Erica Tremblay: «Ich wollte einvernehmliche queere Sexarbeit zeigen»
«Fancy Dance» heisst das Drama von Erica Tremblay mit der oscarnominierten Lily Gladstone in der Hauptrolle.
Die queere Regisseurin mit indigenen Wurzeln spricht über ihren Werdegang und über die Entwicklung der Hollywood-Industrie, die bis vor zehn Jahren noch behauptete, Native Americans hätten vom Filmemachen keine Ahnung und könnten weder schreiben noch spielen.
Zur Oscar-Gewinnerin wurde Lily Gladstone durch «Killers of the Flower Moon» zwar am Ende nicht, dafür aber weltbekannt. Nun spielt die indigene Amerikanerin die Hauptrolle im Film «Fancy Dance» der queeren Regisseurin Erica Tremblay: als lesbische Jax, die sich mit ihrer Nichte auf die Suche nach ihrer Schwester macht.
Die Filmemacherin Erica Tremblay kam 1980 als Tochter eines weissen Vaters und einer zum Stamm der Seneca-Cayuga gehörenden Mutter zur Welt, wuchs in Missouri auf und begann ihre Filmkarriere zunächst mit dokumentarischen Arbeiten wie «In the Turn» über ein trans Mädchen, das in der queeren Roller-Derby-Community ein Zuhause findet.
Ihr erster Langspielfilm «Fancy Dance» feierte beim Filmfestival in Sundance 2023 seine Weltpremiere und wird nun ab dem 28. Juni weltweit bei AppleTV+ zu sehen sein. Per Video-telefonat sprach ich mit Erica über Sichtbarkeit von Native Americans, Frauen und Queerness in der Filmbranche.
Erica, deine bisherige Arbeit als Regisseurin bestand aus Kurz- und Dokumentarfilmen. Wie kam dir die Idee zu deinem ersten fiktionalen Langfilm «Fancy Dance», in dem vor allem die Beziehung zwischen einem Mädchen und seiner Tante im Zentrum steht? Dank «Little Chief» hatte ich schon für einen fiktionalen Kurzfilm mit Lily Gladstone zusammengearbeitet und wollte unbedingt noch einmal mit ihr drehen. Das war meine erste Motivation, als ich damals anfing, das Projekt «Fancy Dance» zu entwickeln.
Damals lebte ich gerade in einem Reservat und machte einen Sprach-Immersionskurs. Jeden Tag sprach ich acht Stunden lang Cayuga, meine indigene Muttersprache, die eigentlich so gut wie ausgestorben ist. Abends dachte ich darüber nach, wohin mein Weg als Filmemacherin eigentlich gehen sollte, und suchte nach Drehbuchideen. Dabei liess mich diese Sprache nicht los. Und konkrete Worte fingen an, mich zu inspirieren.
Welche denn? In Cayuga lautet das Wort für Mutter «kno:ha». Und das für Tante heisst «kno:ha:ah», was übersetzt eigentlich «kleine Mutter» heisst. Das hat mich enorm berührt, weil es nicht zuletzt viel aussagt über die ursprünglich matriarchalen Strukturen unseres Volkes und unserer Sprache, die durch den Kolonialismus und die Vorherrschaft der Weissen mitsamt ihrem Patriarchat zu weiten Teilen verloren gegangen sind.
Ich wollte unbedingt eine Geschichte erzählen über die Verbundenheit der Frauen, die ich in der Sprache erkannt habe, aber eben übertragen auf die Realitäten der heutigen Zeit. So fand ich schliesslich die beiden Figuren, um die es nun in «Fancy Dance» geht, Jax und ihre Nichte Roki.
Die beiden machen sich auf die Suche nach Jax‘ Schwester und Rokis Mutter Tawi. Die Vielzahl verschwundener und ermordeter Frauen sind traurige Realität für die Community der Native Americans in den USA, doch oft werden ihre Fälle in Film und Fernsehen nur zum Ausgangspunkt für klassische Thriller-Narrative. Wolltest du bewusst gegensteuern? Es ging mir weniger darum, gezielt ein Gegengewicht zu anderen Filmen zu setzen. Aber meine Mit-Autorin Miciana Alise und ich wussten, was wir nicht wollten. Wir zeigen bewusst keine Leiche und gehen auch nie ins Detail bezüglich irgendwelcher Gewalttaten. Wer einen konventionellen Thriller mit solchen Dingen sehen will, muss anderswo fündig werden.
Es war nicht unser Ziel, solche brutalen Realitäten im Alltag moderner Native Americans auszublenden. Aber sie sollten eben nur am Rande eine Rolle spielen, während im Zentrum die Liebe und Lebensfreude dieser beiden Frauen innerhalb ihrer Gemeinschaft stehen, die auch im Angesicht solcher Bedrohungen von aussen bestehen bleiben. Denn Geschichten über diese Faktoren modernen indigenen Lebens werden viel zu selten erzählt.
Ist das der Grund, warum der Film, ohne autobiografisch zu sein, doch viele persönliche Aspekte deiner Biografie in sich birgt? Es ist interessant, dass jedem, der mit mir über «Fancy Dance» spricht, sofort biografische Bezüge auffallen. Vermutlich hat das viel damit zu tun, dass wir Native Americans auf der Leinwand, wenn überhaupt, nur als exemplarische Figuren sehen. Dabei haben Miciana, die ja auch eine Native ist, und ich nur das getan, was andere Filmemacher*innen auch tun, nämlich unsere Figuren individuell mittels unserer eigenen Erfahrungen zum Leben erweckt und sie mit jenen Wahrheiten ausgestattet, die wir selbst kennen.
Wir haben beide selbst keine Kinder, sind aber Tanten, also wussten wir zum Beispiel genau, wie diese Dynamik funktioniert. Ich selbst habe mich mein Leben lang damit auseinandergesetzt, dass ich einen weissen Vater habe, also ist auch das ein Thema, mit dem ich mich bestens auskenne und weshalb ich darüber schreibe. Und dass es hier auch um die Arbeit in einem Stripclub geht, hat natürlich damit zu tun, dass ich selbst mal in einem gearbeitet habe und entsprechend weiss, wovon ich spreche. Es ist so wichtig, dass Figuren und Geschichten authentisch wirken, also warum sollte man nicht Erfahrungen nutzen, die man selbst gemacht hat?
Gleiches gilt auch für die Tatsache, dass die von Lily Gladstone gespielte Jax – genau wie du – eben ganz selbstverständlich queer ist. Genau. Jax ist mehr als nur «Native American». Sie ist ein dreidimensionales menschliches Wesen mit vielen Facetten und eine davon ist eben ihre Queerness. Auch da habe ich selbstverständlich von meinen eigenen Erfahrungen gezehrt, ohne dass ich mir vorgenommen hätte, Jax zu meinem Alter Ego zu machen. Das Wichtigste war für mich ohnehin, ihre Sexualität nicht zu problematisieren.
An der Tatsache, dass sie queer ist, hängen sich hier keine Konflikte auf und ich gebe dem Publikum auch keine Botschaft rund um LGBTIQ-Angelegenheiten mit auf den Weg. Wobei es eine Szene zwischen Jax und der Tänzerin Sapphire im Stripclub gibt, die mir am Herzen liegt. Als queere Frau, die selbst als Sexarbeiterin auf diesem Gebiet tätig gewesen ist, war es mir eine Herzensangelegenheit, nicht nur queere Intimität und Lust zu zeigen, sondern auch einvernehmliche Sexarbeit.
Ist Queerness innerhalb der Native Community akzeptierter als in anderen Teilen der US-amerikanischen Gesellschaft? Puh, das lässt sich so pauschal kaum beantworten. Und wie überall verändert sich das gesellschaftliche Klima diesbezüglich natürlich auch. Allein zu meinen Lebzeiten gibt es unglaubliche Fortschritte in Sachen Akzeptanz und Selbstverständlichkeit zu verzeichnen.
Von Homophobie über Transphobie bis Rassismus gibt es allerdings vieles, was durch den anhaltenden Genozid an unseren Stämmen und die weisse Vorherrschaft auch in unsere Community Einzug hielt. Auch deswegen fällt es mir schwer zu sagen, ob und wie die Thematik bei uns anders verhandelt wird als anderswo. Was ich allerdings mit Sicherheit sagen kann: Ich kenne zum Glück sehr viele queere Natives, die erfüllte, wundervolle Leben führen.
Die wunderbare Lily Gladstone haben wir schon kurz erwähnt. Wann habt ihr beide euch eigentlich kennen gelernt? Entdeckt habe ich Lily, wie es sich für einen Filmfan gehört, im Kino. Ich liebe die Filme der Regisseurin Kelly Reichardt, in deren «Certain Women» sie mitspielte. Davor kannte ich Lily nicht, aber sobald ich in diesem Film ihr Gesicht auf der Leinwand sah, war ich vollkommen begeistert.
Es passiert so unglaublich selten, dass man in einem Film unverhofft jemanden sieht, der erkennbar Native American ist, ohne dass das für die Geschichte eine Rolle spielt. Und dann verkörperte Lily auch noch eine queere Frau. Ich war auf Anhieb verliebt in dieses Gesicht!
Und wie landete sie dann in deinem Kurzfilm? Ich war damals in einem Mentorenprogramm des Sundance Film Institutes und wurde von Sterlin Harjo (Schöpfer der Serie «Reservation Dogs», Anm. d. Red.) betreut. Er fragte mich, wen ich mir für die Hauptrolle meines Films vorstelle. Meine Antwort lautete: Lily Gladstone. Aber natürlich schob ich hinterher, dass das utopisch sei. Doch Sterlin zückte nur sein Telefon, schrieb ihr eine SMS und fragte, ob er mir ihre E-Mail-Adresse geben dürfe. Ich fiel beinahe vom Stuhl!
Tatsächlich konnte ich ihr dann mein Skript schicken – und sie hat sofort zugesagt. Wir waren auf Anhieb auf einer Wellenlänge, als künstlerische Verbündete genauso wie als Freundinnen. Im vergangenen Jahr, nach der Weltpremiere von «Fancy Dance» in Sundance und später der von «Killers of the Flower Moon» in Cannes, mitansehen zu dürfen, wie Lily plötzlich auf der ganzen Welt bekannt und gefeiert wurde, war einfach wundervoll. Ich könnte nicht stolzer auf sie sein.
Apropos «Killers of the Flower Moon»: In ein paar deiner Interviews klang eine gewisse Frustration durch, dass es am Ende doch wieder der Film eines weissen Mannes war, der die Geschichte der Native Americans erfolgreich zum Mainstream-Thema machte. Ich werde ständig danach gefragt, einfach weil «Fancy Dance» im gleichen Jahr seine Premiere hatte, Lily in beiden mitspielt und beide in Oklahoma angesiedelt sind. Aber damit hören die Gemeinsamkeiten auch schon auf, und das ist auch gut so.
Ich durfte an Scorseses Weltpremiere in Cannes teilhaben und war dabei, als Lily in diesem riesigen Saal stehende Ovationen für ihre fantastische Leistung bekam. Das ist es doch, was zählt. Ganz zu schweigen davon, was für eine Ausnahme es ist, überhaupt über zwei verschiedene Filme sprechen zu können, in denen es um Native Americans geht! Gewöhnlicherweise gibt es davon nicht einmal einen pro Jahr!
Sind diese Filme, kombiniert mit Serien wie «Reservation Dogs» und «Dark Winds», an denen du auch mitgearbeitet hast, tatsächlich ein Zeichen dafür, dass sich in Hollywood etwas tut, was die Repräsentation von Native Americans angeht? Die längste Zeit war es sehr leicht, in dieser Branche wirklich zu verzweifeln, weil jemand wie ich nicht unbedingt wusste, ob und wo es überhaupt einen Platz für uns gibt. Plötzlich verspüre ich erstmals einen gewissen Optimismus, dass vielleicht doch ein paar mehr native Filmemacher*innen die Chance bekommen, ihre Geschichten zu erzählen. Selbst wenn mir bewusst ist, dass Veränderung manchmal auch nur ein Trend ist, der wieder vorübergehen kann.
Dass ich mit dabei sein durfte, wie mit dieser wirklich herausragenden Serie «Reservation Dogs» Fernsehgeschichte geschrieben wurde, war in jedem Fall ein einmaliges, ermutigendes Erlebnis. Doch macht es nicht vergessen, dass es noch vor zehn Jahren in der Filmbranche Leute gab, die gesagt haben: Native Americans haben vom Filmemachen keine Ahnung, die können weder schreiben noch spielen. Und zwar nicht hinter verschlossenen Türen, sondern ganz ungehemmt.
Fancy Dance
Ist ein spezieller Tanzstil, der traditionell von nordamerikanischen Ureinwohner*innen, insbesondere von den Plains-Indianerstämmen, praktiziert wird. Der Fancy Dance ist kunstvoll, energiegeladen, schnell, akrobatisch, mit Sprüngen, Drehungen und schneller Fussarbeit. Die Tänzer*innen tragen farbige, aufwändige Kostüme, oft mit Federn, Perlen und anderer Deko verziert. Zu sehen ist der Tanz oft bei Powwows (Tanztreffen indigener Gemeinschaften), traditionellen Versammlungen oder Wettbewerben.
Fühlst du jetzt eine Verantwortung, zur Speerspitze einer neuen Generation zu gehören? Ich bin mir nicht sicher, ob ich das Rüstzeug mitbringe, eine Speerspitze zu sein. Und es ist auch nicht meine Verantwortung, Veränderungen voranzutreiben oder andere zu erziehen. Aber natürlich will ich meinen Teil zu mehr Repräsentation beitragen und hoffe, wir sehen Schritt für Schritt mehr Native Americans nicht nur vor der Kamera, sondern auch dahinter und auch bei Produktionsfirmen und Geldgeber*innen. Denn ich weiss aus eigener Erfahrung, wie wichtig Sichtbarkeit dabei ist, Wege zu bereiten.
Worauf spielst du konkret an? Ich habe schon als Schülerin gespürt, dass Regie führen und das Erzählen von Geschichten etwas für mich ist. Wir haben in der Schule Stücke inszeniert und ich hatte eine kleine VHS-Kamera, mit der ich Filmchen gedreht habe. Aber ich musste – wohlgemerkt in den 1990er-Jahren, als es noch kein Internet gab – 21 Jahre alt werden, um zum ersten Mal bewusst wahrzunehmen, dass auch Frauen ihr Geld als Regisseurinnen verdienen können. Das war, als ich im College den Film «High Art» von Lisa Cholodenko sah.
Bis dahin war mir cooles Indie-Kino nur als etwas untergekommen, das Männer mit Namen wie Quentin Tarantino oder Paul Thomas Anderson machten, nicht lesbische Frauen. Aber Lisas Namen da auf der Leinwand zu sehen, öffnete mir die Augen und liess mein Leben eine neue Richtung nehmen.
Mehr: Die Pet Shop Boys waren lange nicht mehr so gefragt. Ihre Songs laufen in angesagten Filmen, sie touren erfolgreich und haben Ende April ihr Album «nonetheless» veröffentlicht. Wir trafen Neil Tennant (69) und Chris Lowe (64) im Londoner Büro ihrer Plattenfirma und unterhielten uns über alte Autos, Küchentänze und Schlager (MANNSCHAFT+).
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