Erste Studie zum Gesundheitszustand von LGBTIQ: «Ernüchternd!»
Kritik an Untätigkeit des Bundes
Am Freitag hat der Bundesrat die erste umfassende Studie zum Gesundheitszustand queerer Personen und ihrem Zugang zur Gesundheitsversorgung veröffentlicht. Die Ergebnisse sind ernüchternd, so die LGBTIQ-Dachverbände und die Aids-Hilfe Schweiz.
Die Verbände sehen ihre Befürchtungen bestätigt: Sie fordern den Bundesrat auf, rasch zu handeln: Einerseits sollen Mittel zur Bekämpfung von Diskriminierung und Gewalt zur Verfügung gestellt werden, andererseits sollen LGBTIQ-Personen insbesondere in den Bereichen Suizidprävention, Sucht und bei Datenerhebungen berücksichtigt werden. So soll der Bundesrat seine Pläne rasch in die Tat umsetzen.
Trans und nicht-binäre Menschen besonders stark von Depressionen betroffen Die Ergebnisse der heute Vergleichsstudie und einer Zusatzstudie sind die Antwort auf das Postulat von SP-Nationalrätin Samira Marti, die 2019 einen vergleichenden Bericht über die Gesundheit von LGB-Personen gefordert hat. Die Antwort auf das Postulat hebt hervor, dass nicht alle in der Schweiz lebenden Menschen die gleichen Gesundheitschancen haben und dass klare Unterschiede zwischen der Situation von heterosexuellen cis Personen und LGBTIQ-Personen bestehen. Letztere leiden beispielsweise deutlich häufiger an Depressionen als die Allgemeinbevölkerung – insbesondere trans und/oder nicht-binäre Menschen sind stark betroffen. Dabei ist zu bedenken, dass es nicht die sexuelle Orientierung oder Geschlechtsidentität an sich sind, die die physische und psychische Gesundheit von LGBTIQ-Personen verschlechtern. Vielmehr sind es die negativen Erfahrungen durch Diskriminierung und Stigmatisierung, die sie in ihrem Umfeld und in der Gesellschaft machen.
Muriel Waeger, Co-Geschäftsleiterin der Lesbenorganisation Schweiz, nimmt zur Antwort des Bundesrates Stellung: «Wir haben seit vielen Jahren darauf gewartet, dass der Bund den Handlungsbedarf erkennt. Die enge Zusammenarbeit mit den LGBTIQ-Organisationen bei der Erarbeitung der Zusatzstudie war entscheidend, um das Ausmass der Probleme zu verstehen. Dies erwarten wir auch bei der Umsetzung konkreter Massnahmen. Die frühere Untätigkeit des Bundes und der meisten Kantone hat dazu geführt, dass nicht-staatliche Organisationen sich selbst darum bemühen mussten, Lücken zu füllen und sich im Gesundheitsbereich zu engagieren.»
So sollten etwa Projekte wie die Erarbeitung von umfassenden Informationen zur sexuellen Gesundheit von Lesben, Bisexuellen und queeren Frauen, die demnächst von der LOS veröffentlicht werden, auch staatlich unterstützt werden. «Dass der Bundesrat nun die Anliegen von LGBTIQ-Personen ernst nimmt und prüfen will, wie ihre Anliegen in der Sucht- oder Suizidprävention berücksichtigt werden sollten, ist ein erster Erfolg.»
Sylvan Berrut von Transgender Network Switzerland (TGNS) begrüsst die Tatsache, dass trans und/oder nicht-binäre Menschen in der von der Hochschule Luzern durchgeführten Zusatzstudie berücksichtigt wurden, wodurch ein erster Überblick über die Gesundheit dieser Bevölkerungsgruppe möglich wurde. «Leider sind die Ergebnisse dieser Untersuchung besorgniserregend und bestätigen, was wir in der Praxis beobachten. So sind trans und/oder nicht-binäre Menschen eine besonders gesundheitsgefährdete Bevölkerungsgruppe und haben grosse Schwierigkeiten, Zugang zu einer angemessenen und respektvollen Gesundheitsversorgung zu erhalten.» Dies betreffe nicht nur Geschlechtsangleichungen und deren Kostenübernahme durch die Krankenkassen, sondern auch die Gesundheitsversorgung im Allgemeinen.»
Fast ein Drittel der trans bzw. nicht-binären Personen berichten, dass sie in den letzten 12 Monaten im Rahmen der Gesundheitsversorgung Diskriminierung oder gar Gewalt erlebt hätten. «Das ist inakzeptabel. Abgesehen davon, dass solche Erfahrungen zu einem Vertrauensverlust gegenüber Gesundheitsfachkräften führen, können sie zu einem Aufschub oder sogar zum Verzicht auf medizinische Versorgung führen, mit all den negativen Folgen, die dies haben kann. Die Ergebnisse bestätigen daher die Notwendigkeit und Dringlichkeit, alle Gesundheitsfachpersonen zu geschlechtlicher Vielfalt zu schulen.»
Roman Heggli, Geschäftsleiter von Pink Cross, erklärt: «Die Themen psychische Gesundheit und erhöhte Suizidalität beschäftigen uns schon seit vielen Jahren. Darum haben wir auch die LGBTIQ-Helpline ins Leben gerufen.» Jetzt, da der Bund den Handlungsbedarf anerkenn, müsse er auch die Organisationen und Projekte unterstützen, die bereits wichtige Arbeit auf diesem Gebiet leisteten.
Florian Vock, Leiter Prävention der Aids-Hilfe Schweiz, ergänzt: «Die Studie bestätigt erneut, dass Männer die Sex mit Männern haben, besonders von HIV und anderen sexuell übertragbaren Infektionen betroffen sind. Deshalb müssen Tests und Beratungen besser finanziert und verfügbar gemacht werden. Die aktuellen Erkenntnisse müssen auch dazu führen, dass sämtliche Angebote in der Gesundheitsförderung, Prävention und Behandlung LGBTIQ-inklusiv gestaltet werden. Sie müssen LGBTIQ-Personen gezielt adressieren und auf ihre Bedürfnisse angepasst sein.”
Angesichts der Ergebnisse wollen die Schweizer LGBTIQ-Dachverbände und die Aids-Hilfe die Bemühungen des Bundes aufmerksam verfolgen. Sie fordern ein starkes, wirksames und schnelles Handeln, das sich mit lokalen und nationalen Organisationen und Akteur*innen koordiniert. Sie verlangen ausserdem, dass ihre Präventionsarbeit und Expertise vom Staat anerkannt und finanziell unterstützt werde.
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