychologie folgt, das Leben als offen lesbische Frau und Verfasserin des «SCUM»-Manifesto, das die Eliminierung aller Männer fordert und sein Publikum noch immer spaltet: Handelt es sich um Radikalfeminismus, Männerhass oder bissige Satire?
Wie finden wir es? Faszinierend bis verstörend. Rojzman und Muñoz benutzen gleich mehrere Kunstgriffe, um Solanas spät diagnostizierte Schizophrenie und dissoziative Störung in Szene zu setzen: Eine allwissende Ratte als Erzählerin, eine zunehmend auflösende Panelstruktur, eine unzuverlässige Zeitabfolge als auch Erzählung: So kann Solanas unmöglich erst auf dem «Miss Amerika Protest» (der im September 1968 stattfand) für ihr SCUM-Manifest geworben und anschliessend auf Warhol geschossen haben.
Brillant ist auch die Doppelung der Hauptfigur: Eine widersprüchlich, manisch, wütend, selbstzerstörerisch und aggressiv, die zweite durchgeistigt, nüchtern, an das Schöne glaubend. Erst am Ende werden sie eins . . . – aus dem Französischen von Yara Haidinger, Bahoe Books, Wien 2024, 120 Seiten.
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