«Viele denken, dass es heutzutage leicht ist, queer zu sein»

Interview zum neuen Hengameh-Yaghoobifarah-Roman «Schwindel»

Hengameh Yaghoobifarah (Foto: Lior Neumeister)
Hengameh Yaghoobifarah (Foto: Lior Neumeister)

Hengameh Yaghoobifarah ist aus der deutschen queeren Literaturwelt nicht mehr wegzudenken. Nach dem Debüt mit «Ministerium der Träume» kommt der Nachfolger – und es wird heiss. «Schwindel» erzählt voller Turbulenz von queerem Begehren und den Hindernissen, mit denen es konfrontiert wird.

Wer Hengameh Yaghoobifarahs neuen Roman liest, kann leicht ins Schwindeln geraten. Zwischen pikanten Sexszenen und hitzigen Diskussionen entfaltet sich die Vielschichtigkeit des Polyküls um Ava, Robin, Silvia und Delia auf dem Häuserdach einer Grossstadt. Hier oben werden die grossen Fragen rund um Identität, Begehren und Vertrauen aufgeworfen. Was vereint die Protagonist*innen, die eigentlich unterschiedlicher nicht sein könnten? Wir haben mit Hengameh gesprochen.

Hengameh, wie haben deine Freund*innen auf dein neues Buch reagiert? Es wurde viel gelacht, was mich natürlich freut. Die Sex-Szenen wurden nicht als cringe befunden, das ist auch sehr wichtig. Ich bin mit dem Feedback aus meiner Umgebung total happy und das ist es ja am Ende, was einen am meisten beschäftigt.

Welche Reaktion wünschst du dir von Menschen ausserhalb deiner Bubble? Ich fände es gut, wenn das Mehrschichtige und Literarische des Romans auch von Menschen, die nicht selbst queer sind, erkannt wird und es nicht als eine random Lesben-Story abgetan wird, oder als trash.

Dein neuer Roman unterscheidet sich stark von deinem ersten. Er ist deutlich juicier. Wieso hattest du darauf Lust? Ich hatte zuerst eine grobe Idee zu dem Roman und habe damit angefangen, zu schreiben. Seitdem haben viele politische Ereignisse stattgefunden, zum Beispiel hat die Jina-Revolution im Iran begonnen, der Ukraine-Krieg und der Gaza-Krieg. Aber ich hatte mich dagegen entschieden, diese Ereignisse in den Roman einfliessen zu lassen, weil ich innerhalb des Romans eine Ort- und Zeitlosigkeit kreieren wollte. Die Bezüge herzustellen, ohne dass zu viel über Zeit und Ort verraten wird, wäre schwierig gewesen. Ausserdem hatte ich einfach Lust, einen Roman zu schreiben, bei dem Genuss im Vordergrund steht und nicht so sehr Trauma oder Gewalt.

Wie bist du auf die Zusammenstellung der Charaktere gekommen? Welche unterschiedlichen Funktionen erfüllen Ava, Robin, Silvia und Delia? Wofür stehen sie? Als ich mir über das Gespann Gedanken gemacht habe, habe ich mir die Frage gestellt, welche Konstellationen Reibung erzeugen könnten. Wenn alle eine ähnliche Biografie und ähnliche Persönlichkeiten hätten, dann wäre nicht so ein konfliktreicher Roman entstanden. Mir war es aber wichtig, Konflikte zu behandeln, zum Beispiel das Generationen-Thema. Auch im «Ministerium der Träume» war meine Protagonistin ungefähr 15 oder 20 Jahre älter als ich es war, als ich das Buch geschrieben habe. Das kommt daher, dass ich für ältere Generationen von Queers auf der einen Seite eine Verehrung und ein grosses Interesse habe und gleichzeitig natürlich auch eigene Vorbehalte. Davon bin ich auch wenn ich ein Interesse an den älteren Menschen habe, oder eine Faszination für sie, nicht befreit. Übers Queer-sein oder Lesbisch-sein kann man meiner Meinung nach nicht sprechen, ohne auch über unterschiedliche Generationen und Altersunterschiede zu sprechen.

Würdest du sagen, dass der Roman etwas Versöhnliches an sich hat, trotz der Unterschiedlichkeit der Figuren? Ja, das ist ein bisschen der Versuch gewesen. Alle Figuren sind zwar nervig, aber man kann auch für jede von ihnen Verständnis aufbringen. Und so ist auch die queere Community: Wir sind alle auf unsere Art irgendwie nervig, aber das macht uns nicht so bösen Menschen. Ich hatte einfach Lust, diese messiness der unterschiedlichen Figuren zu embracen und dem Raum zu geben.

Hast du die Traumata deiner Romanfiguren offengelegt, um Raum für gegenseitiges Verständnis zu schaffen? Die Traumata der meisten Figuren werden für die Lesenden zwar verfügbar gemacht, die Figuren kennen sie voneinander aber nicht. Sie müssen den Zugang zueinander finden, ohne von den Traumata zu wissen. Aber natürlich hilft es immer, die Hintergründe von jemandem zu kennen. Wenn du weisst, dass diese eine Person im Freundeskreis, die immer alles kontrollieren muss, früh ihre Mutter verloren hat und in der Familie Verantwortung übernehmen musste, dann kannst du dir ihr Verhalten erklären und bist gnädiger. Auch beim Thema „Generationales Trauma“ kann es helfen, sich mehr in die Perspektiven der anderen hineinzuversetzen. Denn gesellschaftliche Verhältnisse traumatisieren und sie begünstigen bestimmte Verhaltensweisen.

Queeres Begehren ist eins der zentralen Motive des Romans. Gleichzeitig thematisierst du auch die Hindernisse, die sich dem Ausleben dieses Begehrens in den Weg stellen. Denkst du, dass es cishet-Menschen bewusst ist, wie gross diese Hindernisse sind? Ich glaube, es kommt sehr drauf an. In Berlin zum Beispiel sind queere Communities ein prägender Teil des Stadtbildes, nicht nur, wenn man am Nolli unterwegs ist, sondern auch in Neukölln, Kreuzberg und anderen Bezirken. Die Clubkultur und Fashion-Welt ist in Berlin ein ganz anderer Schnack als in Stuttgart zum Beispiel. Und ich glaube, cis-hetero Menschen denken oft, dass es easy peasy ist heutzutage, queer zu sein. Weil sie selbst diese Räume betreten oder diese Styles bedienen, und merken, dass es ihnen ja selbst nicht schlecht geht. Dadurch übersehen sie die Differenzen, die tatsächlich vorliegen zwischen ihnen und queeren Menschen. Auch in Berlin findet extrem viel antiqueere Gewalt statt, die in den letzten ein, zwei Jahren nochmal stark zugenommen hat. Aber das wird vergessen, weil es beispielsweise auf Social Media wenig thematisiert wird. Und wenn, dann fast ausschliesslich von queeren Menschen.

Mit Delia hast du auch eine nicht-binäre Figur in deinem Raum. Wenn du aus deren Perspektive schreibst, ist der Text ausschliesslich in Kleinbuchstaben verfasst, welchen Effekt willst du damit erzielen? Ich wechsle im Roman die Perspektiven und habe bei allen Figuren überlegt, wie der Text zur jeweiligen Figur passen kann. Ich wollte, dass der Text die Figur verkörpert. Für Delia fand ich die Kleinbuchstaben sehr passend. Ich hatte Lust, mit Form und Grafik herumzuspielen und ein bisschen konzeptioneller zu arbeiten als beim ersten Roman.

Du zitierst Maggie Nelson und Monique Wittig – was bedeutet es für dich, in einer queeren Literatur-Tradition zu schreiben? Ich habe versucht für mich herauszufinden, was eine queere Literatur-Tradition ist. Und ich kann es nicht komplett definieren, aber ich glaube, genau das macht diese Tradition auch aus. Dass es kein Rezeptbuch dafür gibt, das einem zeigt, wie queere Literatur geht, dass sie eigensinnig sein kann und klassische Literaturformeln verfremdet. Das Fragmentarische zum Beispiel ist etwas, das mir in vielen queeren Publikationen begegnet. Es wird zudem oft Prosa und Lyrik miteinander kombiniert und mit den Gattungen gespielt – diese Tendenzen findet man in meinem Roman auch.

Manche meiner Dialogteile erinnern beispielsweise an ein Drehbuch. Ich hatte die Lust, die Form zu queeren und die Grenzen von Prosa in alle möglichen Richtungen auszuweiten. Es gibt queere Theorie, queere Poesie, queeres Drama – das sind alles Dinge, die Menschen vor mir gemacht haben und während ich da bin machen. Ich kann mich von allen dieser Töpfen bedienen, um die Geschichte zu erzählen, die ich erzählen möchte. Das sind alles Tools, die ich nutzen kann, um die Dringlichkeit meiner Geschichte zu verdeutlichen.

Ich glaube, dass Literatur nicht dafür da ist, Fragen zu beantworten, sondern noch mehr Fragen aufzuwerfen.

Dein Roman endet ziemlich offen. Warum war es dir wichtig, Fragen unbeantwortet zu lassen und Raum für Interpretation zu lassen? Ich glaube, dass Literatur nicht dafür da ist, Fragen zu beantworten, sondern noch mehr Fragen aufzuwerfen. Und ich mag es auch, offene Fäden liegen zu lassen, weil die Lesenden dann selbst schauen können, wie sie damit weiterspinnen. Zudem wäre es einfach nicht realistisch, wenn sich alle Konflikte auf dem Dach auflösen würden. Man kennt das ja, wenn man einen Abend mit seinen friends verbringt und jeder gerade eine grosse Baustelle hat. Wenn man dann nach Hause geht, gibt es vielleicht ein paar mehr Lichtblicke, aber es ist selten so, dass kollektiv die individuellen Probleme an einem Abend überwunden werden. Auch im Roman sind es keine Probleme, die an einem Abend gelöst werden könnten.

Der Roman kommt als eine Art Kammerspiel daher – kannst du ihn dir auch als Theaterstück vorstellen? Es wird tatsächlich in Dortmund im November schon die erste Inszenierung geben. Darauf bin ich sehr gespannt, weil ich weiss, dass auch mit Video gearbeitet wird. Ich bin gespannt darauf zu sehen, ob zum Beispiel die Rückblenden als Videos dargestellt werden. Ich finde es immer total interessant, zu sehen, wie andere Menschen meinen Stoff umsetzen. «Ministerium der Träume» wurde beispielsweise sehr unterschiedlich auf der Bühne interpretiert.

Ist der Romantitel als Metapher zu begreifen – wenn ja, wofür? Ich mochte an dem Titel, dass er mehrdeutig ist. Da ist der Schwindel von der Höhenangst und der Schwindel des Begehrens, wenn du sehr verknallt in jemanden bist oder Obsessionen hast. Gleichzeitig ist eine Obsession auch ein Schwindel, den man sich erzählt. Zudem wird im Roman viel geschwindelt und gelogen. Jede Figur hat einen kleinen oder grossen Lebensschwindel, oder einen Bereich in ihrem Leben, in dem sie sich selbst anschwindelt.

Wann war dir zuletzt schwindelig? Nachdem die Wahlergebnisse von Thüringen und Sachsen veröffentlicht wurden.

Hengameh Yaghoobifarah: «Schwindel», Verlag Blumenbar (240 Seiten)

Die queere Regisseurin Erica Tremblay spricht über ihren Werdegang und über die Entwicklung der Hollywood-Industrie, die bis vor zehn Jahren noch behauptete, Native Americans hätten vom Filmemachen keine Ahnung und könnten weder schreiben noch spielen (MANNSCHAFT+).

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