Alter Ego: Der Sirenengesang der Schokolade
Die MANNSCHAFT+-Kolumne
Es beginnt harmlos: ein Nachmittag, ein Schrank, eine Tafel Schokolade. Doch kaum streckt unser Autor die Hand aus, meldet sich seine innere Stimme zu Wort.
Es ist ein ruhiger Nachmittag zuhause, als ich urplötzlich Heisshunger auf etwas Süsses bekomme. Schon stehe ich vor dem geöffneten Vorratsschrank, und meine Hand will nach einer Tafel exquisiter Milchschokolade mit Mandeln, Karamell und Fleur de Sel greifen, als sich meine innere Stimme zu Wort meldet.
Alter Ego: Halt!
Meine Hand verharrt über dem Süssigkeitenfach.
Alter Ego: Den Arm schön langsam zurückziehen und Tür schliessen. So ist gut.
Verdutzt starre ich auf den geschlossenen Schrank.
Alter Ego: Gratuliere, du hast der Versuchung widerstanden.
Ich: Toll, aber Lust habe ich immer noch.
Alter Ego: Dann kannst du ja etwas Obst essen. Das ist lecker und gesund.
Ich (mit Blick auf die versauerte Zitrone in der Früchteschale): Ja, nur leider haben wir keines eingekauft.
Ich öffne stattdessen den Kühlschrank und nehme mir ein Aprikosenjoghurt raus.
Alter Ego: Du weisst, dass da sehr viel Zucker drin ist?
Ich: Na ja, ich möchte ja auch was Süsses essen.
Alter Ego: Den Geschmack machen sie übrigens künstlich rein, und die Fruchtstücke sind wahrscheinlich ebenfalls fake.
Ich: Oh Mann, du kannst einem wirklich alles verderben.
Genervt stelle ich das Joghurt in den Kühlschrank zurück und tigere durch die Küche auf der Suche nach einer Alternative. Ein Glas mit gerösteten Mandeln und Cashewkernen lacht mich an.
Ich: Nüsse! Nüsse sind natürlich, gesund und gute Eiweisslieferanten.
Alter Ego: Hmmm…
Ich: Was? Was gibt es an Nüssen auszusetzen?
Alter Ego: Nun ja, wie ich dich kenne, bleibt es nicht bei ein paar Nüssen, du genehmigst dir bestimmt gleich eine ganze Schale.
Ich: Und wenn schon?
Alter Ego: Da ist ziemlich viel Fett drin. Und in Anbetracht der Tatsache, dass die Waage heute Morgen behauptet hat, dass du seit letzter Woche ganze zwei Kilo…
Ich: Jaja, ich hab’s verstanden. Kein Fett, keine Nüsse, am besten eigentlich gar nichts.
Um mich abzulenken, lasse ich mich in einen Sessel plumpsen und schnappe mir eine Wohnzeitschrift, doch das Retrointerieur im Stil der Siebzigerjahre lässt mich seufzend an Schokoorangen, Karamell-Toffee und die Yes-Riegel meiner Kindheit denken.
Alter Ego (besorgt): Zähneputzen soll die Lust auf Süsses vertreiben.
Ich: Ich putz’ mir doch nicht Mitte Nachmittag die Zähne!
Verdrossen blättere ich weiter. Bei einer Fotografie eines üppigen Picknicks bleiben meine Augen an der mit rosa Marzipan überzogenen Torte hängen und ich male mir eine Füllung aus fluffigem Biscuitteig und frischer Vanillecreme aus. Ich kann förmlich spüren, wie mein Alter Ego die Lippen zusammenkneift.
Ich lege die Zeitschrift weg und starre den Fernseher an.
Wir schweigen.
Fünf Minuten später. Genüsslich putze ich die letzten Krümel der Milchschokolade mit Mandeln, Karamell und Fleur de Sel mit dem Zeigefinger auf. Mein Alter Ego höre ich im Badezimmer fluchen. Über kurz oder lang werde ich es wieder rauslassen und mir etwas anhören müssen – bis dann aber geniesse ich meinen Zuckerschock.
Vor ein paar Monaten wurde in Zürich das Haven99, das erste Deutschschweizer Schutzhaus für Queers, eröffnet. Die Casa Resistencias, eine analoge Institution in Rio de Janeiro, existiert bereits seit zwei Jahren. Unterschiedliche Kulturen, gleiche Mission: Menschen aus der Community ein (vorübergehendes) Zuhause bieten (MANNSCHAFT+).
*Jeden Samstag veröffentlichen wir auf MANNSCHAFT.com einen Kommentar zu einem aktuellen Thema, das die LGBTIQ-Community bewegt. Die Meinung der Autor*innen spiegelt nicht zwangsläufig die Meinung der Redaktion wider.
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