Faszination Voguing
Voguing steht für Freiheit und Selbstentfaltung fern von Hass und Diskriminierung. Die Tanzform aus den Siebziger- und Achtzigerjahren erlebt in der Clubszene zahlreicher Städte eine Renaissance. Auch Luca Renzi hat im Voguing seine Berufung gefunden.
Es ist der wohl grösste Hit aus Madonnas Karriere: «Vogue». 1990 hatte niemand von Voguing gehört, als der Superstar den Tanz von den Schwulenclubs New Yorks auf die Weltbühne katapultierte.
Doch Voguing, verkürzt auch Vogue genannt, ist mehr als nur eine Tanzform. Es entstand in den späten Sechzigerjahren in der marginalisierten Subkultur von Schwulen – die meisten von ihnen Schwarze oder Latinos. Als Ventil, um sich die Diskriminierung der Gesellschaft und der eigenen Community von der Seele zu tanzen, bot Voguing einen geschützten Ort auf der Tanzfläche, um sich zu entfalten. Sich selbst zu sein oder eben gerade jemand anderes. Etwa die Models, die sich im Blitzgewitter der Fotografen in Pose werfen, um dann auf dem Cover der «Vogue» zu erscheinen und von allen geliebt und bewundert zu werden.
«Fake it to make it» Vom Magazin «Vogue» und den sich in Pose werfenden Models ist Voguing in seiner Ursprungsform auch inspiriert. Ähnlich wie Models, die ihre Posen nach dem Klicken der Kamera wechseln, reiht der Vogue-Tänzer kantige Verrenkungen in hoher Geschwindigkeit und in übertrieben abrupten Bewegungen aneinander. Jede einzelne Bewegung wird zum Foto, eine Bewegungsfolge zur Fotoserie. Wie auf dem Laufsteg schreitet der Vogue-Tänzer auf der Tanzfläche in einer geraden Linie, die Schulter unterstützt jeden markant aufgesetzten Schritt. Passend dazu dröhnen stampfende Housebeats aus den Lautsprechern. Mit viel Lärm unterstützt das Publikum seinen Liebling.
«Eigentlich ist es eine sehr oberflächliche Tanzform.»
«Eigentlich ist es eine sehr oberflächliche Tanzform, weil man nach seinem äusseren Auftreten beurteilt wird», sagt Luca Renzi im Skype-Interview. Und gerade weil man sonst nichts hat, keine Arbeit, kein Geld und weil man der Gesellschaft nichts bedeutet, lautet der Grundsatz des Voguings «You fake it to make it». Täusche etwas vor, und du schaffst es.
«Im Voguing geht es vor allem darum, im ‹Ballroom› seinen Ruhm zu erlangen, seinen ‹Fame›», sagt Luca.
Als Ballroom («Ballsaal») wird die Tanzfläche des Clubs bezeichnet – die Arena, wo man sich mit anderen Vogue-Tänzern in verschiedenen Kategorien misst. Die Judges («Jury») verleihen bis zu zehn Punkte, die besten kommen weiter. Im Finale liefern sich die Tänzer «one on one battles». Nebst schwulen Männern wird Voguing auch zum Ausdruckstanz für Transfrauen, später lassen sich auch Frauen, Transmänner und sogar vereinzelte heterosexuelle Männer begeistern. Weshalb ist Voguing gerade bei Schwulen beliebt? «Voguing ist eine sehr extrovertierte, eine ausgesprochen feminine Tanzform», sagt Luca. «Schwule Männer sind modeinteressiert und fasziniert von berühmten Models und Schauspielerinnen. Dadurch ist es ein charakteristischer Tanz für Schwule geworden.»
Voguing als Stück schwuler Identität Luca weilt zurzeit in New York, der Geburtsstadt des Voguings. Vor einem Jahr brach der 26-jährige Schweizer zu einer mehrmonatigen USA-Reise auf und verwirklichte damit einen grossen Traum. In Los Angeles bewarb er sich als Tänzer für Rihannas Welttournee. Der Popstar hatte dort zum exklusiven Voguing-Casting aufgerufen. Die fehlende Arbeitserlaubnis machte ihm einen Strich durch die Rechnung. Luca reiste weiter nach New York, um sich in die Voguing-Szene zu stürzen. Hier lernt er auch seinen Freund kennen, einen Musicaldarsteller, mit dem er bereits seit sechs Monaten zusammenlebt.
«Ich tanze leidenschaftlich, aber Voguing ist mein Leben.»
«Ich tanze leidenschaftlich, aber Voguing ist mein Leben», sagt Luca, der als Zehnjähriger mit dem Tanzen begann. «Natürlich kannte ich Madonnas Song. Ich sang sogar die Texte dazu, wusste aber nie, worüber sie tatsächlich sprach. Ich dachte, es gehe nur ums Magazin.»
Als junger Hip-Hop-Tänzer unterdrückte Luca seine Sexualität und wollte nichts vom Schwulsein wissen. Vor sechs Jahren entdeckte er durch eine Freundin das Voguing, und eine neue Welt des Selbstausdrucks und der Selbstakzeptanz eröffnete sich ihm. «Wer Hip-Hop tanzt, setzt sich mit dessen Wurzeln und Identität auseinander, und die sind sehr heterosexuell geprägt. Genau das ist Voguing nicht.»
Doch zu dieser Zeit war der von Madonna initiierte Trend bereits abgeflacht. Voguing-Unterricht gab es nicht, und so brachte sich Luca den Tanzstil selbst bei. Man merkt, wie er für die Tanzform lebt, wie wichtig sie für ihn ist. Mit bebender Stimme erzählt er von den «Balls» und den «Vogue Nights», an denen er so oft wie möglich teilnimmt. Schon manche hat er für sich entscheiden können – als Queen Larenzi, wie er sich im Voguing nennt.
Das «House» als Ersatzfamilie Vor wenigen Jahren nahm das öffentliche Interesse an Voguing wieder zu. In Musikvideos und Shows von Sängerinnen wie Beyoncé und Azealia Banks tauchten Vogue-Elemente auf. Für die Fashion Week in Paris schickten Modeschöpfer ihre Models mit den fürs Voguing typischen Handbewegungen über den Laufsteg. 2016 widmeten sich mit «Kiki» und «Strike A Pose» gleich zwei Dokumentarfilme dem Phänomen.
Nebst New York – wo Voguing über all die Jahre hinweg in den Clubs überlebt hat – wurden in Paris, London und Berlin «Houses» («Häuser») gegründet. Damit werden die Teams von Vogue-Tänzerinnen und Vogue-Tänzern bezeichnet, die für ihr Erreichtes als «Legendaries» («Legendäre») gelten und auf der Tanzfläche gegeneinander antreten. Der Begriff «House» ist ebenfalls eine Anlehnung an die Modewelt mit ihren vielen Modehäusern, vom «House of Gucci» bis hin zum «House of Versace». So gibt es das «House of Ninja» von Willi Ninja, der als «Godfather of Voguing» wegweisend für die Tanzform war. 1989 soll er Madonna angeblich derart begeistert haben, dass sie sich überhaupt vom Voguing inspirieren lassen liess.
Der Anführer eines House wird als «Mother of the House» oder «Father of the House» bezeichnet, die anderen Mitglieder gelten als «Children». Viele schwule Männer, die aufgrund ihrer sexuellen Orientierung von ihren leiblichen Familien verstossen wurden, fanden mit ihrem House eine Ersatzfamilie. Es ist daher keine Seltenheit, dass Mitglieder den Namen ihres Houses als Nachnamen annehmen und eine Namensänderung beantragen, wie zum Beispiel Jose Gutierez Xtravaganza aus dem «House of Xtravaganza». Er war einer von Madonnas ursprünglichen «Vogue»-Tänzern und begleitete sie 1990 auf ihrer Welttournee «Blond Ambition Tour». Luca gehört noch keinem House an. «Ich bin noch 007», sagt er und lacht. 007 ist ein weiterer Begriff aus der Voguing-Szene, der Tänzerinnen und Tänzer ohne House-Zugehörigkeit bezeichnet. «Mein Ziel ist es, in den USA oder in der Schweiz ein eigenes House zu gründen.» Letzteres wäre eine besondere Herausforderung, denn noch existiert keine grosse Voguing-Kultur in der Schweiz, doch das Interesse ist laut Luca vorhanden. Als Vorbild nennt er Deutschland, vor allem in Berlin und Düsseldorf sei eine lebhafte Voguing-Szene entstanden. Jedes House steht für eine bestimmte Philosophie, wie zum Beispiel auch jede Firma eine Unternehmenskultur pflegt. Doch ein House zu führen oder einem anzugehören, ist mit Pflichten verbunden: «Grundsätze müssen befolgt werden. Zum Beispiel, was wir repräsentieren und an welchen Balls wir teilnehmen wollen. Man darf nicht in zwei Houses sein, deswegen will ich mich noch nicht einschränken.»
«Voguing gibt mir die Gewissheit, im Leben alles richtig zu machen.»
Von «Old Way» zu «New Way» Voguing ist eine sehr evolutionäre Tanzform, die sich ständig weiterentwickelt. Die heutige Generation von Vogue-Tänzern bewegt sich anders als ihre «Mothers of the House» oder «Fathers of the House» zu Madonnas Zeiten.
So war es die Entwicklung von neuen Stilen, die dem Voguing in den letzten Jahren zu neuer Popularität verhalf. Als «Old Way» wird der Stil bezeichnet, der sich von den Fotomodels und den ägyptischen Hieroglyphen inspirieren liess und in Madonnas Musikvideo «Vogue» zu sehen ist. «Die Bewegungen sind vollkommen linear, es geht nur um die Kamera», sagt Luca. «Man muss sich so in Pose werfen, dass die Kamera aus jedem Winkel ein gutes Bild machen kann.» Als «New Way» gelten extreme Verrenkungen von Armen, Handgelenken, Kopf und Beinen, die jeweils mit grosser Flexibilität ausgeführt werden. «Man spielt dem Publikum eine Illusion vor, indem man etwa das Verschwinden einer Hand vortäuscht, in einen Spagat fällt oder das Bein zum Kopf bringt», sagt Luca, der sich vor allem auf «New Way» und «Vogue Femme», einem dritten Stil des Voguing, konzentriert. Letzterer beruht auf klassisch femininen Bewegungen, die bewusst übertrieben ausgeführt werden.
An einem Vogue Ball werden die unterschiedlichen Stile als Kategorien ausgeschrieben, in denen sich die Tänzerinnen und Tänzer messen können. «Runway», ein weiterer Stil im Voguing, konzentriert sich ganz auf die Bewegung des Laufens und basiert auf dem Gang der Models auf dem Laufsteg. Diese Kategorie wird an einem Ball oft mit zusätzlichen Auflagen belegt, etwa dem Tragen einer Farbe oder eines Outfits aus einer bestimmten Ära.
Vogue Balls sind das Herzstück des Voguings und von diesem nicht wegzudenken. Indem sich Tänzerinnen und Tänzer gegenseitig herausfordern und Bewegungen individualisieren und weiterentwickeln, tragen sie zum steten Wandel der Tanzform bei. Was heute als «New Way» gilt, wird in zwanzig Jahren womöglich schon als «Old Way» bezeichnet werden. Selbst das heutige «Old Way» war 1990 eine Weiterentwicklung aus der «Ballroom»-Kultur, deren Anfänge im New Yorker Stadtteil Harlem bis in die Dreissigerjahre reichen. «Voguing ist meine Religion»
Luca tanzt und unterrichtet auch andere Tanzformen, etwa Dancehall oder Hip-Hop. Doch die Freiheit und die Möglichkeit, sich in einem geschützten Raum vollständig zum Ausdruck zu bringen, findet er nur im Voguing. «Seitdem ich vogue, bin ich viel selbstbewusster und unabhängiger von einschränkenden Systemen und Negativität. Voguing gibt mir Halt und die Gewissheit, im Leben alles richtig zu machen. Es ist mehr als nur ein Tanz. Für mich ist es wie eine Religion, mein Glaube.»
In der New Yorker Tanzszene hat Luca mittlerweile Fuss gefasst. Hier möchte er, wenn möglich, länger bleiben und Tanz unterrichten. Vielleicht einmal auf Tournee gehen mit einem Popstar. «Die Möglichkeiten, die ich hier habe, sind vielversprechender als in der Schweiz.» Auch in der Voguing-Szene hat sich Luca mittlerweile eingelebt. Der Einstieg ist nicht immer einfach, obwohl Offenheit und Akzeptanz zu den Grundsätzen der Tanzform zählen. «Es kann schon ein bisschen ‹shady› sein», sagt Luca. «Du musst zeigen, was du kannst, um Aufmerksamkeit zu bekommen. Dann wirst du respektiert.» «You fake it to make it» eben.
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