Körperkult in der Community: Wohlfühlen in der eigenen Haut?
Gegen Bodyshaming, für mehr Akzeptanz!
Minderwertigkeitsgefühle über das eigene Aussehen sind weit verbreitet in der schwulen Community. Schluss mit Körperkult und Anpassungsdruck!
Sich rundum wohl im eigenen Körper zu fühlen, ist keine leichte Aufgabe. Denn wir leben in einer Welt, in der das Streben nach Perfektion allgegenwärtig ist. Einer Welt, in der Menschen unerfüllbaren Idealen hinterhereifern und teilweise daran zerbrechen. Wenn es um unser äusseres Erscheinungsbild geht, sind wir oft kritischer als jeder Literatur- oder Filmrezensent. Psychische Störungen wie Depressionen, Essstörungen oder Suizidgedanken sind nicht selten Folge dieses übersteigerten Körperkults.
Claus Fleissner: Mode als Bauchentscheidung
Im März 2019 lieferte der Body Image Report (zur offiziellen Seite), ein vom britischen Gesundheitsministerium und der Mental Health Foundation initiiertes Projekt, erschreckende Ergebnisse. Es zeigte sich, dass rund 40 % der befragten LGBTIQ-Mitglieder unter Schamgefühlen hinsichtlich ihrer Körper litten. Diese Zahl unterstreicht, dass es sich bei diesem Problem nicht allein um das stark über- oder untergewichtiger Menschen handelt, sondern dass es ein Phänomen ist, das die breite Masse betrifft.
Einer unter vielen Markus ist 28. Der gebürtige Hamburger hat kräftige, dunkle Haare, ein hübsches Gesicht, geht regelmässig sportlichen Aktivitäten nach und wiegt bei einer Grösse von 1,88m 76kg. Damit gehört er zu den ca. 60 % seiner Altersgruppe, die als normalgewichtig gelten. Doch trotz der Tatsache, dass er häufig Komplimente ernte, sei er manchmal recht unzufrieden mit seinem Aussehen. «An schlechten Tagen komme ich mir zu dick oder unattraktiv vor. Meistens versuche ich, diese Gedanken und Gefühle zu ignorieren und mir in Erinnerung zu rufen, dass es nur vereinzelte Momente sind, in denen ich mich nicht mag.»
Woher aber rühren Markus’ Unsicherheit und die Überzeugung, nicht dem gängigen Schönheitsideal zu entsprechen? «Ich war früher sehr übergewichtig», erklärt er. Aufgrund der Freude an gutem Essen habe er mit 20 Jahren weit über 100kg gewogen. «Dann kam ein Wendepunkt. Ich fühlte mich nicht mehr wohl und verlor fast die Hälfte meines Gewichts. Die Gründe dafür waren vielfältig. Der Wunsch, mich sexuell mehr ausleben zu können, attraktiver und begehrenswerter zu sein, spielte aber definitiv eine grosse Rolle.» Markus fiel auf: Je kleiner die Zahl auf der Waage wurde, desto stärker wuchs parallel das Interesse anderer Männer an ihm.
Das schnelle Abnehmen hinterliess allerdings Spuren.» Überschüssige Haut und Dehnungsstreifen seien bis heute sichtbar. Statt sich aber zu verkriechen, hat Markus seine vermeintlichen Makel lieben gelernt. An Wochenenden findet man ihn regelmässig, ein eng geschnittenes oder netzartiges Oberteil tragend, auf den Tanzflächen verschiedener Berliner Schwulenclubs. Selbstbewusst und unbeschwert.
Jeder Fünfte hadert mit sich Die Geschichte von Markus stellt bei weitem keinen Einzelfall dar – mit Ausnahme ihres vorübergehend versöhnlichen Endes vielleicht. In Vorbereitung auf diesen Artikel erfassten wir mithilfe eines Onlinefragebogens Aussagen von über 400 Männern und fanden heraus, dass rund 20 % von ihnen mit der eigenen äusserlichen Erscheinung haderten. Weitere 5 % gaben an, deswegen sogar unter depressiven Verstimmungen oder psychiatrisch relevanten Erkrankungen zu leiden.
Dating-Apps verstärken Gefühle der Angst und Einsamkeit
Ein einheitliches Täterprofil gibt es dabei nicht. Auch innerhalb der LGBTIQ-Community, wo Toleranz grossgeschrieben werden sollte, ist das sogenannte Bodyshaming keine Randerscheinung. Unter dem englischen Begriff versteht man eine spezielle Form der Beleidigung auf Grundlage äusserlicher Attribute. Bevorzugt schikaniert werden diejenigen, die klassischen Schönheitsidealen weniger entsprechen. Gewicht, Körperform, Muskelmasse, Behaarung oder das Gesicht sind beliebte Angriffspunkte. Wo aber kommen Vorstellungen darüber, wie der prototypische schwule Mann auszusehen hat, eigentlich her?
Mögliche Gründe Die Medien sind schuld! Rund 91% unserer Befragten sind sich da einig. Doch nicht nur Plakate, Werbungen, Pornos und Co. böten eine zu geringe Bandbreite unterschiedlicher Körperformen. Auch auf Datingportalen wie Grindr oder Planet Romeo würden sich übermässig häufig jene Herren oberkörperfrei präsentieren, die mit Sixpack, makelloser Haut und Sommerbräune ausgestattet sind. Eine Verzerrung, die keineswegs der Realität entspricht. Zumindest, wenn man statistischen Erhebungen zu durchschnittlichen Körperfettwerten in der Bevölkerung Glauben schenken darf.
«Gutes Aussehen ist eine wichtige Währung in unserer Gesellschaft», erklären die Psychologen Raffael Berchtold und Stephan Dietiker vom Checkpoint Zürich. «Der Anpassungsdruck ist hoch. Homosexuelle Männer bringen häufig Gefühle der Unzulänglichkeit und Minderwertigkeit mit. Ein kompensatorisches Verhalten auf einem Terrain, das vermeintlich Kontrolle bietet, ist nicht selten. Zum Beispiel exzessives Fitnesstraining, Schönheits-OPs oder zwanghaftes Essverhalten.»
Körperkult beginnt in der Pubertät Gerade die Pubertät ist gemäss Expert*innen eine Entwicklungsphase, in der sich der Mensch gegenüber kritischen Ereignissen extrem sensibel zeige. Ungelöste Konflikte führten nicht selten zu späterem Leiden. In Therapien oder Beratungen gehe es dann vorrangig um die Erarbeitung von Selbstakzeptanz, Autonomieerleben, die Förderung von Ressourcen sowie den Ausbau eines Identitätsbewusstseins, das weniger vom Aussehen abhängig sei.
Der Knackpunkt liege darin, zu erkennen, wann man Hilfe benötige. «Wenn sich eine Person anhaltend unwohl und in der Lebensführung eingeschränkt fühlt, ist Unterstützung angezeigt», geben Dietiker und Berchtold zu verstehen. «Der Stellenwert von körperlicher Attraktivität unter schwulen Männern ist sicherlich nicht zu unterschätzen und durchaus kritisch zu hinterfragen, insbesondere auf gängigen Apps. Dies kann so weit gehen, dass Personen, die gewisse ästhetische Kriterien nicht erfüllen, ausgegrenzt und diffamiert werden.»
Hosen runter für mehr Akzeptanz! Wie kann man nun aber aktiv etwas gegen den Ästhetikwahn, der unsere Gesellschaft ähnlich einem behandlungsresistenten Virus befallen zu haben scheint, unternehmen? Können Kampagnen mit kurvigeren Models als eine Art Impfung fungieren? Als Schutz vor der Zuspitzung unserer visuellen Geschmackspräferenzen?
Die Zeitschrift Brigitte hat in der Vergangenheit als eine der ersten Illustrierten den Versuch gewagt, Frauen fern der Masse 90-60-90 auf ihren Titel zu holen. Ein notwendiger Schritt, wie viele Feminist*innen fanden. Der Mann, ob schwul oder nicht, hat diese Form der Emanzipation jedoch verschlafen. Vielleicht aus Desinteresse, vielleicht aus Scham.
In Kooperation mit der Fotografin Susanne Erler möchten wir trotzdem zeigen, dass auch maskuline Schönheit keiner Kennzahlen bedarf. Unserem Aufruf folgend zogen sich dafür vier homosexuelle Männer bis auf die Unterwäsche aus und posierten mit all ihren Ecken und Kanten vor der Kamera. Die dabei entstandenen Bilder von Claus, Marko, Adriell und Sven begleiten diesen Beitrag. Unser Ziel war es, einen wirklichkeitsnahen Blick auf verschiedene Körpertypen zu werfen, statt mit überspitzten, reisserischen Extremen moralisierende Botschaften zu streuen. Man soll die Möglichkeit haben, in den Modellen den Kerl von nebenan, das Date vom letzten Sonntag oder denjenigen wiederzuerkennen, der einem täglich im Spiegel begegnet.
Es sei an dieser Stelle angemerkt, dass sich auch muskulöse Männer für unser Shooting bewarben. Diese abzudrucken, hätte genauso viel Sinn gemacht, wie die final ausgewählten Herren. Schliesslich schützt auch ein Waschbrettbauch nicht zwangsweise davor, sich unwohl im eigenen Körper zu fühlen. Das zu verstehen und niemandem aufgrund äusserer Attribute seine Empfindungen abzusprechen, wäre eine von vielen wünschenswerten Erkenntnissen, die gern aus diesem Artikel gezogen werden dürfen.
Body Positivity statt Bodyshaming Obwohl es garantiert sinnvoll ist, Bodyshaming präventiv einzudämmen, indem man Täter*innengruppen aufklärt und sensibilisiert, gestaltet sich dieses Unterfangen als langwierig und zäh. Auch Einflussgrössen wie die Werbewelt, die Filmbranche oder der Hang zur Selbstdarstellung von User*innen, mit dem wir tagtäglich auf sozialen Medien konfrontiert werden, lassen sich nicht von heute auf morgen revolutionieren. Festgefahrene Muster aufzubrechen, braucht Zeit und meist auch einen gewissen Druck seitens der Gesellschaft. Dieser ist jedoch bisher kaum zu vernehmen. Und so beginnt Veränderung – wie so oft – im kleinen, persönlichen Rahmen. Im Hinterfragen eigener Stigmata. Im Aufdecken übergestülpter Wahrnehmungsverzerrungen. Wenn wir lernen, uns selbst und unseren Körper mehr zu lieben, dann können uns beleidigende Kommentare oder omnipräsente Schönheitsideale weniger antun. Eine Bewegung, die für mehr Toleranz gegenüber dem eigenen Aussehen und dem anderer wirbt, die sich Rassen- und Gendergleichheit auf die Fahne geschrieben hat und eng mit Transgender-, Queer- und Behindertenorganisationen zusammenarbeitet, ist die der Body Positivity. Anhänger*innen dieser Bewegung sehen sich als Gegengewicht zu einer Industrie, in der Selbsthass von wirtschaftlichem Interesse ist. Man stelle sich nur vor, welche Branchen plötzlich erhebliche Einbussen zu verzeichnen hätten, wenn wir damit aufhören würden, uns bis ins Letzte optimieren zu wollen.
Nicht einmal das Altern, einer der natürlichsten Prozesse überhaupt, ist mehr sicher davor, von spitzfindigen Marketingstrategen unter die Lupe genommen und mit Empfehlungen bombardiert zu werden, wie man möglichst lange attraktiv bleibt. Wenn uns klar wird, dass wir diejenigen sind, in deren Händen es liegt, was Trend ist und was nicht, dann können wir vielleicht auch wieder von einer unerreichbaren Perfektionsgier zu mehr Freude am Makel zurückfinden. Gerade in unserer Community, in der viele früh Ablehnung erfahren haben, sollten wir uns ins Bewusstsein rufen können, wie es sich anfühlt, nicht dafür akzeptiert zu werden, wer man ist.
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