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«A Glamorous Takeover» – Queere Kultur erobert den Mainstream

Eine neue Sendung mit Tarik Tesfu

Tarik Tesfu
Tarik Tesfu in «A Glamorous Takeover» (Bild: Henning Weskamp)

Queere Kultur hat schon immer die Mainstream-Kultur beeinflusst und war häufig sowohl Wegbereiter als auch Spiegel für gesellschaftliche Umbrüche. In «A Glamorous Takeover» trifft Tarik Tesfu auf innovative und einflussreiche queere Artists aus unterschiedlichen Disziplinen.

Das neue Format steht in der ARD Mediathek. Das Team vor und hinter der Kamera des Projekts war in zentralen Positionen queer besetzt, neben dem Host Tarik auch mit dem Regisseur Tristan Ferland Milewski.

Ob in der Mode, im Tanz, in der Oper, im Schauspiel oder in der bildenden Kunst – die Mainstream-Kultur ist weitestgehend männerdominiert und heteronormativ – bisher. Denn nun zeichnet sich ein radikaler Wandel ab: Eine neue Generation von queeren Kulturschaffenden übernimmt international das Ruder, um diese lang gehegten Manifeste zu erschüttern.

Unaufhaltbar und kompromisslos erkämpfen sie sich ihren Platz auf der Bildfläche. Dabei wird ihre Identität ganz selbstverständlich Teil ihrer Kunst und stellt so jedwede «Norm» in Frage. Über die Grenzen der Genres hinweg sind ihre Stimmen nicht nur stärker und lauter geworden – sie sind auch erfolgreicher denn je. Auch in Deutschland wird die Kulturszene von queeren Artists aufgerüttelt.


Tarik Tesfu, queerer Moderator und Style-Ikone, der ebenso seine Identität in seine Arbeit einfliessen lässt, trifft in «A Glamorous Takeover» in drei Folgen auf interessante und aufregende Künstler*innen und begleitet sie im Alltag: die Distorted-Drag-Queen Hungry, den queeren und weltweit gefragten Künstler Oska Gutheil und Mitglieder der Berliner Ballroom-Community, zum Beispiel die 19-jährige Ablavi, Shootingstar der Szene.


Bekannt wurde Tarik Tesfu u.a. durch die NDR-Talkshow «deep & deutlich». In seinen Videokolumnen entlarvte er zuvor auf humorvolle und provokante Weise Rassismus, Frauen- und Homofeindlichkeit (MANNSCHAFT+)


Er besucht die Künstler*innen zuhause, im Atelier, beim Training oder bei einer Veranstaltung und taucht ein in ihr Leben, begleitet sie beim Erschaffen neuer Kunstwerke und wird selbst Teil der Kunst. Es entstehen persönliche und emotionale Gespräche, inspirierende Aktionen und nie dagewesene Kreationen. Tarik möchte von den Künstler*innen aber auch wissen, wie sie zum Hype um ihre Kunst stehen: Birgt der Übergang in den Mainstream auch die Gefahr, sich zu sehr zu öffnen und die Kunst zu verwässern? Oder ist es für die Communities existenziell, mehr in der Öffentlichkeit stattzufinden – nicht zuletzt finanziell? Diesen und weiteren spannenden Fragen geht Tarik in jeder der drei Folgen nach.


Und darum geht es in den Episoden:

Episode 01: Hungry
Distorted Drag Queen Hungry ist im katholischen Bad Füssing gross geworden. Aus der schmerzhaften Erfahrung des «Anders seins» heraus hat Johannes J. Jaruraak – so der bürgerliche Name – Hungry erschaffen. Diese Verwandlung hat Johannes massgeblich geprägt, nun prägt Hungry den Mainstream.

Johannes J. Jaruraak alias «Hungry»
Johannes J. Jaruraak alias «Hungry» (Bild: Dunja Engelbrecht / Susanne Erler)

Hungry hat mit «Distorted Drag» eine eigene Drag-Kategorie erschaffen. Nach ihrem Kostümbildstudium in Berlin und Praktika in London bei Aitor Throup und Vivienne Westwood ist Hungrys Kunst nun auf dem Albumcover und in den Looks der Musikerin Björk zu sehen.

Aufgewachsen als eines von vier Geschwistern im katholisch geprägten Kurort Bad Füssing in Bayern lebt Hungry nun in Berlin. Aus dem einengenden, konservativen Umfeld auszubrechen war für die queere Artistin essentiell, um ihrer Kreativität Raum zu geben.

Ich will dazu inspirieren, dass man hinterfragt, was man selbst als schön erachtet, um eben diese Frage zu öffnen: «Finde ich das noch schön? Und warum eigentlich nicht?»

Inspiriert von der Club- und Dragkultur schafft Hungry mit Make Up, filigranen Accessoires und eigens kreierten Outfits ausserweltliche Looks und Charaktere, mit denen sie performed. Ihre Kunst bricht jede Gendergrenze und thematisiert verborgene Aspekte der menschlichen Existenz. Sie vereint Eskapismus, Schönheit, Zartheit und Supernatürliches. Dabei ist Perfektionismus zugleich Antrieb und Herausforderung für Hungry.

Tarik trifft Hungry in ihrer Berliner Wohnung zwischen Kostümen und überirdischen Accessoires, bevor Hungry eine Reise in die bayerische Provinz antritt. Für Hungry ist der Heimatbesuch bei der Familie und auf dem lokalen Volksfest ein Novum: Noch nie hat sie den bayerischen Ort und ihre Familie als Kunstfigur besucht. Zurück in Berlin wird Tarik selbst zur Distorted Drag Queen. Hungry kreiert Tarik einen eigenen Look – und gemeinsam erobern die beiden Berlin.

Episode 02: Oska Gutheil
Der Maler Oska Gutheil ist einer der interessantesten Künstler seiner Zeit. Seine Bilder: theatralisch, facettenreich, intensiv, queer. Denn immer wieder verarbeitet er auch seine persönliche Geschichte: die Transition zu Oska.

Oska Gutheil
Oska Gutheil (Bild: Dunja Engelbrecht)

Oska Gutheil hinterfragt in seiner Malerei soziale Normen innerhalb der Gesellschaft und beschäftigt sich dabei vor allem mit dem Konstrukt, das wir als Realität bezeichnen. In den oft biografisch inspirierten Arbeiten spielen Uniformität, Scheitern, Gender-Klischees und Transformation eine entscheidende Rolle. Seine Werke werden von internationalen Sammler*innen hoch gehandelt, derzeit in New York neben Marina Abramović ausgestellt und waren aktuell in einer Einzelausstellung der Kunstsammlung Jena zu sehen. Gutheil gilt als vielversprechender zeitgenössischer Künstler. Aufgewachsen ist er in einem kleinen Dorf am Bodensee. Mit 16 flüchtete er nach Ulm, aber erst in Berlin fand Oska die Freiheit und Anonymität, die er sich wünschte. Seinem Studium an der Universität der Künste folgt das Leben als freischaffender Künstler. 2019 entscheidet sich Oska eine Transition zu machen und als der Mann zu leben, der er gefühlt immer war.

Bei mir sind Hybride eigentlich immer positiv belegt. In meinen Bildern hat immer Uniformität und daraus auszutreten eine Rolle gespielt, und das schaffe ich mit den Hybriden meistens am besten.

Tarik und Oska erleben gemeinsam Zeit in Oskas Atelier und seinem Umfeld in Kreuzberg. Am Kotti, einem von Oskas zentralen Orten, reden sie über Oskas Aufwachsen, seinen Prozess der Selbstfindung, das Gefühl des Dazwischen-Seins und wie sich das auf seine Kunst auswirkt. Welche Hürden, sowohl persönliche als auch gesellschaftliche, musste er in diesem Prozess überwinden? Wie hat sich die Kunstwelt in den zwanzig Jahren seines Schaffens verändert? Wie hat er es geschafft, sich trotz oder gerade wegen seines Andersseins auf dem internationalen Kunstmarkt durchzusetzen? Wie beeinflusst die Transition Oskas Position im Kunstmarkt? Was bedeutet es, sich in Deutschland für diesen Schritt zu entscheiden?

Episode 03: Ballroom
Madonna und Beyoncé haben sie in den Mainstream gehievt: die Ballroom-Kultur. Auch in Deutschland wächst die Szene seit Jahren. Tarik Tesfu darf einen Ball begleiten, taucht in die Community ein und staunt über spektakuläre Performances.

Seyram Ablavi Mawududzi Deh
Seyram Ablavi Mawududzi Deh alias «Ablavi» (Bild: Dunja Engelbrecht / Katha Gramke)

Die Ballroom Community wurde in den 1960er und 70er Jahren im New Yorker Stadtteil Harlem von Schwarzen trans Frauen ins Leben gerufen. Von allen queeren Personen erlebten queere Black und People of Colour am meisten Homo- und Transfeindlichkeit, Ausgrenzung, Rassismus – in der Gesellschaft und selbst innerhalb der LGBTIQ Community. Mit Ballroom haben sie eine eigene Welt geschaffen, in der sie all das repräsentieren können, was ihnen in der Gesellschaft verwehrt wird. Status und Glamour überhöhen sie auf dem Catwalk, mit grossen Posen und selbst geschneiderten Looks imitieren sie die Modezeitschriften, die Businesswelt und Designerlooks und tragen dabei Wettbewerbe aus.

Der Tanzstil «Voguing» ist benannt nach der Modezeitschrift Vogue, die Bewegungen erinnern an die Posen der Models. Vor allem aber kreieren sie einen Safe Space, in dem sie sich als queere Menschen sicher fühlen und ihre Identität frei ausleben können. In familiären Strukturen, den sogenannten Houses, erschaffen sie sich eine wichtige Ersatzfamilie, da viele von ihnen von ihrer biologischen Familie verstossen wurden und sonst auf der Strasse gelandet wären.


«Xtatic Pleasures»: Zweites Queer-Festival am Schauspiel Dortmund mit der «Xtatic-Ballroom-Performance» als Höhepunkt des Festivals.


Die Kraft und Energie dieser Kultur faszinierte und inspirierte schon in den 80ern Popstars wie Madonna oder Malcolm McLaren (Sex Pistols), die sie in den Mainstream holten. Seit ein paar Jahren erlebt Ballroom einen erneuten Hype und hält wie nie zuvor international Einzug in die aktuelle Welt des Mainstream und Pop. Artists wie Beyoncé, Lady Gaga oder Lil Nas X feiern die Kultur und bedienen sich ihrer Codes. Voguing ist treibende Kraft in Werbespots von Nike und Netflix-Serien («Pose»). Innerhalb kürzester Zeit hat sich die nischige Subkultur zum angesagten Mainstream-Hype entwickelt. Das hat nicht nur positive Folgen, denn gerade für die sensiblen Safe Spaces, in denen keine Kameras drehen dürfen, ist (mediale) Öffentlichkeit auch immer eine Gefahr für die Teilnehmer*innen.

Vor rund zehn Jahren ist Ballroom auch in Deutschland angekommen. Die Balls – Wettbewerben, bei denen Tänzer*innen in vielen verschiedenen Kategorien antreten, sind Abende mit Musik, einem MC, stylischen Looks und beeindruckenden Performances. Mittlerweile findet fast jede Woche irgendwo in Berlin ein Ball statt. Dort tritt auch Seyram Ablavi Mawududzi Deh – kurz Ablavi – regelmässig auf. Die 19-Jährige ist eine Art Shootingstar in der Community. 2021 zieht sie für einen Bundesfreiwilligendienst nach Berlin, ursprünglich kommt sie aus Lübeck. Innerhalb kürzester Zeit findet sie in der Ballroom Community Anschluss und Freund*innen und macht sich gleich einen Namen.

Seit kurzem gehört sie zum Iconic House of Juicy Couture. Vor allem aber hat sie ihre «Mother» gefunden: Magia. Die Houses sind eine Art Ersatzfamilie, die «Mothers» weisen die jüngeren Mitglieder in die strengen Codes der Kultur ein, beschützen sie und stehen ihnen auch im Alltag zur Seite. Die Namen der Houses sind häufig von grossen Mode- oder Designerlabels abgeleitet. Das erste deutsche House ist 2012 das House of Saint Laurent Europe (damals «The House of Melody»), das sich 2019 mit dem berühmten House of Saint Laurent, das bereits 1982 in New York City gegründet wurde, zusammenschliesst.

Im Ballroom zu sein, der Schwarze trans Frauen sehr zelebriert, hat mir sehr geholfen, selbstbewusst in meiner Identität zu sein.

Zusammen mit Ablavi taucht Tarik in die Berliner Ballroom-Community ein, trifft ihre Ballroom-Sister Jade, ihre Mother Magia und begleitet sie beim Training und den Vorbereitungen auf den Ball. Dabei erfährt er, welche Bedeutung die Community und ihr House für Ablavi haben, wie sie darin Kraft für das tägliche Leben ausserhalb der Balls findet, woher sie ihre Inspiration nimmt und wie sie sich innerhalb der Community weiterentwickelt hat. Beim Ball wird die Energie der Community spürbar. Laute Musik, jubelnde Zuschauer*innen und spektakuläre Outfits und Performances faszinieren nicht nur Tarik. Er erlebt, wie die Menschen hier so sein können, wie sie wollen – und dass solche sicheren Räume heutzutage immer noch notwendig sind, denn Beleidigungen, Anfeindungen und Gewaltattacken sind für viele keine Seltenheit.

Gleichzeitig stellt sich die Frage, ob diese sicheren Räume durch den zunehmenden Hype in Gefahr geraten. Wie viel Offenheit – auch dank der zunehmenden Aufmerksamkeit durch internationale Popgrössen und Werbeträger – verträgt die Community, wann wird der Hype zur Gefahr? Darüber spricht Tarik mit Ablavi, aber auch mit Dave, dem Veranstalter des Balls, sowie Ablavis Mother Magia, ihrer Sister Jade und anderen Teilnehmer*innen des Balls.


Oleh Psjuk

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