Überleben als trans Mann im Wilden Westen
Harry Allen wurde immer wieder von der Polizei verfolgt
Vor 100 Jahren wurde er zur nationalen Berühmtheit: Die Welt sah ihn als Frau, er sich selbst als Mann. Doch trotz viel Gewalt und Anfeindungen lebte Harry Allen bis zum Schluss seine Identität.
«Ich schlage dich in drei Minuten Ko», rief «die Frau in Männerkleidung» aus dem Boxring ins Publikum. So berichtete es die Philadelphia Times im Jahr 1901, als Harry Allen an einem Boxenkampf teilnehmen wollte. Ein Zuschauer hatte sich über Harry lustig gemacht, weil er ihn für eine Frau in Männerkleidung hielt. Als Harry ihn anvisierte, suchte der Zuschauer im Boxpublikum jedoch schnell das Weite.
Harrys Lebensgeschichte ist im Nordwesten der USA bis heute bekannt. Immer wieder erinnern Medien, wie etwa die Online-Zeitung Crosscut aus Seattle, an ihn. Auch viele der Zeitungsartikel, die damals über Harry berichteten, sind mittlerweile digitalisiert und frei verfügbar. Das erste Mal festgenommen wurde Harry 1899 wegen des Tragens von Herrenkleidung. Da dies aber keinen Straftatbestand darstellte, wurde er danach schnell wieder freigelassen. Festgenommen wurde er deswegen trotzdem noch häufiger. Verurteilt wurde er dann zu unterschiedlich hohen Geldstrafen oder kurzen Gefängnisaufenthalten. Als Vorwand galt dann «ungebührliches Verhalten» oder «Landstreicherei».
Harry Allen wurde 1882 in Indiana geboren. Das Kind erhielt den Namen Nell Pickerell. Als Jugendlicher hatte er bereits auf der Ranch seiner Eltern auf den Pferden so gut reiten und schiessen gelernt, dass er andere Männer damit in den Schatten stellte. «Ich wollte kein Mädchen sein, ich fühlte mich nicht wie ein Mädchen, und sah nie wie ein Mädchen aus», sagte Harry einmal. Wieder Frauenkleider zu tragen, würde sein Leben «so unerträglich machen, dass ich es nicht aushalten würde».
Die sozialen Geschlechtergrenzen waren damals nicht überall so starr, wie es die Mehrheit gerne gehabt hätte, erklärt der Historiker Peter Boag in seinem Buch Re-Dressing America’s Frontier Past, der sich darin mit historischer geschlechtlicher Performanz befasst hat. So manche Frauen zogen Männerkleidung an und die Gründe hierfür waren vielfältig. Das Verhältnis von Männern zu Frauen lag in solchen Siedlungen oftmals bei 14 zu 1. Viele wollten sich so vor den Männern schützen. Andere zogen Männerkleidung für ihren Beruf an, oder kamen so schlichtweg leichter über die Rocky Mountains als in ihren viktorianischen Kleidern.
Daneben gab es trans Menschen wie Harry Allen. Viele von ihnen lebten weitgehend unbemerkt und es wurde oft erst vom Bestatter festgestellt, dass sie trans waren. Als eine der ersten Gelegenheiten für das Tragen von Hosen bot sich für Harry Allen das Fahrradfahren an. Niemand nahm ihm dies übel, weil man es als angenehmer empfand, in Hosen Fahrrad zu fahren. Doch Harry begann dann auch, abseits des Fahrradfahrens Herrenkleidung zu tragen.
Im Alter von 16 Jahren wurde Harry schwanger, angeblich von einem älteren Mann. Das Kind wurde dann von Harrys Mutter aufgezogen. Die Presse beschrieb die Mutter ausdrücklich als «weibliche Frau», die es aufgegeben habe, ihre Tochter verstehen zu wollen. Doch die Realität sah wohl anders aus, auch wenn diese nicht ins öffentliche Bild passte. Seine Mutter sagte immer wieder für ihren Sohn vor Gericht aus. Und sie nannte ihn bei seinem männlichen Namen.
Harry lebte viele Jahre in Seattle im Nordwesten der USA und reiste später durchs Land. Er wurde ein «Hobo». Diese Leute übernahmen Hilfsarbeiten und versuchten hier und dort ihr Glück. Jobs gab es in der Region genug: Fischerei, Bergbau und Holzfällerei. Doch auch Gewalt war in dieser von ständigem Wandel geprägten Region weit verbreitet. Der Staat verschärfte zu dieser Zeit seine Sittengesetze und verbot alles ausserhalb der cis-heterosexuellen Lebensform. Harry musste nun noch mehr darauf achten, von anderen Menschen an seinen Arbeitsstätten als Mann gelesen zu werden. Wenn sein «richtiges» Geschlecht aufflog, wurde er entlassen.
Landarbeiter, Hafenarbeiter, Hotelportier, Barkeeper und professioneller Boxer waren Harrys Berufe. Gelegentlich verdiente er seinen Lebensunterhalt auch mit Kleinkriminalität. Immer wieder musste er ins Gefängnis, so etwa einmal wegen einer Kneipenschlägerei. Ein weiteres Mal wurde er verhaftet, weil er Fahrrad fuhr, ohne sich am Lenker festzuhalten. Das galt als unangemessen für Frauen.
Harry Allen soll viele Geliebte hintereinander gehabt haben, manchmal mehrere gleichzeitig. Auch verheiratete Frauen sollen darunter gewesen sein. Damit lief er Gefahr, in die Fänge der Justiz zu geraten. Denn im Staat Washington stellte das Verführen anderer Personen mit dem Ziel von «ungesetzmässigem Sex» eine Straftat dar. Es drohten fünf Jahre Gefängnis oder drei Jahre Zwangsehe. Das Gesetz galt eigentlich für Männer, die Frauen betrogen. So herrschte in der Justiz zunächst Verwirrung, wie mit Harry bei diesen «Delikten» umzugehen sei. Die Polizei behielt ihn aber weiterhin im Auge.
In der Boulevardpresse wurde Harry ein ums andere Mal vorgeführt und pathologisiert. So bemerkte der Washington Standard, dass Harry ein interessanter Fall für Psycholog*innen sei. Der Seattle Star hob Harrys «guten Krawattengeschmack» hervor. An dieser Stelle zeigt sich, wie überfordert die Mehrheitsgesellschaft mit trans Menschen war. Nach dem Motto: Wenn diese Person schon meint, ein Mann sein zu müssen, bewahrt sie sich immerhin das als weiblich geltenden Attribut des Modebewusstseins.
Besonders in die Schlagzeilen brachte ihn, dass sich gleich mehrere seiner Liebhaberinnen umbrachten. So wusste angeblich seine Geliebte Dolly Quappe lange Zeit nicht, dass Harry keine als männliche definierten Geschlechtsteile hatte. Als sie es herausfand, soll sie sich umgebracht haben. Andererseits kam später heraus, dass Dolly gegenüber Harry eifersüchtig gewesen sein soll, weil dieser parallel Dates mit einer anderen Frau hatte. Ein Jahr später stürzte sich angeblich aus demselben Grund Hazel Walters von einer Klippe in den Tod.
Pearl Waldron schoss sich in die Brust und starb dann später daran. Sie selbst erklärte aber nie ausdrücklich, dass dies in Zusammenhang mit Harry stand. Auch Gertie Samuels schoss sich in die Brust. Die Situation schien noch abenteuerlicher: In der Presse stand, dass Harry die Hochzeit der beiden in letzter Minute abgesagt hatte, um zu verhindern, dass in den Augen der Behörden eine damals illegale homosexuelle Ehe entstanden wäre. Doch bei dieser Geschichte ist es noch unklarer, ob es sich nicht doch um eine erfundene Story der Presse handelte.
Belegt ist allerdings folgender Vorfall: Bei einer Polizeirazzia im Jahr 1912 wurde Harry verhaftet. Harry lebte damals mit einer anderen Frau in einer Pension, die er als seine Ehefrau ausgab. Der Vorwurf lautete «weisse Sklaverei». Der Polizist, der ihn verhaftete, erkannte Harry von einer vorherigen Verhaftung wegen Alkoholverkaufs in einem Ureinwohnerreservat. Letztlich wurde Harry dann aber doch nicht wegen «weisser Sklaverei» angeklagt. Stattdessen erhielt er eine 90-tägige Gefängnisstrafe wegen «Landstreicherei».
Im Gefängnis von Portland, in dem Harry seine Haft verbüsste, traf er auf Miriam Van Waters, eine Anthropologin und Frauenrechtlerin. Harrys «Vorstrafenregister», schloss Van Waters, «scheint das Ergebnis von Diskriminierung zu sein». Sie war die erste Person, die sich bemühte, seine Handlungen nachzuvollziehen. Doch auch sie verstand Harry nicht wirklich. In Bezug auf Harrys Geschlecht urteilte Van Waters, dass er sich als Mann kleidete, um an bessere Jobs zu kommen.
Anlaufstellen um Hilfe zu bekommen gab es für ihn nicht. In diesen Jahren wurden vom Staat erst langsam sogenannte «Humane Officers» eingeführt. Doch anders als der Name vermutet lässt, bestand ihre Aufgabe darin, sich um das Wohl umherstreunender Tiere zu kümmern. Erst später halfen sie auch Menschen in schwierigen Situationen.
In seinen späteren Lebensjahren wurde Harry offenbar Polizeiinformant. Er sollte die Drogenschmuggler an die Polizei verraten. Dadurch verbesserte sich seine Beziehung zur Polizei etwas. Zu allem Überfluss geriet Harry im Jahr 1919 in einen Streit mit seinem alkoholkranken Vater. Dieser stach ihm von hinten in den Rücken und verletzte seine Lungen. Harry konnte im Krankenhaus gerettet werden, verfiel aber bald der Opiumsucht.
Am 27. Dezember 1922, zwei Tage nach Weihnachten, starb Harry im Alter von 40 Jahren an syphilitischer Meningitis. In der Sterbeurkunde steht der Name «Nell Pickerell» und das Pronomen «sie». Damit hat er als Mann in den Augen des Staates letztlich nie existiert. Gleichzeitig ist Harry Allen aber auch nie offiziell für Tod erklärt worden.
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