Doppelmoral und Doppeldeutiges: Das «S» in ESC steht für Skandale

Der Kommentar*

esc malta
Aus dem Video zu Maltas ESC-Song «Serving» (Bild: Youtube/Screenshot)

Der Eurovision Song Contest findet in zwei Monaten in Basel statt, und schon gibt es die ersten Skandale. Oder das, was daraus gemacht wird. Für unseren Autor gehört das zum Spektakel dazu.

Was wäre der ESC ohne seine alljährlichen Skandale und Aufreger? In jedem Falle wohl nur halb so unterhaltsam. Die Aufreger-Themen sind dabei so vielfältig wie der Musikwettbewerb selbst und obwohl es bis zum grossen Finale in Basel am 17. Mai noch gut zwei Monate sind, gibt es schon jetzt einige Meldungen rund um den Eurovision Song Contest, die für allgemeine Erregung sorgen.

ARCHIV - 16.12.2024, Schweiz, Basel: Eine Fahne mit dem offiziellen Design des Eurovision Song Contest (ESC) 2025 hängt in einem Club in Basel.
(Bild: Philipp von Ditfurth/dpa)

Gleich nach dem letztjährigen ESC stand aus evangelikalen Kreisen der Vorwurf im Raum, der Wettbewerb leiste Satanisten und Okkultisten Vorschub. Die düsteren Beiträge aus Irland, Slowenien oder Serbien hatten den Mitgliedern der Schweizer Kleinpartei EDU wohl so gar nicht zugesagt. Zudem betrachteten die Parteivertreter*innen den ESC als Propagandaplattform für homosexuelle und nicht-binäre Menschen und befürchteten eine politisch aufgeladene Stimmung. Doch die daraufhin durchgeführte Volkabstimmung zeigte, dass rund zwei Drittel der Basler*innen hinter dem Wettbewerb stehen. Die richtige Entscheidung, denn die Austragung des ESC kostet zwar einiges, wird der Stadt Basel aber auch viel Geld wieder einspielen (in Liverpool waren es rund 62 Millionen Euro).

Auch Lumo, das offizielle Maskottchen des diesjährigen Eurovision Song Contest, sorgte schnell für reichlich Unmut im Netz. Das behaarte Herz mit Schmollmund und Kulleraugen wurde von einer Studentin der der Hochschule für Gestaltung und Kunst Basel entworfen und erinnerte die Internetnutzer*innen mit seiner orangen Hautfarbe und der fragwürdigen Frisur an eine Karikatur des US-Präsidenten Donald Trump. Und auch wenn ich selbst ein Herz für trashige Maskottchen habe (erinnert sich noch jemand an Goleo, den WM-Löwen ohne Hose?), braucht man dieses wenig herzige, dafür aber sehr behaarte Kerlchen wohl wirklich nicht.

Wie immer machen auch gleich mehrere Teilnehmer*innen des Wettbewerbs mit vermeintlich kontroversen Beiträgen auf sich aufmerksam. Die kalkulierte Provokation ist seit vielen Jahren fester Bestandteil des ESC, der sich wenig verwunderlich seit den Anfangsjahren stark gewandelt hat. Zumeist sind es besonders humorvoll übertriebene und alberne Beiträge (wie Stefan Raabs «Wadde hadde dudde da» oder Verka Serduchkas «Dancing Lasha Tumbai») oder aber solche aus der Kategorie «Sex sells» (die Beispiele sind zahllos), die im Vorfeld rege diskutiert werden und darum in Erinnerung bleiben. Eine legitime Taktik, die allerdings nicht automatisch zum Sieg führt.

Zu den diesjährigen Quatsch-Beiträgen, die im Ohr bleiben, gehört etwa der Song «Espresso Macchiato» des estländischen Rappers Tommy Cash. Der singt nicht nur in schlechtem Italienisch, sondern bedient sich in seinem Beitrag auch unzähliger Italien-Klischees. Damit hat er sogleich den Vizepräsidenten des italienischen Senats auf den Plan gerufen, der sich hochgradig empört zeigte. Viel Lärm um nichts? Ich denke schon. Der Song ist in seiner Überspitztheit eindeutig als Satire erkennbar und die Italiener täten gut daran, zum Lachen nicht in den Keller zu gehen. Aber vielleicht ist Satire ja wirklich tot? Der Abgeordnete der Rechtspartei Lega forderte immerhin gleich den Ausschluss Estlands vom Wettbewerb (MANNSCHAFT berichtete). Das zeugt von echter Doppelmoral, wo sich die Partei doch ansonsten stets über die sogenannte Cancel Culture echauffiert.

Cash hat sich mittlerweile in Italien entschuldigt. «Ich wollte niemanden mit meinem Lied beleidigen. Ich liebe Italien», versicherte der 33-Jährige im Fernsehsender Rai2.

Während der Este also auf Italienisch rappt, singt die Finnin Erika Vikman in ihrem Beitrag auf Deutsch. «Ich komme» heisst der Titel (MANNSCHAFT berichtete), der nicht zuletzt in Kombination mit dem Nachnamen der Sängerin auch bei mir für präpubertäres Schmunzeln sorgt. Mit ihrem bewusst doppeldeutigen Track, den Vikman in Ledermontur zum Besten gibt, wolle sie vor allem die weibliche Lust enttabuisieren. Das nehme ich ihr zwar nur bedingt ab, der Song macht aber durchaus gute Laune. «Provokation rules» liest man denn auch auf der offiziellen ESC-Seite über den Beitrag. Die Finnin war im Vorentscheid nachgerückt, nachdem die eigentlichen Sieger, die Metalcore-Band One Morning Left, zurückgetreten waren. Die Band gab ihre Auflösung bekannt, weil gegen den Leadsänger wegen sexueller Belästigung von Minderjährigen ermittelt wird. Ausnahmsweise also ein wirklicher Skandal rund um den Song Contest!

«Die EBU sagt, das sei ihr alles etwas zu sexy. Sie wollen, dass ich meinen Arsch bedecke.»

Erika Vikman

Vikman hat mit ihrem freizügigen Bühnenauftritt ebenfalls Wirbel ausgelöst. «Es geht nicht nur um irgendeine Sache, es geht um alles: mein Outfit, der Inhalt des Songs, wie ich mich auf der Bühne bewege», zitierten finnische Medien die 32-jährige Blondine. «Die EBU sagt, das sei ihr alles etwas zu sexy. Sie wollen, dass ich meinen Arsch bedecke.»

Doppeldeutig geht es nicht nur in Finnland zu, sondern auch in Malta. «Kant» heisst der Titel der maltesischen Sängerin Miriana Conte, was in der Landessprache nichts anderes als «Gesang» bedeutet, sich gesprochen aber wie die unflätige englische Bezeichnung für das weibliche Geschlechtsteil anhört. Zu viel für die BBC, die als Teil der Europäischen Rundfunkunion nun Beschwerde eingelegt hat. Das Ergebnis: Malta musste den Beitrag ändern. Er heisst jetzt nur noch «Serving».

Dabei gehören Doppeldeutigkeiten und sexuelle Anspielungen seit jeher zum ESC und warum ausgerechnet die Maltesin nun schlimmer sein soll als Erika Vikman aus Finnland, die während ihrer Darbietung übrigens auf einem phallusähnlichen Mikrofonständer reitet, erschließt sich mir nicht. Hier wird mit zweierlei Mass gemessen. Maltas Kulturminister spricht völlig zurecht von «künstlerischer Zensur». In der queeren Ballroom-Kultur, wo der Ausdruck «Serving Cunt» seinen Ursprung hat, und für die Fähigkeit eines Teilnehmenden steht, besonders weiblich aufzutreten, ist der Begriff übrigens durchaus positiv konnotiert. Ich hoffe jedenfalls, dass der Eurovision Song Contest nicht allzu viel von seiner Leichtigkeit einbüsst und die Verantwortlichen hin und wieder mal ein Auge zudrücken.

Das «S» in ESC steht also auch weiterhin für Skandal, wobei sich die meisten Skandale bei genauerem Hinsehen doch eher als Skandälchen entpuppen. Missen will ich sie aber nicht. Steigern die Kontroversen doch nur meine ohnehin grosse Vorfreude auf Europas buntestes Musikspektakel.

*Die Meinung der Autor*innen von Kolumnen, Kommentaren oder Gastbeiträgen spiegelt nicht zwangsläufig die Meinung der Redaktion wider.

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