Heinrich Hössli: Der fast vergessene Schweizer LGBTIQ-Aktivist
Ob er selbst schwul war, weiss niemand
An diesem Dienstag wäre Heinrich Hössli 240 Jahre alt geworden. Er war ein Pionier der Schweizer LGBTIQ-Bewegung.
Es begann mit dem Tod. Franz Desgouttes musste sterben. Es war der 30. September 1817, als der Scharfrichter ihn erdrosselte, seine Gliedmassen mit einem Rad zertrümmerte und den Körper entstellt zurückliess. All das, weil Desgouttes einen jungen Schreiber erstochen hatte, seine grosse Liebe.
Einen Tag lang wurde der Leichnam des Mörders ans Rad gebunden ausgestellt, so Pirmin Meier im Buch «Mord, Philosophie und die Liebe der Männer». Man sagte den Menschen, Desgouttes habe den Schreiber bei einem Raubüberfall getötet. Sie glaubten es. Nur Heinrich Hössli (geboren am 6. August 1784 in Glarus) liess sich von der Lüge nicht abspeisen. Er wusste von Desgouttes’ Homosexualität.
Hössli sah in Desgouttes einen Mann, dessen unerfüllte Liebe zu einem anderen so heftig gewesen sein musste, dass nur der Tod dem ein Ende setzen konnte. Dieses Verbot der Liebe trieb Hössli so umher, dass er Stellung beziehen wollte.
Weil er Tuchhändler und kein Schreiber war, wandte er sich an den Schriftsteller Heinrich Zschokke. Im Sommer 1819 besuchte er Zschokke in der Villa Blumenhalde und gab ihm seine erste Verteidigung der Männerliebe. Ein selbst geschriebener Aufsatz, in dem Hössli mit der Antike argumentierte. Eine angesehene Zeit, homosexuelle Liebe war gesellschaftlich akzeptiert. Antike Kultur und Literatur waren Vorbilder des 19. Jahrhunderts – warum nicht auch die Liebe zwischen Männern?
Ob er selbst homosexuell war? Bis heute weiss das niemand. Hössli hatte eine Frau und zwei Söhne. Die wohnten in Zürich, und er im 70 Kilometer entfernten Glarus. Für die Menschen war er ein ungepflegter Eigenbrötler. Einer, dessen Nase stets in einem Buch steckte, der sich mit Studierten anfreunden wollte und doch allein blieb. Einer, den die Einsamkeit zwang, laut mit sich selbst zu sprechen.
Inspiriert durch Hösslis Aufsatz schrieb Zschokke tatsächlich ein Werk: «Der Eros oder über die Liebe». Ein literarisches Streitgespräch, das zum Schluss kommt, dass Liebe ohne weibliche Sinnlichkeit unmöglich ist. Für Hössli ein Schlag ins Gesicht. Das konnte er so nicht stehen lassen.
Wie kein anderer Tuchhändler vermochte er es, den weiblichen Geschmack so zielgenau zu treffen, dass die Frauen, fasziniert von seinen Kreationen, das Geschäft leer kauften. Vom Schreiben allerdings verstand er nichts. Für seine Monografie brauchte er 15 Jahre, so der Historiker Rolf Thalmann im Interview mit Südostschweiz. Er nannte sie «Eros. Die Männerliebe der Griechen, ihre Beziehungen zur Geschichte, Erziehung, Literatur und Gesetzgebung aller Zeiten». Als ob das nicht Titel genug wäre, hat das Werk noch einen langen Untertitel. Verschachtelte Sätze und fast 600 Seiten Argumente. Schwer zu lesen.
Hössli schrieb, dass die Liebe zwischen Männern von der Natur gegeben sei. Deswegen würde sie jeden Versuch der Heilung, jede Strafe, jede Verfolgung überstehen und selbst der Tod könne sie nicht ausrotten. Homosexualität kehrt zurück, unversehrt wie Blumen, die nach jedem Winter wieder in Blüte stehen.
Es hätte ein Skandal sein können. Doch niemand las die Monografie, und so regte sich auch niemand auf. Der Evangelische Rat kam wohl am weitesten. Er las nur den Titel und verbot das Werk sogleich. Ein Jahr nach Veröffentlichung wurden die Bestände des ersten Bandes beschlagnahmt, der Zweite nur in geringer Stückzahl aufgelegt und von den Behörden aufgekauft. Man bewahrte sie in Glarus auf. Dort gingen sie zusammen mit der Stadt beim grossen Brand von 1861 in Flammen auf.
Mit 80 Jahren starb Hössli im Spital. Der erste Schweizer, der sich für die Rechte Homosexueller einsetzte, folgte seinen Büchern ins Vergessen.
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