«Ich wollte ‹normal› sein, um zu überleben»
Kehinde musste vor der eigenen Familie flüchten
Kehinde aus Nigeria merkt schon früh, dass sie lesbisch ist. Die Familie will ihr das mit Gewalt austreiben. Nach einer traumatischen Flucht hofft sie nun auf einen Neuanfang in Deutschland – zusammen mit ihrem kleinen Sohn, der sogar schon Bayrisch spricht.
Kehinde sitzt in ihrem gut 15-Quadratmeter-Zimmer in Allershausen bei München. Das Zimmer ist klein, mit wenig Mitteln, aber liebevoll eingerichtet und damit ein deutlicher Kontrast zu ihrem alten Leben. Ihre schwarzen Haare sind zu kurzen Dreadlocks gedreht und fallen ihr vereinzelt ins Gesicht. Ihre positive und offene Art ist sofort ansteckend. Doch hinter dieser energievollen Person verbirgt sich eine Lebensgeschichte, die mehr von Leid als von Leben geprägt ist. Sie streicht ihre lockere Hose an beiden Beinen bis zum oberen Schienbein nach oben. Zum Vorschein kommen tiefe Brandnarben. Narben, die eine Geschichte erzählen: von Folter, Menschenhandel und der Flucht aus Nigeria.
«Therapie» mit Peitsche und Bügeleisen Begonnen hat alles in Nigeria, in der Millionenstadt Lagos. Mit 13 Jahren sammelt Kehinde ihre ersten Erfahrungen mit einer Frau. Als sie in der Schule zum ersten Mal ein Mädchen küsst, verrät ihre Zwillingsschwester sie an die Mutter. Doch diese will davon nichts wissen. Eines ihrer Mädchen lesbisch? Die Mutter tut es als Absurdität ab.
Fünf Jahre später bettelt Kehinde die beste Freundin ihrer Mutter an, sie nicht der Polizei auszuliefern. Der Grund: Sie «erwischt» Kehinde und ihre Tochter beim Sex, darauf steht in Nigeria eine Gefängnisstrafe von bis zu 14 Jahren. Daraufhin verständigt sie Kehindes Mutter. Diese lässt ihre Tochter von mehreren Männern fesseln und aus dem Haus der Freundin transportieren. «Es waren sehr grosse und starke Männer, meine Mutter wusste, wenn es Männer sind, dann wehre ich mich nicht, weil sie stärker sind», erklärt sie. Sie laden Kehinde bei ihrer Tante, die beim Militär arbeitet, ab.
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Sie misshandelt ihre Nichte mit einer Peitsche und mit einem heissen Bügeleisen, alles im Glauben, ihr das Lesbischsein austreiben zu können. «Sie hat mich höllisch geschlagen an diesem Tag», sagt Kehinde und wirkt dabei bedrückt, während sie geistesabwesend in die Ferne schaut, als würde sie die Situation vor ihrem geistigen Auge sehen. Nach dieser Folter sperrt Kehindes Mutter sie monatelang zu Hause ein, als Strafe und als vermeintliche Umerziehungsmassnahme, denn: «In Nigeria glaubt man, dass Homosexuelle der Geist der Vergangenheit sind – sie glauben nicht, dass wir sind, wie wir sind», so Kehinde. Um dieser psychischen und physischen Gewalt zu entkommen, gibt es für sie nur noch eine Option – die Flucht.
Falsche Hoffnungen und leere Versprechen Kehinde geht zu einem ihrer spindartigen Schränke und holt daraus zwei Packungen Tabletten. Einmal Ibuprofen 600 für ihre physischen Leiden und weitere Tabletten für die Psyche, wenn sich ihre Gedanken mal wieder überschlagen. Von zu Hause geflohen, kommt sie im nahegelegenen Dorf Surulere bei ihrer damaligen Freundin Shakira unter. Aus der Freundschaft wird Liebe und sie werden ein Paar. Kehinde beginnt einen Job in einem Hotel und lebt mit ihrer Freundin zusammen – alles scheint sich zum Guten zu entwickeln. Doch eines Tages wendet sich das Blatt. Eine Nachbarin der beiden erfährt von der Beziehung und wittert dabei ihre Chance. Sie gibt sich als Mitarbeiterin eines Reisebüros aus und bietet ihnen gegen Geld die Flucht aus Nigeria nach Europa an. Diese «Reisevermittlerin» verspricht ihnen eine Zukunft in Freiheit – in Europa. Jeder solle vorab 300 000 Naira, umgerechnet 660 Euro beziehungsweise 710 Franken für die Flucht bezahlen. Doch mit selbstloser Hilfe hat dies nichts zu tun.
Heute weiss Kehinde: Sie war an einen Schleuserring geraten. Die Menschenhändlerin kassiert das Geld von ihnen, organisiert den Transport nach Libyen und setzt das Paar in den Bus, der sie dorthin bringen solle. «Von da an war es schlimm», sagt Kehinde mit belegter Stimme. Durch Nigeria über Niger werden sie mit verschiedenen Bussen nach Libyen gebracht – da es angeblich nur dort Flugzeuge nach Europa geben soll.
Während dieser Zeit werden sie bereits zweimal verkauft. Angekommen in Tripolis, der Hauptstadt Libyens, werden sie zur Prostitution gezwungen. Das Druckmittel: Ihre Sexualität – wenn sie nicht machen was von ihnen verlangt werde, verrate man sie. 5000 libysche Dinar, umgerechnet 3075 Euro beziehungsweise 3350 Franken sollen sie abarbeiten, dann seien sie frei. Anfangs wehrt sich Kehinde, doch irgendwann lässt sie alles über sich ergehen. Shakira wird an eine andere Frau verkauft, der Kontakt zu ihr bricht ab. Sechs Monate ist sie eingesperrt «ohne die Sonne oder den Regen zu sehen», sagt Kehinde. Mit Hilfe eines Freiers, der sie abkauft, gelingt es ihr den nicht enden wollenden Kreislauf zu durchbrechen.
Ich würde so gerne arbeiten, ich liebe es zu arbeiten!»
Hochschwanger auf dem Mittelmeer Ihr altes Leben hat aber nicht nur Narben hinterlassen, sondern auch neues Leben geschaffen. Ein Kinderbett steht in der Ecke, darauf sind verschiedene Kuscheltiere verteilt. Auf dem Boden liegen ein blauer Ball und andere Spielsachen. Kehinde lebt mit ihrem vierjährigen Sohn zusammen in diesem Zimmer. Jeden Tag holt sie ihn mit dem Rad vom Kindergarten ab und sie verbringen den Rest des Tages miteinander. «Er spricht sogar schon bairisch», sagt sie und lacht. Ihre Integration gestaltet sich hingegen schwierig: Seit vier Jahren wartet sie nun auf ihren Asylbescheid. Arbeiten darf sie deswegen nicht. «Ich würde so gerne arbeiten, ich liebe es zu arbeiten!», sagt Kehinde.
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Nachdem sie von der Prostitution loskommt, macht sie mehrere Jobs, unter anderem arbeitet sie bei einer Fastfoodkette. Unterschlupf bekommt sie bei verschiedenen Männern. Doch diese erwarten eine körperliche Gegenleistung von ihr. Sie drohen ihr immer wieder damit, sie sonst zurück zu der Zuhälterin zu bringen. «Ich habe auch gar nicht mehr an meine Neigung gedacht, sondern habe versucht ‹normal› zu sein, um in der Welt zu überleben», erklärt sie in einer Anhörung des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge.
Während dieser Zeit wird sie schwanger. Dass sie Mutter wird, ermutigt sie, den nächsten Schritt nach Europa zu wagen. Durch einen Kollegen von der Arbeit nimmt sie Kontakt zu einem Schleuser auf. Mittlerweile im achten Monat schwanger verbringt sie zwei kalte Novembertage auf See, bis sie in Italien ankommt. «Das war das erste Mal, dass ich Europa gerochen habe – Willkommen in Europa!», schmunzelt sie. Weil sie das Beste für ihr Kind will, flieht sie weiter nach Deutschland.
Heute schätzt die 30-Jährige die Freiheit zu haben, so zu sein und zu lieben wie sie will. «Ich bin es leid mich zu verstecken. Das bin ich! Die Leute sollen mich und meine Sexualität akzeptieren!», sagt sie voller Euphorie. Über LeTRa, die Beratungsstelle für lesbische Frauen, hat sie eine Partnerin gefunden. Ihre Hoffnung ist es, endlich einen positiven Asylbescheid zu bekommen, zu arbeiten und sich mit ihrem Sohn ein eigenes Apartment zu mieten.
Text: Leonie Hudelmaier
Mehr Geschichten Das Magazin «Rainbow Refugees (Stories)», welches vom Fotografen Francesco Giordano in München initiiert wurde, erzählt die Geschichten von 27 LGBTIQ-Geflüchteten, die aufgrund ihrer sexuellen Orientierung oder Identität in ihren Heimatländern verfolgt werden. Es kann online bestellt werden.
«Corona hat die Situation von Geflüchteten verschärft»
In München setzt sich die Beratungsstelle für lesbische und bisexuelle Frauen LeTRa für Geflüchtete ein. Für Julia Serdarov und ihre beiden Kolleginnen geht die Arbeit nicht aus.
Julia, wie sieht die Arbeit von LeTRa im Bereich von Geflüchteten aus? Wir beraten sie hinsichtlich ihrer Asylverfahren und bereiten sie für die Anhörung vor, wobei 95% unserer Klient*innen werden abgelehnt. In diesem Fall vermitteln wir sie an eine Anwaltskanzlei, bereiten gemeinsam das Klageverfahren vor und gehen mit ihnen vor Gericht. Unsere Arbeit geht jedoch über das Asylverfahren hinaus.
Inwiefern? Ein grosses Thema ist die Unterbringung. Viele Geflüchtete sind in Gemeinschaftsunterkünften im ländlichen Raum untergebracht, wo sie isoliert sind und teilweise gar mit Personen ein Zimmer teilen müssen, die sie anfeinden oder ihnen Gewalt androhen. Mit Umverteilungsanträgen versuchen wir einen Umzug in grössere Städte zu ermöglichen. Das ist jedoch sehr schwierig, da diese fast immer abgelehnt werden.
Geflüchteter Youtuber betreibt LGBTIQ-Aufklärung auf Arabisch
Viele sind von der Flucht schwer traumatisiert. Wir vermitteln sie weiter an Therapeut*innen oder an Organisationen, die Überlebende des Menschenhandels begleiten. Wir vernetzen auch Geflüchtete untereinander. Der schönste Teil der Arbeit ist, wenn Menschen untereinander in Kontakt kommen und sich unterstützen.
Gibt es weniger lesbische Frauen als schwule Männer auf der Flucht oder sind sie weniger sichtbar? Letzteres. Das liegt auch einfach daran, dass sie als Frauen aufgrund patriarchalischer und sexistischer Gesellschaftsstrukturen weniger sichtbar sind – lesbische Frauen haben zusätzlich mit einer Mehrfachdiskriminierung zu kämpfen.
Viele Frauen, die wir begleiten, kommen aus Schutz- oder Zwangsehen und sind mit Kindern unterwegs, die entweder ein Wunschkind sind oder aus einer Vergewaltigung entstanden. Als Mütter sind diese Frauen eingeschränkter, wenn es darum geht, von Angeboten zu profitieren, die oft abends und in den Städten stattfinden. Da wir jede Woche immer wieder neue Klientinnen bekommen, habe ich nicht den Eindruck, dass es weniger lesbische Geflüchtete gibt. Verlässliche Zahlen gibt es leider keine, weil die Zahl von LGBTIQ-Geflüchteten statistisch nicht erfasst wird.
In einigen Ländern ist es für Frauen kaum möglich, alleine unterwegs zu sein. Erschwert das die Flucht? Da in Deutschland die Geflüchteten nach Bundesländern verteilt werden, fällt es mir schwer einen Vergleich zu ziehen. Wir betreuen viele Frauen aus Uganda, wo sie oft eine Universität besucht und ein eigenständiges Leben geführt hatten. Mit dem zusammengesparten Geld konnten sie sich ein Visum und eine Ausreise mit dem Flugzeug ermöglichen. Das klingt jetzt nach einer komfortablen Flucht, ist es aber selten. Oftmals werden diese Frauen von Personen in Europa im Empfang genommen, die ihnen vermittelt wurden und sie ausbeuten. Sie geraten in die Prostitution oder in den Menschenhandel. Dies kann auch auf dem Landweg über Libyen oder die Türkei passieren, den viele Frauen aus Nigeria wählen.
Wie hat sich die Situation seit der Corona-Pandemie entwickelt? Sie hat sich verschärft. Zum einen nutzen Herkunftsländer das Virus, um es als Gottes Strafe darzustellen und gegen LGBTIQ-Personen vorzugehen. Zum anderen war die Situation während der Zeit mit Ausgangsbeschränkungen besonders für Geflüchtete in den Unterkünften schlimm. In einzelnen Fällen wurden ganze Gebäude für zwei Wochen unter Quarantäne gesetzt. Stell dir vor, du bist 24 Stunden am Tag mit Menschen eingesperrt, die dir das Leben zur Hölle machen.
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Wie hältst du den Kopf frei? Es sind die kleinen Sachen, aus denen ich Kraft schöpfen kann, zum Beispiel das Solidaritätsgefühl. Jetzt gerade ist ein trans Mann aus Russland dabei, einer Frau aus Uganda die Küche zu installieren. Die beiden verstehen sich sprachlich nicht und müssen sich mit Händen und Füssen verständigen. Aber sie kriegen das irgendwie hin.
Kommen Frauen zu einem ersten Termin bei uns vorbei, denken sie oft, dass sie die einzige Lesbe aus einem afrikanischen Land sind. Wenn sie dann hier wen kennenlernen und sich gegenseitig vorstellen, lachen sie Freudentränen.
Interview: Greg Zwygart
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