Asexuell l(i)eben: «Wir mögen keinen Sex, also lassen wir es»
Menschen haben verschiedene Motive, warum sie nicht mit anderen ins Bett gehen
In einer völlig sexualisierten Gesellschaft passen enthaltsam lebende Menschen nicht ins Bild. Wie gestaltet sich das Leben, wenn eines der angeblichen menschlichen Grundbedürfnisse unbefriedigt bleibt? Davon erzählt die Arte-Doku «No Sex».
Von Christof Bock, dpa
Die Französin Chantal (60) kommt vom Land. «Sexualität gab es bei mir nur bei Tieren. Das machten Katzen und Hunde. Aber mit Menschen hatte das nichts zu tun», sagt sie in die Kamera. Aufgeklärt wurde sie nie, genauso wenig wie ihre Mutter und ihre Grossmutter und deren Vorfahren. «Ich bin die erste in der Familie, die ihrem Kind erklärt hat, was Sexualität ist. Darüber wurde nicht geredet.»
Dennoch habe man gespürt, dass Sex etwas Schmutziges, Verwerfliches und Gefährliches sei, vor allem für Frauen. Sie habe nie erfüllende Sexualität erlebt, schildert die gut aussehende Best-Agerin in der Arte-Doku «No Sex» am Mittwoch um 21.55 Uhr. Chantal sagt, sie sei mit Männern ins Bett gegangen, um zum Beispiel Zuwendung zu erhalten. Der erste Sex nach der Geburt ihrer Tochter habe dann alles geändert. Ab dem Punkt habe sich ihr Körper völlig der Sexualität verweigert.
Kann man so leben? Sex ist doch überall. Nie zuvor in der Geschichte der westlichen Welt ging man so ungezwungen mit dem Thema um wie heute. Ein Tabu aber ist geblieben: Was ist mit den Menschen, die keinen Sex haben oder ihn nicht mehr haben? Wie gestaltet sich das Leben, wenn man freiwillig oder unfreiwillig auf die Befriedigung dieses angeblich so wichtigen menschlichen Bedürfnisses verzichtet?
Regisseur Didier Cros lässt kammerspielartig einen Menschen nach dem anderen zu Wort kommen und skizziert so viele verschiedene Motive, warum man nicht mit anderen ins Bett gehen will. Francois (47) etwa: «Als Jugendlicher war ich viel unterwegs. Und mir ist aufgefallen, dass ich angesichts der vielen Gelegenheiten, die sich mir boten, nur sehr wenige Erfolge aufweisen konnte. Aber das lag vielleicht auch an meinem ganz persönlichen Problem. Ich war einfach zu idealistisch. Von Anfang an war ich immer auf der Suche nach Liebe.» Sein «erstes Mal» sei dann eine Riesen-Enttäuschung gewesen. Eine von vielen.
Arte über die Doku: «Im Austausch mit enthaltsam lebenden Menschen begreift man viel über die Relevanz von Sex für das Selbstverständnis und gewinnt einen neuen Blick auf die moderne Gesellschaft. Das Dauerthema wird von vielen als Zwang empfunden. Leistungsdruck macht selbst vor der Lust nicht Halt. Der angeblich befreite Körper wird in Wirklichkeit neuen Diktaten unterworfen.» Es ist ein sehenswerter Film über Menschen, die gegen den Strom leben und nicht einsam sind.
Auch ein Paar kommt zu Wort, Jérémy (29) und Coralie (26), beide asexuell. «Für uns ist Sex ähnlich wie Jogging», sagt sie. «Nur weil man laufen und kann und sich dazu zwingt, muss es einem noch lange keinen Spass machen. Und wir mögen kein Jogging, also joggen wir nicht. Wir mögen keinen Sex, also lassen wir es.»
«No Sex» aus dem Jahr 2022 läuft am Mittwoch um 21.55 auf Arte und ist auch bis Ende August in der Arte-Mediathek abrufbar.
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