Chatverläufe posten: Neue Form der Selbstdarstellung?
Ist Schlagfertigkeit sexy?
Was treibt uns dazu, Screenshots von unseren Chatverläufen in den Sozialen Medien zu teilen? Unser Autor wagt in seinem Kommentar* einige Vermutungen.
Ist es nur ein Trend oder ist es schon normal? Immer wieder sehe ich auf Instagram und Twitter, dass User ihre privaten Chatverläufe von Dating-Apps veröffentlichen. Es sind Screenshots, die hundertfach retweetet, kommentiert und geliked werden.
Die meisten sind von Grindr, manche von Romeo. Zu lesen sind darin die absurdesten Chats, die Einblick in den Charme des Onlinedating geben. Warum aber postet man sowas? Zur Unterhaltung? Um den Untergang des respektvollen Umgangs zu beklagen? Auf eine blöde Nachricht könnte man auch einfach nichts antworten.
Ich glaube: In den letzten Jahren ist das Posten von Chatverläufen zu einer neuen Möglichkeit der Selbstdarstellung geworden. Man nimmt sich Zeit für eine dysfunktionale Unterhaltung, weil man längst weiss: Dieser Chat wird veröffentlicht! Und jetzt geht’s ums Image. Das heisst: Ich reagiere auf die dümmsten Nachrichten nicht beleidigt, aggressiv oder wütend, sondern gewitzt, schlagfertig oder gelassen. Dann noch schnell einen Screenshot machen und posten.
Es wäre doch schade um den schönen Schlagabtausch! Man tut zwar so, als würde man damit seinen Followern zeigen wollen, welche Absurditäten der andere von sich gibt – in Wirklichkeit geht es aber darum, sich selbst zu präsentieren: Sieh her, wie ich reagiert habe!
Wer liest nicht gerne: «So schlagfertig wie du wäre ich auch gerne!»
Vor dem Posten wird der Screenshot natürlich kommentiert. Schliesslich muss man ja seine Meinung und Haltung zu der missglückten Konversation kundtun. Die Top 3 der beliebtesten Reaktionen: 1. Beschweren («Nur Idioten auf Grindr!»), 2. Sich sorgen («Da sollte jemand dringend eine Therapie machen.») und 3. Ironisieren («Genau dafür liebe ich Grindr!»).
Manchmal habe ich das Gefühl, dass manche beim Onlinedating fast schon danach Ausschau halten, welcher Chat das Potenzial haben könnte, veröffentlicht zu werden. Damit nicht alles umsonst war. Denn wer liest nicht gerne: «Ich bewundere dich, wie gelassen du reagiert hast!» oder «So schlagfertig wie du wäre ich auch gerne!».
Könnte das alles nicht auch eine subtile Form der Partnersuche sein? Quasi eine Partnersuche innerhalb der Partnersuche? Ein geposteter Screenshot bedeutet ja: Ich bin auf den Apps unterwegs. Ich bin zu haben. Gleichzeitig deutet man aber auch auf den anderen und sagt: Aber so bin ich nicht! Mit mir hat man nur die hochwertigsten Konversationen. Ich weiss, was sich gehört. Ich vergreife mich nie um drei Uhr nachts im Ton. Denn: I’m a catch!
In solchen Momenten muss der Begriff der Konsenskultur einen Schritt zur Seite machen: Gefragt wird der andere nämlich nicht, ob er seine Nachrichten veröffentlicht sehen möchte. «Er bekommt das sowieso nicht mit.» Viel wichtiger ist es, den Moment zu nutzen, um sich selbst ins beste Licht zu rücken. Als Retter der Kommunikationskultur, der einen intimen Einblick in sein Privatleben gibt, der nie für die Öffentlichkeit bestimmt gewesen wäre. Eine noble Geste!
Sicherlich: Oft werden diese Chats aus Frustration gepostet. Das Dating-Business ist nichts für schwache Nerven. Ist das Posten vielleicht so etwas wie eine Genugtuung? Eine Revanche? Was steckt wirklich dahinter? Die Antwort darauf könnte ein altes Sprichwort liefern, das in diesem Zusammenhang ein Comeback feiert und plötzlich ganz modern klingt: Geteiltes Leid ist halbes Leid.
*Jeden Samstag veröffentlichen wir auf MANNSCHAFT.com einen Kommentar oder eine Glosse zu einem aktuellen Thema, das die LGBTIQ-Community bewegt. Die Meinung der Autor*innen spiegelt nicht zwangsläufig die Meinung der Redaktion wider.
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