Neuer Rekord bei Kirchenaustritten – «Natürlich schmerzt es»

Als Gründe gelten der Umgang mit Homosexuellen und die kirchliche Sexualmoral

Symbolbild (Andrew Seaman/ Unsplash)
Symbolbild (Andrew Seaman/ Unsplash)

Der evangelische Landesbischof von Bayern, Heinrich Bedford-Strohm, leidet darunter, dass so viele Menschen seiner Kirche den Rücken kehren. Auch bei der katholischen Kirche in Deutschland gab es einen Negativrekord.

«Natürlich schmerzt es mich, dass der Trend zu höheren Kirchenaustrittszahlen nicht gestoppt werden konnte», sagte der 62-Jährige der Deutschen Presse-Agentur. «Es wird sehr lange dauern, bis gerade auch junge Leute die Kirche wieder mehr als Heimat und als Ort sehen, an dem sie eine tragfähige Basis für ihr Leben vermittelt bekommen.»

Bedford-Strohm geht in sein letztes Jahr als Landesbischof und gibt sein Amt im Oktober 2023 auf. Für seine Nachfolge waren bis Ende September 26 Vorschläge eingegangen. 61 Kirchenvorstände, Verbände, Pfarrkapitel und Synodale beteiligten sich an den Vorschlägen, einige Personen seien von mehreren Seiten vorgeschlagen worden.

In seiner Sitzung am 27. Januar 2023 soll der Wahlvorbereitungsausschuss einen endgültigen Wahlvorschlag von mindestens zwei und maximal sechs Personen beschliessen. Dieser Vorschlag wird danach den 108 Synodalen bekannt gegeben. Am 27. März, soll die Landessynode eine Nachfolgerin oder einen Nachfolger wählen.

Bedford-Strohm war jahrelang das Gesicht der Protestant*inneen in Deutschland. 2011 war er bayerischer Landesbischof geworden und drei Jahre später Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD). Im November 2021 gab er den Vorsitz ab.

Für das Jahr 2021 meldete die katholische Kirche in Deutschland einen Negativrekord. So viele Katholiken wie noch nie kehrten ihrer Kirche den Rücken (MANNSCHAFT berichtete). Und seit Jahresbeginn sind offenbar nochmal deutlich mehr Menschen aus der Kirche ausgetreten als in den Jahren zuvor. Das legt eine Umfrage der Deutschen Presse-Agentur unter grösseren Städten in Deutschland nahe. Zehntausende kehrten der Kirche demnach den Rücken.

Allein die Stadt München verzeichnete bis zum 15. Dezember 2022 insgesamt 26’008 Kirchenaustritte, wie ein Sprecher des Kreisverwaltungsrates mitteilte. Das sind knapp 4000 mehr als im gesamten Vorjahr. Die jeweilige Konfession wurde dabei nicht erfasst.

In Berlin traten nach Angaben einer Sprecherin der Berliner Zivilgerichte in den ersten drei Quartalen dieses Jahres 18’018 Menschen aus der Kirche aus – ebenfalls rund 4000 mehr als 2021 im gleichen Zeitraum. Davon waren 9466 evangelisch und 8442 römisch-katholisch, die restlichen hatten eine andere Konfession.

Die niedersächsische Landeshauptstadt Hannover meldete eine ähnliche Tendenz: Dort traten bis Mitte Dezember 2022 insgesamt mehr als 7000 Menschen aus der Kirche aus, knapp 4700 davon aus der evangelisch-lutherischen Kirche und knapp 2300 aus der katholischen Kirche. Im gesamten Jahr 2021 waren in Hannover rund 6600 Menschen aus der Kirche ausgetreten.

In der hessischen Landeshauptstadt Wiesbaden stieg die Zahl der Kirchenaustritte im Jahr 2022 ebenfalls deutlich. Bis zum Herbst des laufenden Jahres wurden nach Angaben der Stadt bereits deutlich mehr als 3200 Austritte in Wiesbaden und den Vororten registriert. 3095 waren es im gesamten Jahr 2021. Städte in Baden-Württemberg und Sachsen meldeten ganz ähnliche Entwicklungen.

In Mainz stieg die Zahl der Menschen, die in diesem Jahr aus der katholischen oder der evangelischen Kirche ausgetreten sind, ebenfalls deutlich. Bis Ende November kehrten 3495 Mitglieder den beiden grossen Kirchen den Rücken, wie die Stadt auf Anfrage mitteilte. Das ist ein Anstieg von 36,7 Prozent im Vergleich zum Gesamtjahr 2021.

Besonders stark betroffen von der Ausstiegswelle war die katholische Kirche: Sie verlor 2119 Mitglieder. Das ist ein Anstieg von 44 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. 1376 verliessen die evangelische Kirche (plus 26,9 Prozent).

Zumindest im Fall der bayerischen Landeshauptstadt dürfte ein Grund für den Anstieg auch das Ende Januar vorgestellte Gutachten zu Missbrauchsfällen in der katholischen Erzdiözese München und Freising sein, das weltweit Schlagzeilen machte. Denn besonders zu Jahresbeginn waren die Zahlen in die Höhe geschnellt. Als Gründe gelten auch der Umgang mit Homosexuellen (MANNSCHAFT berichtete), die kirchliche Sexualmoral und die Ungleichbehandlung von Männern und Frauen bei kirchlichen Ämtern als Motive für den Kirchenaustritt.

Bis zu 160 Kirchenaustritte pro Arbeitstag In der ersten Januarhälfte, also vor dem Gutachten, waren pro Arbeitstag in München etwa 80 Menschen aus der Kirche ausgetreten; nach dem 20. Januar, dem Tag der Vorstellung des Gutachtens, waren es dann zeitweise bis zu 160 Kirchenaustritte pro Arbeitstag – also etwa doppelt so viele.

Die Anwaltskanzlei Westpfahl Spilker Wastl (WSW) hatte am 20. Januar ein Gutachten im Auftrag des Erzbistums München und Freising vorgestellt. Die Gutachter gehen von mindestens 497 Opfern und 235 mutmasslichen Tätern, zugleich aber von einer deutlich höheren Dunkelziffer aus – und davon, dass Münchner Erzbischöfe – darunter auch Joseph Ratzinger, der spätere Papst Benedikt XVI. – sich im Umgang damit falsch verhalten hätten (MANNSCHAFT berichtete).

Die zweitgrösste bayerische Stadt Nürnberg zählte bis Mitte Dezember 6628 Kirchenaustritte im Vergleich zu 4544 im gleichen Zeitraum 2021. Davon waren 2434 römisch-katholisch und 2057 evangelisch.

Damit droht ein neuer Negativrekord. Dabei hatten 2021 schon 359 338 Katholik*innen ihrer Kirche den Rücken gekehrt – so viele wie noch nie.

Dieser Trend wird wohl nur schwer zu stoppen oder gar umzukehren sein.

«Dieser Trend wird wohl nur schwer zu stoppen oder gar umzukehren sein», sagte Christian Weisner von der Reformbewegung «Wir sind Kirche». Er sieht einen direkten Bezug zu der aus seiner Sicht mangelhaften Aufarbeitung von Missbrauchsfällen in der Kirche – «denn es hat viel zu lange gedauert, bis die Bischöfe in Deutschland und die beiden Vorgängerpäpste Johannes Paul II. und Benedikt XVI. ihre Verantwortung erkannt haben».

Und der Trend ist offenbar nicht nur ein städtisches Phänomen: Auch im oberbayerischen Burghausen, zu dem der Geburtsort von Ratzinger, Marktl am Inn, gehört, zeigt sich die gleiche Tendenz. Dort traten 2022 insgesamt 438 Menschen aus der Kirche aus, 371 von ihnen römisch-katholisch, 67 evangelisch. 2021 waren es noch 314 Austritte, davon 266 römisch-katholische Kirchenmitglieder und 48 evangelische.

Im oberbayerischen Wallfahrtsort Altötting erklärten bis zum 15. Dezember 446 Menschen ihren Austritt aus der Kirche – im Vergleich zu 288 insgesamt 2021. 388 von ihnen waren römisch-katholisch, 55 waren Protestanten.

Der Religionspädagoge Ulrich Riegel, der eine vielbeachtete Studie über Kirchenaustritte im Bistum Essen leitete, rechnete schon Ende Februar mit einem neuen Austritts-Rekord in diesem Jahr.

Als gesellschaftlicher Faktor werde die Kirche «kleiner und demütiger», sagte der Vorsitzende der katholischen Deutschen Bischofskonferenz, Georg Bätzing, dem Focus in der vorvergangenen Woche. Sie stecke in einer «tiefen Glaubwürdigkeitskrise», was sie zum Grossteil selbst verschuldet habe – etwa durch Skandale im Zusammenhang mit dem Missbrauch von Kindern und jungen Menschen.

Zuvor hatte eine Studie der Bertelsmann Stiftung ergeben, dass laut Umfrage noch viele weitere Menschen mit dem Gedanken spielen, der Institution den Rücken zu kehren.

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