Wenn sich ein Jude und ein Araber lieben
Die Reportage von Cedric Rehman wurde für den Felix-Rexhausen-Preis 2011 nominiert
Zwei Männer lernen sich über das Internet kennen. Der eine Jude, der andere Araber. Zwischen ihnen steht der Grenzwall aus Beton und Stahl, mit dem Israel die Palästinensergebiete abriegelt. Sie versuchen voneinander loszukommen, weil sie nicht an die Zukunft ihrer Beziehung glauben. Und dennoch begegnen sie sich immer wieder aufs Neue.
Text: Cedric Rehman
Es ist Nacht im heiligen Land. Scheinwerfer bestrahlen den Stacheldraht auf einer acht Meter hohen Mauer aus Beton und Stahl. Sie verliert sich rechts und links am Horizont. Zehn Kilometer östlich von Jerusalem öffnet sich ein Loch in der grauen Wand. Das Loch heisst Kalandia-Checkpoint. Eigentlich ist es ein zehn Meter langer, mit Gitterstäben eingefasster Gang, der ins Innere des Walls führt und in ein Drehkreuz mündet.
Tagsüber stehen Tausende Palästinenser vor Stahl und Beton und warten darauf, den «Käfig» zu betreten. So nennen sie den Checkpoint. Die Schlangen der Wartenden verlieren sich im Staub. Es wird geschubst und geschimpft: «Jallah, Jallah, Beeilung, Beeilung.» Keiner will in der Wüste übernachten. Nach acht Uhr leisten nur noch leere Plastiktüten den weggeworfenen Pappkaffeebechern Gesellschaft. Der Checkpoint hat über Nacht geschlossen. Von den Wachtürmen mit ihren Maschinengewehrnestern glimmt manchmal rot eine Zigarette auf. Ein Mensch füllt seine Lungen mit Nikotin. Immerhin ein Mensch.
In Ramallah, zehn Kilometer westlich der Grenzmauer, geht ein junger Mann online. Er klickt sich auf der Seite von Atraf ein, der israelischen Version von Gayromeo. Er hat sich an die Gewissheit gewöhnt, dass irgendjemand in irgendeinem Büro Mausklick für Mausklick verfolgt, wen er anchattet oder wessen Profil er öffnet. Er hofft nur, dass es nicht die Palästinenser sind, die verfolgen, wie er kurz auf «25, maskulin und durchtrainiert» hängen bleibt. Der Mann mit den dunklen gegelten Haaren und dem Dreitagebart, nennen wir ihn Hassan, kommt aus einer alten Fedahyin-Familie. So nennen die Palästinenser die Helden ihres Guerillakampfes gegen die israelische Besatzung. Als Hassan zwölf war, kehrte der Vater mit Jassir Arafat aus dem tunesischen Exil nach Ramallah zurück. Ein alter Fatah-Kämpfer, Nationalist und Sozialist.
Auf der anderen Seite des Betonwalls im Westen Jerusalems loggt sich ein Mann bei Atraf ein, der ungefähr gleich alt ist wie Hassan. Nur hat er blaue Augen und dunkelblonde Haare. Mit Hassan hat er aber eines gemein: Er stammt aus einer Familie von Helden.
Viele Gemeinsamkeiten und nur ein Widerspruch
Als Avi, der in Wirklichkeit anders heisst, fünf Jahre alt war, hat sein Grossvater ihm sein Palmach-Abzeichen geschenkt. Schon im Zweiten Weltkrieg kämpfte er in der Jüdischen Brigade an der Seite von Mosche Dayan gegen die französischen Kollaborateure der Nazis in Syrien und im Libanon. 1967 zog der legendäre General mit der Augenklappe in den Sechstagekrieg. Natürlich war Avis Grossvater wieder dabei wie in allen Kriegen, die Israel seit seiner Unabhängigkeit mit seinen arabischen Nachbarn ausgefochten hat. Damals wurde Ramallah, Hassans Heimatstadt, zum ersten Mal von den Israelis besetzt. Hassan und Avi sind Helden im Wartestand. Ihre Eltern haben sie im Glauben erzogen, dass sie das Überleben ihrer Völker mit ihrem Leben verteidigen müssen. Das Vermächtnis ihrer Familien erlaubt ihnen nur eine Art des Umgangs miteinander: den mit der Waffe in der Hand.
Hassan und Avi klicken sich auf Atraf Abend für Abend durch die Profile. Sie öffnen Seiten von säkularen Juden, die schnellen Sex suchen, von orthodoxen Juden und Muslimen, die aus demselben Grund auf Atraf angemeldet sind. Früher oder später öffnet der eine oder andere das Profil des anderen. «Na wie geht es Dir da drüben?» schreibt der eine. «Heute schon Stress mit einem Kamel gehabt?» antwortet der andere. Hassan und Avi schreiben über die ganz normalen Dinge des Alltags in ihrer eigenen Sprache, mit ihrem eigenen intimen Humor. Ihre Jobs, ihre Freunde, der neueste Tratsch aus ihren Familien. Avi weiss, welche von Hassans Tanten unter Diabetes leidet, und dass Hassans Schwester verrückt ist nach der US-Serie «Desperate Housewifes». Hassan kann sich genau erinnern, an welchen Tagen Avis Vater in diesem Jahr im Krankenhaus war und untersucht worden ist, ob der Prostatakrebs wirklich verschwunden ist. «Wir sind beide Familienmenschen und kommen aus einer konservativen Umgebung, das verbindet uns», sagt Hassan. Es klingt so, als hätten sich die Familien aus zwei verfeindeten Völkern ziemlich viel zu sagen – wenn sie miteinander reden würden.
Hassan und Avi vergessen beim Chatten miteinander oft, warum sie eigentlich online gegangen sind: um einen neuen Partner zu finden. «Wir sind nicht mehr zusammen», sagt Hassan. Und Avi nennt Hassan seinen Exfreund. «Ich sage mir jeden Tag, lass es bleiben, melde dich nicht mehr bei ihm, aber dann möchte ich einfach wissen, ob es ihm gut geht», sagt Avi. Hassan ist für ihn ein Exfreund, der ihm immer noch viel bedeutet. Einer, mit dem er übereingekommen ist, dass die Liebe keinen Sinn hat, in einem Land, in dem Kakibraun sich sogar unter die Regenbogenfarben der schwulen Community schleicht. «In Israel ist es in Ordnung, schwul zu sein. Einen Palästinenser zu lieben, das ist dagegen etwas komplett Verrücktes.» Avi erinnert sich ganz genau, wie er bereits im Kindergarten Geschichten hörte von dem guten starken israelischen Soldaten, der pausenlos Palästinenser daran hinderte, unschuldige Israelis in die Luft zu sprengen. «In meinem Weltbild waren Palästinenser so etwas wie Psychopathen, die jüdischen Kindern die Kehle durchschneiden. Ich habe sie gehasst.» Avis Mutter tat ein Übriges zu einem Weltbild ohne Grautöne. Sie floh aus Marokko, wo die Juden nach der Gründung ihres Staates nicht mehr erwünscht waren. «Für sie waren die Araber schlimmer als die Deutschen», sagt Avi.
Hassan weiss ganz genau, wann er seine erste israelische Flagge verbrannt hat «Ich muss fünf oder sechs gewesen sein.» Für Kinder von PLO-Funktionären im Exil war es normal, auf Demonstrationen «Tod Israel» zu schreien.
Davidsterne und Palästinenser Flaggen
Auf der Suche nach einem Date hat Hassan zum ersten Mal Avis Profil geöffnet. In Ramallah gibt es keine schwule Szene und Sex unter Männern ist strafbar. Der Mangel an Möglichkeiten und die Frustration hat ihn vor drei Jahren dazu gebracht, sich auf der Webseite des Erzfeindes anzumelden. So machen es viele Palästinenser, die zum Beispiel eine Aufenthaltsgenehmigung für Jerusalem haben oder mit einem jordanischen Pass nach Israel können, sagt er. «Wir fahren nach Israel, um angeblich zum Arzt zu gehen, und kommen befriedigt wieder in die Westbank zurück.»
Hassan nennt es den «magischen Klick», wenn er beschreibt, was passiert ist, als er Avis Seite zum ersten Mal öffnete. Er sah Fotos von Avi beim Bier mit Freunden, aber auch in der verhassten israelischen Uniform. «Er sah einfach süss aus, und ich habe ihn gefragt, ob er schon mal etwas mit einem Araber hatte.» Avi überlegte zunächst, ob er die Nachricht wegklicken sollte. «Da war dieser verdammt attraktive Typ, und er war ausgerechnet Palästinenser. Dann habe ich mir gesagt, selbst schuld, wenn du nicht die Eier hast, ihm zurückzuschreiben.» Diese und die kommenden Nächte verbrachten beide mehr oder weniger vor dem laufenden Monitor. Bald war klar: Avi und Hassan würden sich treffen. Am Toten Meer, nahe der jordanischen Grenze, zumindest nicht ganz im Feindesland aus Hassans Sicht.
Als die beiden das erste Mal miteinander schliefen, trug Avi eine Kette mit dem Davidstern um den Hals, Hassan eine Kette mit einem Anhänger, der Palästina zeigt – allerdings ein Palästina, das das heutige Israel miteinschliesst. «Wir haben dann irgendwann die Ketten abgenommen», sagt Hassan.
Als Italiener der Familie vorgestellt
Bei dem Treffen am Toten Meer blieb es nicht. Avi zeigte Hassan Tel Aviv, wo die beiden Händchen halten konnten, während sie ein Eis assen. Avi stellte Hassan auch seinen Freunden vor, alle heterosexuell und politisch eher rechts eingestellt. «Sie haben mich trotzdem akzeptiert, manche schreiben mir immer noch E-Mails, obwohl Avi und ich nicht mehr zusammen sind», so Hassan.
Nach ein paar Monaten war es soweit: Avi wollte Hassan seiner Familie vorstellen. Aber nicht als Hassan, sondern als italienischer Freund. Hassan hat das verstanden. «Ich habe mir den umgekehrten Fall vorgestellt und mir war klar, dass Avi wegen mir nicht seine Familie verlieren sollte.» Also spielte Hassan Theater, lernte ein paar Brocken Italienisch und eine Lebensgeschichte auswendig, die nicht die seine ist. Seine Familie hat angeblich ein Landgut und pflanzt Oliven in Sizilien an, würde er Avis Familie erzählen. Das tut ein Onkel Hassans tatsächlich – nur eben in der Westbank. Avis Familie, die gläubig ist und lange gebraucht hat, um die Homosexualität ihres Sohnes zu akzeptieren, lud «Vicenzo» zum Sabbatessen ein. Da sass der Sohn aus einer palästinensischen Kämpferfamilie und sprach den Segen für das jüdische Volk auf Hebräisch mit. Er hielt während des Gebets die Hand der Mutter, die ihren Sohn im Hass auf die Araber erzogen hat. «Zum Abschied hat sie mich auf die Wangen geküsst und mir ins Ohr geflüsstert, ‹werdet glücklich miteinander, auch wenn ihr schwul seid.›» Dass Avi und «Vicenzo» kein Paar mehr sind, habe ihm seine Mutter immer noch nicht verziehen, sagt Avi.
Hassan und Avi haben versucht, den mörderischen Konflikt zwischen ihren Völkern aus ihrer Beziehung herauszuhalten. So wie sie die Ketten mit den nationalen Symbolen ihrer Völker abgelegt haben. Es blieb beim Versuch. «Wir haben uns oft gestritten, vor allem über die Siedlungen», sagt Hassan. Avi fand es lange völlig in Ordnung, dass Israel auf palästinensischem Land ganze Städte aus dem Boden stampfte. «Für mich war es klar, dass die Menschen ein Recht hatten dort zu sein», sagt er. Er betont die Vergangenheitsform. Denn eine Weile haben sich Avi und Hassan in einem Hotel in Jerusalem getroffen. Hassan kam oft erst nach Stunden und war verstört, nach all den Verhören und Kontrollen. «Ich habe zuerst mit Hassan gefühlt und dann mit seinem Volk», sagt Avi. Hassan würde ein «Tod Israel» heute nicht mehr über die Lippen kommen. «Das hiesse, dass Avi, seine Familie und seine Freunde keine Heimat mehr hätten, das kann ich mir nicht wünschen», sagt Hassan.
Palästina ist eine Falle für Israelis
Als Avi sehen wollte, wie Hassan in Ramallah lebt, als er die Tante mit dem Diabetesbein und die Schwester mit ihrem Faible für Eva Longoria endlich kennen lernen wollte, sagte Hassan Nein. Es ging nicht nur darum, dass Hassan nicht geoutet ist. Irgendwann wird er sich seiner Familie offenbaren, sagt er. Er ist sich sicher, dass seine säkulare Familie mit seiner Homosexualität klar kommen wird. Nur eben nicht mit einem jüdischen Partner. «In unserem Wohnzimmer hängen zu viele Bilder von Verwandten, die gefallen sind oder in Israel im Gefängnis sitzen.»
Doch es gibt einen weiteren Grund, warum Hassan Avi nicht in Ramallah sehen will: «Es gab da diesen Fall einer Palästinenserin, die einen Israeli im Chat kennen gelernt und ihn in einen Hinterhalt gelockt hat. Eine Schlampe finde ich, weil sie die Gefühle des Jungen ausgenutzt hat.» Hassan weiss nicht, ob der israelische Geheimdienst, der sicher das Internet in der Westbank überwacht, ihm ähnliche Absichten unterstellen würde. Er weiss auch nicht, ob die Militanten in der Westbank, die vielleicht dasselbe tun wie der Mossad, ihn zwingen könnten, zwischen dem Leben seiner Familie und Avis Sicherheit zu wählen. «Sie würden alles dafür tun, eine israelische Geisel in die Finger zu bekommen.»
Die beide Männer überlegten eine Weile, nach Europa zu gehen, irgendwohin, wo es keine Rolle spielt, ob einer Jude ist oder Araber. Doch sie entschieden sich zu bleiben. «Wir würden unsere Familien verlieren, unser Land und unsere Traditionen», sagt Hassan. Beide sind sie sich zu ähnlich, um diesen Schritt zu wagen, zu tief verwurzelt in ihren verfeindeten Völkern. Seit einem Jahr schon gibt es keine Treffen mehr, am Toten Meer nicht und auch sonst nirgendwo. Was bleibt, ist der Kontakt übers Internet, während beide auf der Suche sind nach einem Partner, mit dem sie zusammenleben könnten. Nur einmal hat Hassan Avi auf dem Handy angerufen. An der Grenze zum Libanon gab es mal wieder Gefechte mit der Hisbollah-Miliz und Avi hatte Hassan geschrieben, dass er als Reserveoffizier der Armee wohl für einige Zeit an die Grenze stationiert sein würde. «Da musste ich ihm einfach sagen, pass auf dich auf. Ich liebe dich.»
Dieser Text erschien in der Januar-Ausgabe 2011 von Mannschaft Magazin und wurde für den Felix-Rexhausen-Preis 2011 nominiert.
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