HIV lässt sich nicht totschweigen: Die Geschichte von Max
«Ich war damals wie die Impfverweigerer von heute»
Max lebt seit über 25 Jahren mit HIV. Aus Angst erzählte er lange niemandem davon und verzichtete auf eine Therapie – mit schlimmen Folgen.
«Bisch würkli e Löl!» Dieser an sich selbst gerichtete schweizerdeutsche Tadel ging Max Krieg Ende des Jahres 1999 durch den Kopf. Ein positiver HIV-Test. Er musste sich vier oder fünf Jahre zuvor bei einer von zwei ungeschützten aktiven Analpenetrationen angesteckt haben. Ausgerechnet Max, ein AIDS-Aktivist der ersten Stunde.
Wir reisen noch weiter zurück in die Vergangenheit: 1981 erfährt die Schweizer LGBTIQ-Community von den ersten AIDS-Fällen in den USA. Die Nachrichten verängstigen und alarmieren vor allem schwule Männer.
Doch die meisten hätten den Ernst der Lage damals noch nicht erkannt, wie sich Max erinnert. «Viele dachten, es wären bloss die betroffen, die für promiskuitive Aktivitäten nach Los Angeles oder New York reisten.» Es dauerte eine Weile, bis klar war, dass AIDS alle betrifft.
Kondomschmuggler für Italien Max, der in der Nähe von Olten aufwuchs, lebte damals aus beruflichen Gründen in Lugano. Dort half er mit, ab 1985 die Aidshilfe Tessin aufzubauen. Er betätigte sich gar als internationaler Kondomschmuggler: In Italien waren die Präservative schwieriger zu bekommen, die Hemmschwelle, danach zu fragen, gross. Mit dem «Hot Rubber» produzierte die Aids-Hilfe Schweiz ausserdem ein speziell für den Analverkehr designtes Kondom. Sicher, reissfest – und mit stilisiertem Penis darauf. «Alle drei bis vier Monate schmuggelte ich einige Kartons davon in eine Mailänder Buchhandlung.»
Auch organisierte Max anonyme HIV-Tests in Tessiner Spitälern. So hatte man die Möglichkeit, sich lediglich unter einem Pseudonym oder Codewort testen zu lassen und nach drei bis vier Tagen die Resultate zu erhalten. Diese wurden nämlich normalerweise dokumentiert und dem Bundesamt für Gesundheit mit Namen weitergegeben; eine Praxis, die natürlich auf viele Schwule abschreckend wirkte. Er selbst liess sich im Zuge von verdeckten Kontrollen dort mehrfach testen – immer mit negativem Resultat. «Das gab mir für die nächsten Jahre eine trügerische Sicherheit», sagt Max. Seinen nächsten Test würde er erst 1999 aufgrund von wiederkehrenden Zuckungen der Gesichtsmuskulatur machen.
Schweigen aus Scham Das positive Testresultat hielt er geheim – aus Angst vor Stigmatisierung und weil es ihm peinlich war, dass ausgerechnet ihm das passiert ist. Der heute 75-Jährige fasste damals ausserdem einen verheerenden Entschluss: Er verzichtete auf die standardmässige Therapie mit drei Medikamenten, obwohl sein CD4-Wert bereits auf 200 abgesunken war.
CD4-Lymphozyten sind für den Informationsaustausch zwischen den Abwehrzellen verantwortlich; gesunde Menschen haben davon 500-1’400 pro Mikroliter Blut. Ab 200 besteht ein hohes Risiko für schwere, aidsdefinierende Krankheiten.
Doch der erfolgsversprechende Medikamenten-Cocktail passte seiner Ansicht nach nicht zu seinem Lebensstil. Max wollte seinem Körper, in dem er sich ja eigentlich gesund fühlte, keine «Chemie» zumuten. Stattdessen experimentierte er mit alternativen Heilmethoden, was er rückblickend sehr bereut. «Ich war damals wie die Impfverweigerer von heute: Es gab ein Mittel, aber ich wollte es einfach nicht nehmen.»
Er ernährte sich vegetarisch und lebte ausserdem mit der Eigenurintherapie, die einen Verzicht auf chemische Arzneimittel erforderte. Hinzu kamen alternative Methoden wie die tägliche Elektrostimulation an den Handgelenken und silberjodiertes Wasser. Das habe ihm vielleicht schon ein bisschen geholfen, aber es war dann einfach zu wenig, meint Max.
Er hielt die Infektion geheim, er verzichtete auf eine normale Therapie – wollte er das Virus einfach verdrängen? Das könne man so nicht sagen, findet Max. Er habe es ja schliesslich täglich auf seine Art «therapiert» und gewusst, dass es einmal schlimmer werden könnte.
Verhängnisvoller Verzicht Aus heutiger Sicht erscheint es schon fast absurd, dass ein HIV-Aktivist und -Betroffener stur auf die neuesten Fortschritte der Wissenschaft verzichtet. Doch man darf nicht vergessen, dass bis Mitte der 90er-Jahre den Infizierten keine andere Wahl blieb, als medizinisch zu experimentieren. Da bis etwa 1995 keine wirksamen Medikamente zur Verfügung standen, habe man «einfach alles ausprobiert», erinnert sich Max. Gleichzeitig weiss er, dass das keine Ausrede sein darf. Er war selbst schuld an dem, was unaufhaltsam auf ihn zukam.
Im Jahr 2002 erlitt er einen Zusammenbruch. Sein CD4-Wert lag zeitweise bei 20, acht Wochen verbrachte er im Berner Inselspital. Jetzt startete er endlich die Dreier-Therapie und sie war so erfolgreich, dass er bald darauf wieder arbeiten konnte.
Doch zwei Jahre später traten plötzliche, etwa 30 Minuten anhaltende Verluste der Sehkraft auf. Schliesslich kam es zu einem erneuten Zusammenbruch mit Spitaleinweisung. Sein Chef wollte damals wissen, ob das etwas mit HIV zu tun habe – und Max gab ihm die ehrliche Antwort. Daraufhin versuchte man, ihn in die IV auszulagern. Dank neuen Therapieerfolgen mit angepasster Medikation schaffte er es zurück in die Berufstätigkeit und konnte die Auslagerung verweigern. 2011 ging er im Alter von 65 Jahren regulär in Pension.
«Alles auch aus Dankbarkeit» Heute lebt er mit einem CD4-Wert von über 400 und so gut wie beschwerdefrei. Ohnehin erachte er Menschen mit HIV, welche die Therapien und die regelmässigen Kontrollen einhalten würden, als «die medizinisch am besten versorgten Menschen» überhaupt. In diesem Jahr wechselte er die Medikation auf lediglich eine Tablette pro Tag.
Max, der seit 1989 in Bern wohnt, engagierte sich über die Jahre in zahlreichen LGBTIQ-Organisationen: Von 1971 bis 1993 war er bei der «Schweizerische Organisation der Homophilen» und arbeitete für deren Monatszeitschrift hey. Er war Mitgründer von «Pink Rail», Mitinitiator der SGB-Mitgliederkommission, Vorstandsmitglied bei der «hab queer bern», seit 1993 Mitglied bei «Pink Cross» und mittlerweile dort ebenfalls im Vorstand – das ist nur ein Auszug der Liste seiner Aktivitäten.
Sein HIV-Engagement parallel dazu hat sich verändert: Er steht jetzt offener zu seinem Leben mit dem Virus. Damit leistet er einen Beitrag im Kampf gegen Tabuisierung, Stigmatisierung und Vorurteile. «Alles auch aus Dankbarkeit für mein zweites Leben, denn es hätte noch viel schlimmer kommen können.»
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