Der Junge ohne Penis – «Boy» feiert Deutsch­land­premiere

Ein packender Theaterabend, meint unser Rezensent

© Stef Stessel
© Stef Stessel

Bei den Ruhrfestspielen Recklinghausen feierte «Boy» der belgischen Autorin und Regisseurin Carly Wijs Deutschlandpremiere. In ihrem Stück erzählt sie die tragische Geschichte des Zwillingspaars Brian und Bruce Reimer, die Teil eines medizinischen Gender-Experiments wurden.

Der neuseeländische Arzt John Money, der seinen Doktor an der Harvard-Universität erwarb und an der Johns-Hopkins-Universität arbeitete, galt vor über 50 Jahren als Pionier der Geschlechterforschung. Er ging von der Grundannahme aus, ein Mensch besitze keine von Geburt an festgelegten geschlechterspezifischen Verhaltensweisen. Das biologische Geschlecht (Sex) habe mit dem sozialen Geschlecht (Gender) nichts zu tun. Stattdessen manifestiere sich letzteres erst in der späteren Kindheitsentwicklung und sei vorher beliebig veränderbar.

Als sich Familie Reimer 1966 voller Verzweiflung an den Arzt wendet, weil einer ihrer beiden Zwillinge von einem gravierenden medizinischen Behandlungsfehler betroffen ist, bietet sich für Money die einmalige Gelegenheit, seine Theorie durch ein Zwillingsexperiment zu verifizieren. Ein folgenschwerer Eingriff in das Leben eines Kindes, der beide Zwillingsbrüder bis in den Tod verfolgen wird.

Die belgische Autorin und Regisseurin Carly Wijs hat sich der wahren Geschichte der Zwillingsbrüder Brian und Bruce angenommen. In ihrem Theaterstück «Boy» rückt sie die Suche nach der eigenen Identität ins Zentrum und erzählt sie aus der Perspektive der Eltern. Die Produktion tourte bereits durch Schweden und Belgien und ist nun bei den Ruhrfestspielen Recklinghausen zu sehen. Deutschlandpremiere war am 24. Mai.

Schauspielerin Vanja Maria Godée als Janet Reimer © Stef Stessel
Schauspielerin Vanja Maria Godée als Janet Reimer © Stef Stessel

Was muss bloss in den Eltern vorgegangen sein? Sie sind ein durchschnittliches Hetero-Ehepaar aus den USA – er ist LKW-Fahrer und arbeitet nebenbei in einem Schlachthof, sie ist Hausfrau und Mutter. Beide sind in einer mennonitischen Gemeinde aufgewachsen, haben sich aber von ihrer Herkunft emanzipieren können und sind jung Eltern geworden. Als das Paar ihre Söhne im Säuglingsalter zur Beschneidung ins Krankenhaus bringt, geht der chirurgische Eingriff bei Baby Bruce schief, wodurch dieser seinen Penis verliert.

Da eine (Re-)Konstruktion des Penis nicht möglich ist – die plastische Chirurgie war damals noch nicht so weit ist –, suchen die beiden händeringend nach einer medizinischen Lösung. Abends auf dem Sofa werden sie dann durch einen Fernsehbeitrag auf Dr. Money aufmerksam. Dieser rät den Eltern schliesslich, ihr Kind als Mädchen aufwachsen zu lassen. Alles, was es dafür bräuchte, seien, neben einer geschlechtsverändernden Operation, Kleider und ab der Pubertät Hormone – und schon wird aus Bruce Brenda. Obwohl sie die Wahrheit nicht kennt, spürt Brenda schon in jungen Jahren, dass etwas nicht stimmt. Erst im Teenager-Alter erfährt sie die Wahrheit.

Die beiden Schauspieler*innen Vanja Maria Godée und Jeroen Van der Ven verkörpern ebenjenes Elternpaar und erzählen die tragische Geschichte über zwei junge Eltern, die sich in einer absoluten Ausnahmesituation befinden, in der sie wegweisende Entscheidungen treffen müssen, der sie aber weder intellektuell noch altersmässig gewachsen sind. Dies wird vor allem durch ihre naive und verspielte Darstellung deutlich, wie etwa durch den zentralen künstlerischen Zugriff, die Geschehnisse mit einer Vielzahl von Stofftieren zu rekonstruieren. Diese lebendige Spielweise voller Leichtigkeit und Humor schafft die ideale Fallhöhe, um die Tragik und Absurdität der Ereignisse herauszuschälen und greifbar zu machen.

«Boy» © Stef Stessel
«Boy» © Stef Stessel

Dabei begleitet die Inszenierung zwar die aktuellen Debatten um das Thema Geschlechtsidentität, ergreift gleichzeitig aber für keine Seite Partei. Sie entzieht sich jeglicher Haltungs- und Wertungsfrage und vertraut indes ganz auf die Kraft des Erzählens. Und trotzdem wirkt die sehr binäre Denkweise der Protagonist*innen aus heutiger Perspektive beinahe antiquarisch. Das Stück verweigert sich einer moralischen Botschaft und seziert stattdessen die Gefühlszustände der Figuren. Gerade das macht die Inszenierung dabei aber auch angreifbar, weil sie grundsätzlich von allen Positionen – auch solchen, die gegen Geschlechtervielfalt und für ein binäres Geschlechterverständnis argumentieren – vereinnahmt und für diesen Standpunkt angeführt werden könnte. Ein schmaler Grat, der die Verantwortung ganz auf den oder die Zuschauer*in übertragt.

Durch die Heranführung an das Thema mit viel Sensibilität und Feingefühl entsteht so ein packender Theaterabend, der den Fokus auf die Akteur*innen legt und ganz auf die Tragik dieses Familiendramas vertraut.

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