Braucht es noch Lobby-Organisationen für LGBTIQ?
Am Wochenende findet in Köln der 35. LSVD Verbandstag statt. Nach 3 Jahren Corona-Pandemie wieder als Präsenzveranstaltung. Zur Notwendigkeit einer Organisation wie dem LSVD: der Kommentar* eines ehemaligen Bundesvorstandsmitglieds.
Grundsätzlich kann man die Frage stellen: Hat sich nach all den rechtlichen und gesellschaftlichen Fortschritten der letzten 20 Jahre die Lobbyarbeit für die Rechte von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, von trans und inter Menschen nicht selbst überflüssig gemacht? Aus meiner Sicht kann diese Frage nur mit einem klaren Nein beantwortet werden und ich will das auch begründen.
Seit 1994 wurde viel erreicht. Ich wähle dieses Datum als Ausgangspunkt, weil in diesem Jahr nach 123 Jahren der Schandparagraph 175 aus dem Strafgesetzbuch der Bundesrepublik Deutschland ersatzlos gestrichen wurde. Ein erster hart erkämpfter Erfolg, der bei weitem kein Selbstläufer im Rahmen der Wiedervereinigung war. Und gleichzeitig ein Aufbruchssignal und Startpunkt. Erst mit der Entkriminalisierung der Homosexualität in Deutschland konnte eine effektive und freie politische Lobbyarbeit für die Emanzipation der Community beginnen.
Allerdings war es zuerst weiterhin ein Kampf gegen Windmühlen, beziehungsweise gegen die verkrusteten, bigotten und konservativen Mehrheiten im Deutschen Bundestag. Erst mit dem Ende der Kohl-Ära, die geprägt war vom geistig- moralischen Rückwärtssalto für die Gesellschaft, ging es voran.
Indem die Grünen/Bündnis’90 erstmals auf Bundesebene Regierungsverantwortung mit übernommen haben, hatten auch nicht-heteronormative Minderheiten eine politische Gestaltungsmöglichkeit. Gegen den erbitterten Widerstand der Unionsparteien, der christlichen Kirchen, Teilen der konservativen Medien und selbsternannten Wertewahrer und der oft fehlenden Unterstützung einer noch unentschlossenen SPD als Koalitionspartner, konnte mit dem Lebenspartnerschaftsgesetz ein erster grosser Erfolg erzielt werden. Auch wenn es nicht mehr in der rot-Grünen Regierungszeit verabschiedet wurde, kann das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz von 2006 trotzdem dieser Regierungskoalition zugerechnet werden. Was folgte war eine lange Zeit der kleinen Fortschritte welche die Lebenspartnerschaft nach und nach an die Ehe anglich und sie ihr 2017 endlich gleichstellte. Die Rehabilitierung und Entschädigung der Opfer des Paragraphen 175 in der BRD, die Einführung des dritten Geschlechts im Personenstandsrecht, zählen ohne Frage zu weiteren wichtigen Meilenstein.
Um kein Missverständnis aufkommen zu lassen: All diese Erfolge sind das Ergebnis der Arbeit und des Engagements vieler (!) Community Organisationen und Einzelpersonen und nicht allein des LSVD. Aber mit Fug und Recht kann der Verband im Rückblick sagen, einen massgeblichen Anteil daran gehabt zu haben und dass es fraglich ist, ob es ohne ihn nicht wesentlich länger gedauert hätte.
Gerade die Zusammenarbeit mit den politischen Parteien, die von manchen mehr als kritisch angesehen wurde, war aber notwendig, um dorthin zu gelangen, wo wir heute sind. Und die Penetranz, mit der die Ziele, trotz vieler Rückschläge, verfolgt wurde, hat am Ende den gewünschten Erfolg gebracht.
Das nicht immer schmeichelhaft gemeinte Prädikat für den LSVD, als dem „ADAC der Community“ (ich zahle meine Mitgliedsbeiträge, und die machen das schon), hat auch dazu geführt, dass sich die Akteur*innen des Verbandes fragten, ob sich nicht mit der Einführung der Ehe für alle der Verbandszweck und die Bedeutung des Verbandes erfüllt hat? Würde der LSVD zu einer Organisation werden, die bis auf eine Wächterfunktion eigentlich überflüssig ist? Diese Überlegungen waren schon deshalb falsch, weil mit der Ehe für alle zwar ein wichtiger Meilenstein für Lesben und Schwule erreicht wurde, aber mit der Erledigung dieser Dauerbaustelle endlich nur Kräfte und Ressourcen freigesetzt wurden, um intensiver für die Rechte der anderen Teile der Community zu kämpfen.
Auch 5 Jahre später, im zweiten Jahr der Ampelkoalition, die im Koalitionsvertrag einen „querpolitischen Aufbruch“ versprochen hat, gibt es immer noch kein neues Abstammungsrecht und ist die Selbstbestimmung für trans Menschen immer noch nicht gesetzlich geregelt. Die Zahlen homophober und transfeindlicher Gewalttaten steigen. National und international sind politische, gesellschaftliche und kirchliche Kräfte damit beschäftigt, das Rad der Geschichte zurückzudrehen.
Es bleibt also einerseits die Aufgabe das Unvollendete zu vollenden und gleichzeitig das Erreichte abzusichern und den Rückschritt abzuwehren. Das Ziel bleibt: ein freies und selbstbestimmtes Leben für alle. Nicht nur für die Heterosexuellen, nicht nur für die Lesben und Schwulen, sondern natürlich und dringender, denn je auch für trans und inter Menschen. Die Erfüllung dieses Ziels wird nicht vom Himmel fallen. Gerade in Zeiten gesellschaftlicher Polarisierung muss die Community sich ihre politische Schlagkraft erhalten oder sie sogar erhöhen.
Die letzten zwei Jahre haben gezeigt, dass auch eine der Community und ihren Anliegen aufgeschlossen gegenüber stehende Politik weiterhin den Druck und die stetigen Forderungen aus der Community benötigen. Und letztendlich definiert sich ein freies und selbstbestimmtes Leben eben in der Selbstbestimmung und nicht Fremdbestimmung durch andere, auch wenn die es vermeintlich gut meinen. Das erfordert aber eigene Stimmen, Anregungen und Forderungen aus der Community. Und die lebhafte und kritische Begleitung bei der Erfüllung der Forderungen. Und so wie die Umstände sich geändert haben in denen wir heute als queere Menschen leben so hat sich auch die Community selbst geändert. Sie ist selbst diverser und vielstimmiger geworden.
Es hat sich ein breiteres Netzwerk von Organisationen gebildet. Dieses Netzwerk kann aber nur stark agieren, wenn die Zusammenarbeit im Netzwerk gelingt. Die Gegner und Feinde einer diversen und freien Gesellschaft sind gut vernetzt und gefährlich. Als Counterpart erfordert das aber eine Community, die sich bei aller Vielstimmigkeit immer bewusst ist, wer der tatsächliche Gegner ist und sich nicht durch interne Streitigkeiten selbst schwächt.
Auch dabei kann und sollte der LSVD in Zukunft mithelfen. Aber das erfordert für einen Verband, der über 30 Jahre gewachsen ist, sich selbst zu verändern und zu erneuern, um auf der Höhe der Zeit zu bleiben und nicht zu einem Relikt zu werden. Insofern ist es ein gutes Zeichen, dass sich das Schwerpunktthema des Verbandstages um die Vielfalt im Verband und seiner Erneuerung dreht. Gewissermassen als fit werden für die Zukunft. Wer für Diversität kämpfen will, muss selbst divers sein. Das wird auf allen Ebenen des Verbandes Veränderungen notwendig machen.
Die Erkenntnisse über die Notwendigkeit von Veränderungen ist immer ein guter Anfang für die Veränderungen selbst. Solche Prozesse sind nie schmerzlos und bedürfen auch der strittigen Diskussion, um richtige Wege zu finden, die schlussendlich zu einem guten Ergebnis führen. Am Ende der Selbstreflexion und Neuausrichtung sollte ein LSVD stehen, der weiterhin seine Aufgabe als wichtige Community Organisation wahrnimmt und dazu beiträgt die Emanzipation der LGBTIQ Community zu beenden. Die Zukunft wird zeigen, wie gut dieser Prozess gelingt.
*Jeden Samstag veröffentlichen wir auf MANNSCHAFT.com einen Kommentar zu einem aktuellen Thema, das die LGBTIQ-Community bewegt. Die Meinung der Autor*innen spiegelt nicht zwangsläufig die Meinung der Redaktion wider.
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