Bist du schwul? «I am very gay» oder gar «super gay»

Die wandelnde Dynamik einer einst belastenden Frage

Art Bezrukavenko (Bild: Tiktok @artbezrukavenko)
Art Bezrukavenko (Bild: Tiktok @artbezrukavenko)

Beim Scrollen durch Tiktok stösst unser Kolumnist* immer wieder auf die Strasseninterviews von Art Bezrukavenko. Er fragt schwule Männer, ob sie Single oder vergeben sind oder welche sexuellen Vorlieben sie haben.

Zu Beginn stellt er aber jedem dieselbe Frage. Nämlich: «Are you gay?» Eine interessante Frage! Vor allem dann, wenn er schwule Männer auf der Pride interviewt, wo die Antwort keine Überraschung ist. Ich glaube, ich habe die Frage lange unterschätzt. Sie ist nämlich raffinierter, als man glaubt. Man muss nur einen Blick auf die Antworten werfen. Ziemlich häufig lauten sie: «I am very gay» oder «I am super gay».

@artbezrukavenkoThere is so much going on in this video 😅🤭♬ original sound – Art Bezrukavenko

Auf den ersten Blick wirkt die Antwort «I am very gay» selbstbewusst. Auch auf mich. Aber ist sie das? Warum antworten viele nicht einfach mit «Yes»? Wäre ein einfaches «Ja» zu wenig fancy? Oder liegt es daran, dass einem diese Frage schon oft gestellt wurde – von anderen, aber auch von einem selbst – und man gerne mit «Nein» geantwortet hätte?

Weil man es zu dieser Zeit nicht wahrhaben wollte, dass die Antwort «Ja» lautet? Oder liegt es daran, dass diese Frage einen inneren Alarm auslöst und in der ehrlichen Beantwortung eine drohende Konsequenz lauern könnte? Bist du etwa schwul?

Für schwule Männer war – und vermutlich sogar ist – die Frage «Bist du schwul?» oft mit Diskriminierung und Abwertung verbunden. Es ist eine Frage, die man fast nur als Beleidigung kennt. Eine aggressive Frage, die man beim Smalltalk eigentlich nicht stellt.

Man muss sich nur vorstellen: In einer Fernsehsendung lautet die erste Frage an den Gast «Sind Sie schwul?». Mit ziemlicher Sicherheit würden das viele als Herausforderung, Fangfrage oder Beleidigung empfinden. Es ist eine Frage, die einen an die Wand stellt und inneren Rückzug auslöst.

Das Spannende: In den Tiktoks ist das alles aber nicht der Fall. Hier wird diese Frage plötzlich zu etwas Positivem. Man erlebt vielleicht zum ersten Mal, dass einem diese Frage mit einer wohlwollenden Haltung gestellt wird. Dass dahinter keine Falle lauert. Dass man ehrlich antworten kann und nichts Schlimmes passiert, weil man in der Art, wie die Frage gestellt wird, die schwierige Vergangenheit der Frage nicht mehr spürt.

@artbezrukavenkoCan you spot a red flags?♬ original sound – Art Bezrukavenko

Zusätzlich ist «Are you gay?» eine Sehnsuchtsfrage. Wie oft hat man diese Frage gedacht, aber nie ausgesprochen, wenn man jemanden auf der Strasse gesehen hat, um sich vielleicht zu «connecten», aber es aus Angst nicht getan hat. Man hätte gerne gefragt, aber es war zu riskant.

I am very gay

Natürlich – wenn ein schwuler Tiktok-Star sein Mikro auf einen richtet, ist die Wahrscheinlichkeit gering, dass bei dieser Frage eine Gefahr droht. Und mit der Antwort «I am very gay» präsentiert man sich auch den anderen als maximal entspannt mit seiner Identität als schwuler Mann, auch wenn man es vielleicht nicht ganz ist.

Trotzdem gelingt es Art Bezrukavenko, der Frage «Are you gay?» ihren Schrecken zu nehmen und seine Interviewpartner zu ermutigen – vielleicht zum ersten Mal – entspannt darauf zu antworten. Vielleicht sollten wir es ausprobieren und bei der nächsten Party nicht über das Wetter reden, sondern fragen: «Are you gay?»

Peter Fässlacher
Peter Fässlacher

Peter Fässlacher

Er ist Moderator und Sendungsverantwortlicher bei ORF III und Stimme des Podcasts «Reden ist Gold» über die Liebe und das Leben mit Menschen der LGBTIQ-Community. Er lebt in Wien.

[email protected] Illustration: Sascha Düvel

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