Liebespaar verewigt: «Adolf Hitler hat meine Jugend genommen»
Stolpersteine in Bochum, Cottbus und Spremberg werden zur erlebbaren Geschichte – auch für Schulklassen
Stolpersteine des Künstlers Gunther Demnig sollen Erinnerungen an das Schicksal von NS-Opfern wach halten. In Spremberg und Cottbus werden die kleinen Messingtafeln verlegt. In Bochum konnten in diesem Sommer erstmals Fotos von Willi Schlüter gefunden werden.
Von: Silke Nauschütz, dpa
Vor dem Eingang des unscheinbaren Wohnhauses in der Pfortenstrasse 13 in Spremberg tummeln sich viele Kinder, einige blicken erwartungsvoll, andere etwas unsicher, die meisten gespannt. Für die beiden Schulklassen gibt es an diesem Mittwoch anschaulichen Geschichtsunterricht. Es werden Stolpersteine verlegt, die an das Schicksal der jüdischen Bewohner*innen Nathan und Ellen Bernfeld, Klara und Salo Jacob und Walter Lehmann erinnern.
Der Künstler Gunther Demnig, der das Projekt Stolpersteine 1992 gestartet hat, arbeitet die kleinen Messingtafeln an früheren Wohnorten der NS-Opfer in den Gehweg ein. Fünf Gedenksteine werden es an diesem Tag in Spremberg sein, neun Stolpersteine werden in Cottbus verlegt.
«Ich merke, dass das Interesse wächst», sagt Demnig, der am Vortag in Bautzen, Eisenach und Frankenstein im Harz unterwegs war, um auch dort Gedenksteine zu platzieren. Immer mehr Angehörige, vor allem die Enkel- und Urenkelgeneration, wollten die Geschichten ihrer Familien wissen, sagt der Künstler, der auch mehr Interesse von Angehörigen beobachtet, die in ihrer Familiengeschichte Morde an Menschen mit körperlichen und psychischen Krankheiten während der NS-Zeit entdeckt haben. «Ich denke, es ist eine Generationenfrage», zeigt sich der Künstler überzeugt.
Stolpersteine werden meist vor den letzten frei gewählten Wohnhäusern der NS-Opfer eingelassen. In Brandenburg sind bereits mehr als 1’100 Stolpersteine verlegt, die an Menschen erinnern sollen, die in der NS-Zeit verfolgt, ermordet, deportiert, vertrieben oder in den Suizid getrieben wurden. Mehr als 100’000 der kleinen Messingtafeln wurden in Deutschland und 30 weiteren Ländern Europas verlegt.
Rassismus und Antisemitismus ist ein Thema in der Region, auch in Spremberg, auch an unserer Schule
Geschichtslehrer Steve Hübschmann ist mit einer siebten Klasse der Berufsorientierenden Oberschule Spremberg gekommen. Nach einem rassistischen Vorfall im Klassenchat ist die Verlegung der Steine für ihn ein willkommener Anlass, Geschichte mehr ins Bewusstsein zu rücken. «Rassismus und Antisemitismus ist ein Thema in der Region, auch in Spremberg, auch an unserer Schule», schildert er. «Wir hatten wieder jüngst einen Vorfall, dass im Klassenchat sowas kursierte.» Konkret wird der Lehrer nicht. Als Schule habe man gemeinsam mit den Eltern überlegt, wie man dem entgegenwirken könne. Eltern der Schüler*innen hätten sich sofort einverstanden erklärt mit der Teilnahme.
Dass der Vorfall an seiner Schule kein Einzelfall ist, zeigte ein TV-Beitrag des ARD-Magazins Kontraste vom Mai. Darin hatten Schüler*innen an einem Gymnasium in Spremberg von rechtsextremen Vorfällen im Umfeld der Schule berichtet. Im Juni hatten Unbekannte einen Brandanschlag auf eine Kirche in Spremberg verübt, an der eine Regenbogenfahne hing. Der Staatsschutz ermittelt. Im Kreis Spree-Neisse liegt auch Burg, an dessen Schule zwei Lehrkräfte im April anonym geschildert hatten, sie seien täglich mit Rechtsextremismus, Sexismus und Homophobie konfrontiert. Sie waren danach rechten Anfeindungen ausgesetzt. Beide verliessen die Schule (MANNSCHAFT berichtete).
Brandenburgs Kulturministerin Manja Schüle (SPD) richtet ihre Begrüssungsworte dann auch besonders an die Spremberger Schüler*innen. Die Stolpersteine für die NS-Opfer und ihre Geschichten dahinter holten Vergessenes und Verdrängtes ans Licht, machten verwischte Spuren sichtbar, so Schüle. Der Anschlag auf die Kirche in Spremberg vom Juni zeige, dass ein moralischer Rückfall überall möglich sei. Chauvinisten würden wieder lauter pöbeln.
Die Stolpersteine legen uns die Toten vor unsere Füsse, wir weichen ihnen aus (…) oder wir stolpern über sie, wir verweilen (…)
Der Künstler Gunther Demnig sorge dafür, dass «wir nicht vergessen». Er lege «unausweichliche Steine des Anstosses in die Nachbarschaft». «Die Stolpersteine legen uns die Toten vor unsere Füsse, wir weichen ihnen aus (…) oder wir stolpern über sie, wir verweilen und merken: Wir wandeln in Europa auch auf einem Friedhof», sagt sie. Es müssten neue Wege gefunden werden, den Holocaust bald ohne Zeitzeugen zu erzählen. Einen solchen zeitlosen Weg pflastere der Künstler Demnig.
Initiiert wurde die Verlegung in Spremberg von der AG Spurensuche der Evangelischen Kirchengemeinden in der Region Spremberg. Pfarrerin Jette Förster erforscht seit etwa zwei Jahren mit einem achtköpfigen ehrenamtlichen Team das Leben jüdischer Menschen in Spremberg sowie von Menschen, die aktiv im Widerstand gegen den Nationalsozialismus kämpften.
«Für mich ist besonders, kleine Details aus Biografien zu entdecken, die viel über die Menschen erzählen – Menschen, die nicht anders gehofft und sich für ihr Leben eingesetzt haben als wir heute», sagte Förster der Deutschen Presse-Agentur. Aufgrund der Forschung der AG habe sich schon ein Angehöriger gemeldet.
Künstler Demnig hat sein Werkzeug bereits wieder eingepackt und ist zum nächsten Ort unterwegs. Auch Vandalismus begleite ihn immer wieder, sagt der Mittsiebziger. Diesen gebe es in Ost und West gleichermassen. Er selbst sei auch schon einmal betroffen gewesen. «Im Aachener Raum haben sie mir die Nummernschilder abgehebelt, denn da steht www.stolpersteine.eu darauf.»
Ein Jahr nach der Stolpersteinverlegung: Familie von Willi Schlüter aufgespürt In Bochum konnten in diesem Sommer erstmals Fotos von Willi Schlüter aus Bochum gefunden werden. Willi Schlüter (Jg. 1917) und Fritz Goltermann (Jg. 1909) feierten noch 1936 gemeinsam mit Freund*innen, lebten kurzzeitig in derselben Wohnung in der Bochumer Kronenstrasse, hatten Sex miteinander, verbrachten ihre Freizeit zusammen. Fritz spielte Klavier und musizierte gerne mit anderen. Ein offizielles Paar wurden die beiden nie.
Denn im Februar 1937 standen beide gemeinsam vor dem Bochumer Landgericht, angeklagt wegen «homosexueller Handlungen». Fritz wurde zu einem Jahr und drei Monaten Gefängnis verurteilt, Willi zu sechs Monaten Gefängnis. Mehr als ein Jahr nach der Stolpersteinverlegung (MANNSCHAFT berichtete) konnten erstmals Kontakte zu Tochter und Schwiegertochter von Willi Schlüter gefunden werden, beide waren überrascht von der Vergangenheit ihres Vaters/Schwiegervaters. Er hatte sein Leben lang dazu geschwiegen.
Die 63jährige Tochter von Willi stellte zahlreiche Fotos und Dokumente zur Verfügung und besuchte gemeinsam mit dem Forscher Jürgen Wenke bei einem mehrstündigen Stadtrundgang die Bochumer Orte der Jugend ihres im Jahr 2008 im Münster/Westfalen verstorbenen Vaters. Dabei erinnerte sie sich an den Satz ihres Vaters Willi, «Adolf Hitler hat mir meine Jugend genommen», den sie vor dem Hintergrund seiner Verfolgungsgeschichte nun neu und anders interpretierte. Ein gemeinsames Putzen des Stolpersteines für den Vater zusammen mit den Mitarbeiter*innen der Bogestra, die 2022 die Patenschaft für den Stolperstein übernommen hatten, war Teil der Würdigung.
Fritz Goltermann überlebte die NS-Zeit ebenfalls. Der verheiratete, kinderlose Klavierlehrer starb im Jahr 1985 in Reutlingen. Nach heutigem Kenntnisstand haben sich Willi und Fritz nach Ende der NS-Zeit nie wiedergesehen. Mehr Fotos und Informationen über die beiden gibt es auf der Website stolpersteine-homosexuelle.de.
Entdeckung einer alten Schachtel mit Fotos* führt zu den Geheimnissen des exklusiven Herrenklubs «Villa Lagunta» im Voralpenland. Ein neues Kunstbuch von Martin Arz (MANNSCHAFT berichtete).
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