Bach gegen Ausgrenzung: Queere «Johannespassion» in Leipzig


Thomas Höfts faszinierend stimmiges Requiem gegen Ausgrenzung und Vernichtung

Thomas Höfts faszinierend stimmiges Requiem gegen Ausgrenzung und Vernichtung
(Bild: zVg)

Von den Wiener Festwochen geht die Queer Passion «Seht jene Menschen» am 22. August noch zum Antwerp Queer Arts Festival in die Oper Antwerpen.

Voraufführungen von Johann Sebastian Bachs «Johannespassion» mit Thomas Höfts revolutionärem Text fanden 2022 bei der styriarte Graz und in Köln statt. 

Am 13. Juni erklang das ambitionierte Projekt beim renommierten Leipziger Bachfest in der Paul-Gerhardt-Kirche des Randalequartiers Connewitz.

Auch Leipzig hatte mindestens einen queeren Störfall im Umfeld des Thomanerchors, dessen Mitglieder damals bis zu 23 Jahre alt und damit erwachsen waren. Der Musiker Johann Rosenmüller wurde der «sodomitischen Knabenschänderei» bezichtigt und floh 1655 nach Italien.

Rosenmüllers Schaffen wird derzeit wiederentdeckt – allerdings vom Leipziger Ensemble1684 und nicht von den Nobelstätten der Musikstadt, die zu DDR-Zeiten eher ein queerer Hotspot war als nach 1989.

Queerer Relevanzstau besteht im Opernhaus am Augustusplatz noch immer: Während Benjamin Brittens Opern an vergleichbar grossen Häusern längst in die zweite Produktionsrunde gehen, erlebte dessen Hauptwerk «Peter Grimes» erst 2023 seine Leipziger Erstaufführung, 78 Jahre nach der Uraufführung.

Obwohl in der Stadt die Regenbogenfahnen wehen, schaut es in der Hochkultur und vor allem in der klassischen Musikszene mit queeren Themen dort eher bescheiden aus. Insofern ist es einmal mehr der rührige und kosmopolitisch denkende Bachfest-Intendant Michael Maul, der unter dem Motto «Transformation» bis 22. Juni zeigt, wie in einer von wucherndem Vergangenheitskult dominierten Klassikszene eine substanzreiche Programmgestaltung zur erfolgreichen Erschliessung neuer Kreise führt.

Bei Leipzig denkt man im Zusammenhang mit Kantor Johann Sebastian Bach an die Thomaskirche, in Zusammenhang mit der Friedlichen Revolution durch den Roman von Erich Loest und die TV-Verfilmung an die Nikolaikirche und mit Orchestermusik an das Gewandhaus.

Die historistische Paul-Gerhardt-Kirche, Konzertort der QueerPassion, gehört für Einheimische zu den etablierten Konzertorten – weniger für den Musiktourismus. Deshalb ist die Leipziger Aufführung noch wichtiger als in den beiden anderen Gastspielorten. Der Dramaturg und Textdichter, in seiner Arbeit generell queer-aktive Thomas Höft, ersetzte die Prosa aus dem neutestamentlichen Johannesevangelium und die wahrscheinlich von Christian Friedrich Henrici (Picander) für die Johannespassion des Leipziger Musikgottes Bach gedichteten Reflexionen durch einen neuen Text.

Anstelle des «Ecce homo!», mit dem der römische Landpfleger Pontius Pilatus den gemarterten Jesus der Jerusalemer Volksmenge vorführt, steht bei Höft: «Das Attentat war Schwulenmord.» Beispiele aus der langen Verfolgungsgeschichte queerer Menschen in vier Akte gegliedert: Das Attentat in der schwulen Tanzbar von Orlando 2016, die Utrechter ‹Sodomiten-Prozesse› und Misshandlungen 1730, die Hinrichtung der trans Person Anastasius Rosenstengel in Halberstadt 1721.

Höft endet mit einem Nekrolog für die Opfer antiqueerer Gewalt und dem Ausblick bis zum staatlich sanktionierten Mord in Tschetschenien, Mexiko und Russland. «Es ist vollbracht!», das Jesus-Wort vor dessen Kreuztod, wurde zum faktisch untermauerten «Nichts ist vollbracht.» Am Ende Ergriffenheit und langer Beifall.

Thomaskantor Bach hatte selbst bei seinen Kompositionen geistliche und weltliche Texte ausgetauscht und war keineswegs zimperlich bei Mehrfachverwertungen eigener und fremder Tonschöpfungen.

Insofern ist Höfts «Seht jene Menschen» konzeptionell legitim und dabei revolutionär. Denn in einigen christlichen Gruppen wird bis heute skandalisiert, wenn Randgruppen institutionelle Teilhabe am für ALLE Menschen gedachten Friedens-, Toleranz- und Liebespostulat des Neuen Testaments beanspruchen. Seit dem Skandal um Terrence McNallys die Jesusgeschichten in eine schwule Gruppe versetzenden Schauspiel «Corpus Christi» trat ein partieller Wandel ein.

So kommt es bei den Erler Passionsspielen 2025 zu einer körperlichen Umarmung zwischen Jesus und dem Apostel Johannes ohne Definition, ob diese erotisch, freundschaftlich oder solidarisch gemeint sei. Höfts queere Erweiterung der Passion, welche statt der Passion Jesu die lebensbedrohliche Leidens- und Strafgeschichte von nicht heteronormativen Menschen thematisiert, setzt waghalsig wie konsequent den Anspruch des leidenden Jesus als Vertreter und Retter der gepeinigten Menschheit um.

Zum Konzept der QueerPassion gehört das Zusammenwerfen von queeren Laienchören mit dem Fachensemble Ārt House 17. Zur Leipziger Vorstellung wirken mit Fräulein A.Kapella und der schwule Chor Die Tollkirschen mit Freunden, beide einstudiert von Conny Schäfer. Künstlerisches Ziel war ein «diverser» Klang, weg von den disziplinierten Einstudierungen professioneller Vokalensembles hin zu grösstmöglicher persönlicher Motivation mit bestmöglicher Ausführung.

Packend schon der Beginn: Michael Hell als Dirigent und Cembalist fordert zu fast atonal klingenden Schärfen heraus. Wie eine frisch geschliffene Sense schneidet die Flöte in den Eingangschor «Seht jene Menschen». Als sinnfällige Lösung erweist sich das von Bach nicht vorgesehene Akkordeon, welches den sensorischen Kitt zwischen Rezitativbegleitung und dem Instrumentalensemble bildet. Das erinnert daran, dass mit ähnlicher Sinnsetzung Hans Werner Henze in seiner Bearbeitung von Monteverdis «Ulisse» Banjos einsetzte.

Die meisten Konsequenzen hatte Höfts neuer Text natürlich für die Partie des hier Erzähler genannten Evangelisten in dessen langen Rezitativen zu den Evangelientexten. Markus Schäfer gestaltet das mit einer Eindringlichkeit und Selbstverständlichkeit, als sei ihm diese Fassung bereits seit vielen Jahren in Geist und Kehle. Die früheren Jesus-Worte und den sonst meist separierten Bass-/Bariton-Part übernimmt der Musiktheater-Souverän Dietrich Henschel, die charismatisch-hochemotionale Susanne Elmark den Sopran und Yousemeh Adjei mit bemerkenswerter Fülle den Altus, Julian Habermann den zweiten Tenor. Dieses Soloquartett singt auch einige komplizierte Chorstellen.

Vor dem zweiten Teil referierte der Schauspieler Matthias Freihoff und Mitwirkender des legendären, zu Ende der DDR entstandenen Films «Coming Out» einen kurzen Abriss zur Strafbarkeit von Homosexualität und homophoben Druckmitteln in der DDR. Unter dem Kruzifix besteht bis zum Schlusschor zerreissend gespannte Aufmerksamkeit. Vor allem erfreut, dass neben Szenepublikum viele Besucher*innen aus der Gruppe des eher konservativen Gewandhauspublikums zu sehen waren. Es scheint so, als habe Höfts Adaption eine schon breitere Lobby – ohne knallbunte Bewerbung der mit EU-Fördermitteln ermöglichte Produktion. Deren Relevanz wird durch aktuelle Entwicklungen in den USA und deren potentielle Auswirkungen auf Europa momentan noch höher. Von: Roland H. Dippel

Das Schwuz ist seit fast 50 Jahren einer der bekanntesten Clubs in der queeren Szene, nicht nur in Berlin. Doch der Laden muss sich an die verändernde Ausgeh-Kultur anpassen. Ein Drittel der Belegschaft wurde entlassen. Ein Mitarbeiter spricht über die schlechte Stimmung (MANNSCHAFT berichtete).

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