Schwul in Japan? Gengoroh Tagames Kampf um Sichtbarkeit

Nach langer Verzögerung ist der dritte Band von «Gay Erotic Art in Japan» erschienen. Ein Abgesang auf die sich wandelnde Gay Culture

Ausschnitt aus einer Kurzgeschichtenillustration von Daisuke Takakura von 1997, aus dem Band «Gay Erotic Art in Japan» (POT Publishing Co.)
Ausschnitt aus einer Kurzgeschichtenillustration von Daisuke Takakura von 1997, aus dem Band «Gay Erotic Art in Japan» (POT Publishing Co.)

Nach dem Eklat rund ums südostasiatische Land Malaysia bei der diesjährigen ITB lohnt der LGBTIQ-Blick auf weitere asiatische Regionen – zum Beispiel Japan. Dort hat der prominente Zeichenkünstler Gengoroh Tagame nach jahrelanger Verzögerung gerade den dritten Band seiner Reihe «Gay Erotic Art in Japan» herausgebracht. Es ist ein Protest gegen die gesellschaftlichen Zustände in seiner Heimat, aber auch eine Abrechnung mit der Schwulenszene.

Ich erinnere mich noch gut, wie wir vor einigen Jahren im Schwulen Museum eine LGBTIQ-Comic-Ausstellung zusammenstellten und dabei dem Manga-Bereich eine Abteilung widmen wollten. Zur Erinnerung: Dort sind Boys-Love-Geschichten («Shonen» bzw. «Yaoi») eines der international erfolgreichsten Sub-Genres, vorwiegend von Künstlerinnen für weibliche Leser gemacht, speziell im Teenager-Alter. Die Hauptfiguren sind schlanke, ätherische Wesen, die in blumigen Welten tragische Liebesabenteuer erleben. Es gibt auch ein lesbisches Äquivalent: «Yuri».

Von diesen weitgehend von und für Heteros gemachten Mangas wollen sich «Gay Mangaka» absetzen, die erwachsenere Charaktere mit fülligeren Körpern zeichnen – und mit explizit dargestelltem Sex. Diese Mangas von offen schwulen Künstlern mit offen schwulen Inhalten gelten in Japan immer noch als Tabu.

Sie wurden seit den 1990er-Jahren in Magazinen wie G-men, Badi oder Samson veröffentlicht und erreichten eine grosse Sichtbarkeit innerhalb der japanischen Schwulenszene. Zuvor fand man entsprechende erotische Abenteuergeschichten mit Samurai und Sumo-Ringern nur in (pornografischen) Underground-Publikationen.

Dass diese erotischen Zeichnungen, die es seit den 1960er-Jahren im japanischen Untergrund gibt, wichtige und historisch wertvolle Erzeugnisse sind, darauf hat Gengoroh Tagame immer wieder hingewiesen. Er gilt als «Dr. Who of Gay Comics» und ist einer der bekanntesten Comic-Künstler Asiens, eine japanische Antwort auf Tom of Finland. Und wie ToF ist er ein Vorkämpfer für sexuell befreite und unzensierte Bilderwelten. Berühmt ist Tagame wegen seiner sadomasochistischen «Gay Manga» mit hypermaskulinen Männern, die er in brutalen BDSM-Situationen zeigt.

1982 veröffentlichte Tagame als Grafik-Design-Student an der Tama Art University seine ersten Werke, obwohl derart explizite sexuelle Darstellungen in Japan aus Zensurgründen und wegen sozialer Konventionen eigentlich verboten waren. Darum sind in seinen frühen Comics oftmals die Erektionen durch weisse Leerstellen ersetzt.

«Macho-Fantasien» Den Namen Tagame benutzt der Künstler erst seit 1986, als seine ersten in Serie produzierten Comics im Magazin Sabu erschienen. Er war 1994 der Gründer des japanischen G-men Magazins, in dem viele asiatische Comic-Künstler erstmals gezeigt wurden. Der Fokus der Zeitschrift lag auf «Macho-Fantasien» anstelle der weicheren populären Yaoi-Geschichten. Tagame setzte dem eine deutlich erwachsenere Bildsprache entgegen, die viele andere Künstler inspiriert hat.

Illustration von George Takeuchi für das Magazin «MLMW» («My Life My Way») von 1980, aus dem Band «Gay Erotic Art in Japan» (POT Publishing Co.)
Illustration von George Takeuchi für das Magazin «MLMW» («My Life My Way») von 1980, aus dem Band «Gay Erotic Art in Japan» (POT Publishing Co.)

Ausserdem sammelte Tagame nebenbei homoerotische japanische Kunst, wie sie in alten und neueren Schwulenzeitschriften zu sehen ist. Er hat mit dem Material in kurzer Folge zwei «Gay Erotic Art in Japan»-Bände herausgegeben: 2003 und 2006. Beide sind aufwändig produziert und ein offensichtliches Signal zur «Hochwertigkeit» der vorgestellten Werke. Beide Bände sind zweisprachig, also mit japanischem und englischem Begleittext, damit sie international wahrgenommen werden können.

Seither ist in Japan in Sachen «Gay Erotic Art» und Zeitschriftenmarkt viel passiert, ebenso bei Tagame.

Der Künstler Gengoroh Tagame im Februar 2019 (Foto: Privat)
Der Künstler Gengoroh Tagame im Februar 2019 (Foto: Privat)

«Der Mann meines Bruders» 2014 begann er erstmals mit einer Comic-Serie für ein allgemeines Publikum. Sie heisst «Der Mann meines Bruders» und schildert eine neue Akzeptanz von LGBTIQ in der japanischen Gesellschaft und in japanischen Familien. Band 1 wurde 2015 veröffentlicht und beim 19. Japan Media Arts Festival mit dem Excellence Award ausgezeichnet. Es signalisiert einen kulturellen Wandel, dass ein Comic mit schwulem Inhalt von einem offen schwulen Autor einen Preis gewinnt, den die japanische Regierung vergibt.

Die deutsche Ausgabe von Gengoroh Tagames «Der Mann meines Bruders» (Foto: Privat)
Die deutsche Ausgabe von Gengoroh Tagames «Der Mann meines Bruders» (Foto: Privat)

Mit dem «Mann meines Bruders» – der inzwischen in vielen Sprachen vorliegt, auch auf Deutsch, und als TV-Serie mit Schauspielern verfilmt wurde – hat Tagame den Mainstream erreicht. Er tritt entsprechend immer wieder öffentlich auf, um über die LGBTIQ-Situation in Japan zu reden. Sehr im Gegensatz zu anderen prominenten japanischen Künstlern, die ihr Gesicht nicht öffentlich zeigen wollen – aus Angst von gesellschaftlicher Stigmatisierung. (Meist halten sie sich ein Buch vors Gesicht, wenn sie für LGBTIQ-Zeitschriften fotografiert werden.)

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Nun hat Tagame nach langer Pause den dritten und offiziell letzten Band seiner «Gay Erotic Art»-Reihe herausgebracht, den er schon 2006 angekündigt hatte, dessen Realisierung sich aber verschob.

Das Cover von Band 3 «Gay Erotic Art in Japan» (POT Publishing Co.)
Das Cover von Band 3 «Gay Erotic Art in Japan» (POT Publishing Co.)

Warum das so lange dauerte, erklärt Tagame mit seiner Desillusionierung über die schwule Zeitschriftenszene. «Ich hätte nie geglaubt, dass schwule Magazine so schnell die zentrale Rolle verlieren könnten, die sie einst spielten.» Laut Tagame habe sich die Szene und damit verbunden auch die Medienlandschaft so sehr diversifiziert, dass «wir einen Punkt erreicht haben, wo ich unfähig bin, selbst einen Teilbereich zu überblicken, sagen wir mal das Feld der Gay Erotic Art».

Tagame weist darauf hin, dass er vielen Künstlern geholfen habe, Sichtbarkeit über Zeitschriften zu erlangen, die er betreut hat. Er habe auch viele Künstler vermittelt, um Visuals für Pride Events weltweit zur Verfügung zu stellen. Aber: «Es gab immer wieder Probleme, als sich herausstellte, dass hinter den Bildern eine Frau als Künstlerin steckte.» Und das unabhängig davon, ob ihr Werk im gewünschten Kontext funktionierte oder nicht. Heterosexuelle Frauen, die schwule Inhalte produzierten, wurden auf Grund von schwuler «Identitätspolitik» ausgeschlossen, schreibt Tagame.

«Queer Culture» Er plädiert im Vorwort für Band 3 dafür, künftig vielleicht den inklusiveren Begriff «Queer Culture» zu benutzen und damit solche Ausgrenzungen zu vermeiden. Er weist auch darauf hin, wie fahrlässig die Herausgeber der schwulen Zeitschriften in Japan mit den Kunstwerken umgingen, die ihnen zum Abdruck zur Verfügung gestellt wurden – indem sie diese beispielsweise nicht zurückschickten, beschädigten oder aus Versehen entsorgten. Das habe Tagame derart enttäuscht, dass er sich vollständig aus dem Bereich zurückgezogen hat. Inzwischen sind viele der Publikationen auch eingestellt worden, weil sich auch in Japan durchs Internet das Mediennutzungsverhalten vieler LGBTIQs verändert hat.

Tagame wiederholt in Band 3 noch einmal das Ziel der ersten Bände, dass es darum geht zu zeigen, dass erotische schwule Kunst aus Japan schon vor den Boom-Jahren der 1990er existierte und eine lange Geschichte in Japan hat. Und dass es entsprechend auch schon vor dieser Öffnung der Gesellschaft eine «Gay Cultural History in Japan» gab, die es wahrzunehmen und zu studieren gilt.

Aktzeichnung von Seiji Inagaki von 2008 («The Golden Dark: Nude Nr. 14») aus dem Band «Gay Erotic Art in Japan» (POT Publishing Co.)
Aktzeichnung von Seiji Inagaki von 2008 («The Golden Dark: Nude Nr. 14») aus dem Band «Gay Erotic Art in Japan» (POT Publishing Co.)

Tagame schliesst den Zyklus nun mit fünf Künstlern, die er vorstellt: Seiji Inagaki, George Takeuchi, Daisuke Takakura, Ryoji Minakage/Setsu Suzuki und Minoru Toyama/GYM. Sie werden mit umfangreichen Einzelessays vorgestellt, teils auch mit Interviews, die Tagame selbst führte. Darin spricht er über Bisexualität, über «Knabenliebe» an der Grenze zur Pädophilie, über Reaktionen von Familien und Kollegen. Kurz: Es ist ein extrem informativer Band über einen Bereich, zu dem international gesehen wenig bekannt und wenig publiziert ist. Obwohl einige der Bilder grösste Popularität über T-Shirts, Tassen und sonstige Merchandising-Produkte erlangen konnten.

«Unsere LGBTIQ-Held*innen» Das heisst, hier gibt es noch viel zu erforschen. Dass Tagame selbst wünscht, dass diese drei Bände und die darin vorgestellte Welt in Europa stärker registriert wird, zeigt sich darin, dass er ein Set aller «Gay Erotic Art in Japan»-Bände der Bibliothek des Schwulen Museum in Berlin geschenkt hat. Er hat für die Comic-Ausstellung damals auch umfangreiches historisches Zeitschriftenmaterial zur Verfügung gestellt, damit nicht nur aktuelle «Shonen»- bzw. «Yaoi»-Arbeiten zu sehen sind und ein einseitiges Bild zu «Erotic Art in Japan» erzeugen.

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Für seinen LGBTIQ-Einsatz – teils unter Bedingungen, die absolut karriereschädlich sind – wurde Tagame übrigens in der Ausstellung «Superqueeroes – Unsere LGBTIQ-Superheld_innen» als «Held» im Bereich Comics vorgestellt, neben Künstler*innen wie Alison Bechdel, Howard Cruse oder Ralf König. Man kann seinen dritten Band von «Gay Erotic Art in Japan» als Liebeserklärung einerseits sehen, als heroischen Akt, aber auch als Abschied von einer Welt, die es so nicht mehr gibt.

Und das könnte sogar «gut so» sein, wie Tagame selbst schreibt. Trotz der zunehmenden Zersplitterung von LGBTIQ und der damit verbundenen «Unübersichtlichkeit».

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