Warum LGBTIQ erste Male intensiver erleben als Heteros

Nicht nur unsere Partys haben eine eigene Intensität, die für Nicht-Queers vermutlich nicht messbar ist

Bild: Pexels/Quintin Gellar
Bild: Pexels/Quintin Gellar

LGBTIQ Biografien unterscheiden sich von denen von Heteros: Unsere Timelines sind tendenziell chaotischer, wir erleben unsere ersten Male früher, später oder auf jeden Fall anders, als es die klassische hetero Biografie vorsieht. Was macht das mit uns? Wir erhalten die Chance, die Poesie und Magie des Anfangs immer wieder neu zu erleben.

Als ich 18 Jahre alt war, verfasste ich mit einer Freundin zusammen eine Liste. Die Liste trug den Titel: «Was wir noch erleben wollen, bevor wir zwanzig sind». Darauf schrieben wir dann tiefgründige Lebensziele wie «Couchsurfing», «nacktbaden», «ein kommunistisches Buch lesen», und auch: «wissen, wie Sex geht». Ich hatte damals schon mit ein, zwei Männern geschlafen und war überzeugt davon, im Bett eine Katastrophe zu sein. Ich fühlte mich unbeholfen, ich dachte: Es mangelt mir an Know-how, um eine gute Sexpartnerin sein zu können. Ich weiss einfach nicht, wie es geht.

Deshalb holte ich mir technische Tipps von erfahreneren Freundinnen, fragte: Wie gebe ich einen Blowjob? Was mache ich während der Penetration? Wie ziehe ich das Kondom über? Um etwas über Lust zu erfahren, hätte ich natürlich auch masturbieren können. Aber es ging mir nicht so sehr darum zu lernen, wie ich mehr Spass am Sex haben könnte, sondern wie ich mir eine Kompetenz aneignen konnte, die mich – als Individuum und speziell als Frau – enorm aufwerten würde. Der Gedanke, dass ich im Bett eine Anfängerin war, erschien mir unerträglich.

Das liegt an dieser Heterovorstellung von Sexualität, dass sie etwas ist, was wir «lernen» müssen. Etwas, das gar nicht von Anfang an gut sein kann. Das erste Mal ist fast nie schön, vor allem nicht für Frauen; Am Anfang sind wir notwendigerweise defizitär. Anfängerin sein: Das ist etwas Schlechtes. Darum wollte ich: mehr lernen, mehr wissen – und vor allem: die Zeit der quälenden ersten Male endlich hinter mich bringen.

Natürlich kam es anders. Die Zeit der ersten Male hörte nämlich nicht auf, im Gegenteil. Mit dieser Liste, die ich mit 18 anfertigte, fing sie gerade erst richtig an. Ständig kamen neue erste Male hinzu, die ich nicht hatte kommen sehen: Das erste Mal mit einer Frau schlafen; das erste Mal überlegen: Sollten wir hier knutschen, ist es hier safe genug?; das erste Mal auf eine queere Party gehen; das erste Mal durch ihr Haar fahren und denken: Wie nice kann etwas sein; das erste Mal queere Freundschaften und queeres Drama; das erste Mal so richtig Heartbreak, weil du deiner Ex einfach immer wieder über den Weg läufst; das erste Mal Pride; das erste Mal dazugehören, wenn auch nur für einen Moment.

Als queere Frauen haben wir oft das Gefühl, erst beweisen zu müssen, dass wir wirklich auf Frauen stehen; wir haben Angst, die Codes nicht zu kennen, zu lesbisch oder nicht lesbisch genug auszusehen.

Wir bestehen aus unseren ersten Malen Erste Male sind für uns stärker identitätsstiftend als für Heteros. Das erste Mal eine Frau küssen war für mich nicht nur eine Liebeserfahrung, sondern auch eine, die mich hinterfragen liess, wer ich bin und wohin ich gehöre auf der Welt. Dies beeinflusst unsere Erfahrungen und unsere Konzeption des «Anfangens». Es macht unsere ersten Male intensiver, schöner, aufregender. Und weil erste Male uns wichtig sind, gehört es zu queerer Kultur dazu, immer wieder über sie zu reden: Wir erzählen Geschichten von unserer ersten Lesbenparty, von der ersten Verliebtheit in die straighte beste Freundin, von unseren ersten Küssen, vom Umzug in die grosse Stadt. Queere Biografien verlaufen anders als die von Heteros, und weil uns das früher einsam gemacht hat, erleben wir heute über das Teilen solcher Geschichten Gemeinschaft; wir spüren durch das (Wieder-)Erzählen, was uns verbindet.

Erste Male sind bei uns auch nicht so stark an ein bestimmtes Alter geknüpft wie in der klassischen hetero Biografie. Vielleicht verlieben wir uns das erste Mal mit 11, vielleicht mit 35 oder 60, vielleicht nie. Wir wissen, wie furchtbar aufregend es sein kann, Anfängerin zu sein, etwas zum ersten Mal zu tun, eine neue, schöne Seite an sich selbst (endlich) zuzulassen und zu erforschen.

«Kiss Me Kosher» – Liebe unter Frauen und schreiende Mütter

 

Es gibt aber noch eine andere Seite: Erste Male sind natürlich auch bei uns mit Versagensängsten und Scheu behaftet. Als queere Frauen haben wir oft das Gefühl, erst beweisen zu müssen, dass wir wirklich auf Frauen stehen; wir haben Angst, die Codes nicht zu kennen, zu lesbisch oder nicht lesbisch genug auszusehen. Diese Unsicherheiten haben so viele – und wir müssen aufpassen, dass wir aus ihnen keine neuen Ausschlussmechanismen erfinden, die wiederum über die Erste-Male-Logik funktionieren: Ach was, du hast noch nie eine Frau gedatet? Ach, du schläfst auch mit Männern? Ist das ein Experiment für dich? Hast du dich in der Party geirrt?

Stattdessen könnten all diese Unsicherheiten und Ängste, die wir aus der Heterowelt mitbringen, eigentlich unsere Stärken sein. Die Logik der ersten Male, mit der ich mit 18 damals lernen wollte, eine bessere Sexpartnerin zu werden, könnten wir ersetzen durch den simplen Gedanken, dass wir alle aus unseren ersten Malen bestehen. Dass wir alle ständig tapsig und fragil in irgendetwas Neues hereinstolpern. Das wäre viel aufregender, als einfach irgendwann davon auszugehen, dass unsere ersten Male bereits alle hinter uns liegen.

Illustration: Chiara Lanzieri
Illustration: Chiara Lanzieri

Von der Provinz in die Stadt Mit dreiundzwanzig Jahren, im Frühling 2018, sass ich an einem kühlen Abend in Zürich mit meinem besten Freund vor einer Bar am Fluss. Es war Mittwoch, der Abend für die Community, und die Leute, vor allem Männer, standen dicht gedrängt auf dem schmalen Steg. Wir redeten, gaben uns gegenseitig Feuer, mein Freund begrüsste ständig Leute, die er kannte. Ich trug einen roten Regenmantel und liess meine Beine baumeln, rauchte und trank und fühlte mich frei.

Es war eine aufregende, aber chaotische Zeit: Ich steckte mitten in meinem zweiten Coming-out, diesmal als Lesbe. Ich wusste, dass ich nur noch mit Frauen zusammensein, sie treffen, ausziehen und lieben wollte, aber ich hatte noch keine Ahnung, wie das anzustellen war und was das bedeutete. Und das war mir peinlich, denn: Ich hatte ja auch schon Frauen gedatet. Aber die Erkenntnis, dass ich mich nun ausschliesslich zu Frauen hingezogen fühlte – die schien mich zurück in eine Anfängerinnenposition zu werfen, von der ich überzeugt gewesen war, sie hinter mir gelassen zu haben.

Giulia stand auf dem Steg in einer Gruppe von Leuten, ich sah sie erst nur von der Seite, aber ich erkannte sie sofort. Sie trug ihr Haar jetzt schulterlang, mit einem zerwuschelten Pony, wie die meisten Frauen in der Stadt. Damals, als wir aufs gleiche Gymnasium gegangen waren, war ihr Haar lang gewesen, fast bis zu den Hüften. Wir waren beide nach der Schule nach Zürich gezogen und hatten uns seither kaum mehr gesehen. Aber wir waren zwei junge queere Frauen aus der Provinz – das verbindet, und ich erinnerte mich noch an Schulfeste, an denen wir uns gegenseitig betrunken von unserem Herzschmerz erzählt hatten. Ich fand Giulia schon immer schön. Als sie sich umdrehte, winkte ich zögerlich. Sie lächelte und kam auf uns zu. Mein bester Freund schaute mich an, fragte: Uhh – wer ist denn das?

Nach diesem Abend trafen wir uns wieder, wieder an der Limmat in Zürich, an einem dieser Abende, an denen der Fluss so intensiv nach Sommer riecht. Wir tranken Bier und redeten. Giulia und ihre Freundin hatten sich nach fünf Jahren getrennt; sie waren zusammengekommen, als wir noch in der Schule waren. Sie sprach davon, dass sie nicht wusste, wie Singlesein geht; ich sprach davon, dass ich nicht wusste, wie Lesbischsein geht.

Sie war mit zu vielen Velokurierinnen befreundet und fuhr deswegen unfassbar schnell und rücksichtslos.

Mit Giulia zusammen Anfängerin Ein paar Wochen später nahm ich Giulia auf eine queere Party mit. Es war ihre erste, und für mich die erste, auf der ich nicht anfing zu weinen. An der Bar bestellte ich für uns, und mein bester Freund fragte mich: Seid ihr auf einem Date? Sicher nicht, sagte ich, nahm die zwei Bierflaschen, brachte Giulia eine. Wir gingen tanzen. Um drei Uhr morgens küsste sie mich vor den Türen des Clubs. Wir knutschten, und ein paar Typen sagten: Wie geil! Können wir mitmachen? Wir versuchten eine Weile, sie zu ignorieren, aber dann löste sich Giulia, sagte bis bald und ging nach Hause.

An warmen Sommerabenden trafen wir uns von da an am Flussufer zum Rummachen, wie Teenager. Wir schauten rüber ins Industriequartier, eine von uns kramte die Zigaretten aus ihrer Leinentasche. Wenn ich auf mein Fahrrad stieg und nach Hause fuhr, taten meine Lippen weh. Giulia und ich tasteten uns aneinander heran, wie ich es damals, mit 18, vielleicht auch gebraucht hätte. Als sie nach ein paar Wochen das erste Mal zögerlich ihre Hand unter mein T-Shirt schob, vergass ich zu atmen.

Wenn wir etwas zum ersten Mal tun, sind unsere Sinne geschärft, wir nehmen alles doppelt so bewusst war, wir spüren, riechen und schmecken mehr. Wir sind hyperwach, achten auf alle Signale um uns herum. Die meisten Dinge, bei denen man etwas unsicher ist, macht man bewusster, und das heisst oft auch: besser.

Ich kann mich noch genau daran erinnern, wie es war, mit Giulia auf dem Fahrrad durch Zürich zu fahren: Wie sie sich über den Lenker ihres Rennrads beugte, wie ihre schwarze Jeansjacke sich im Wind aufblähte. Sie war mit zu vielen Velokurierinnen befreundet und fuhr deswegen unfassbar schnell und rücksichtslos. In einer Nacht fuhren wir über meine Lieblingsbrücke, hoch über dem Fluss. Giulia fuhr mitten auf der Strasse, hinter ihr die Lichter der Stadt. Ihr Pony flatterte im Wind, sie trug eine weisse Hose und ein oranges Shirt. Der Moment brannte sich mir ein, wie es nur mit Momenten geschieht, in denen in dir etwas aufbricht, in denen etwas aufkeimt, das du vorher nicht gekannt hast. Ich dachte: Wie kann man so schön und anmutig und verwegen zugleich aussehen?

«Mit Giulia zusammen Anfängerin zu sein, war ein gutes Gefühl.»

Von der Unsicherheit zur Euphorie An einem Juliabend zog Giulia mir in meiner Küche mein schwarzes Kleid über den Kopf, und wir schliefen zum ersten Mal miteinander. Wenn ich mein Tagebuch vom Sommer 2018 lese, dann dreht sich dort alles nur um Frauen, Frauen, Frauen. Ich schreibe furchtbare Sätze wie: «In mir drin ist ein Paradies unerfüllter lesbischer Träume», ich verfasse seitenlange Hymnen auf Körper und Berührungen von Frauen, verfalle in ein Pathos, wie ich es von sexuellen Erfahrungen mit Männern kaum kannte. Ich war high davon, ganz am Anfang eines grossen Abenteuers zu stehen. Mit Giulia zusammen Anfängerin zu sein, war ein gutes Gefühl.

Wer kümmert sich um die sexuelle Gesundheit queerer Frauen?

 

Mit dem Ende des Sommers endete auch unsere zaghafte Romanze. Die Luft in Zürich veränderte sich; man konnte den Fluss nicht mehr überall riechen, es wurde kühl. Ich dachte oft an Giulia, daran, was wir gewesen waren; und ich konnte erst viel später mit ihr zusammen erfassen, was das Besondere an dieser Zeit gewesen war: Wir waren der Anfang von etwas gewesen. Wir hatten es momentweise geschafft, einander ein paar der tausend Unsicherheiten zu nehmen, die wir mit unserem Lesbischsein verbanden. Noch jetzt beruhigt es mich, Giulia auf einer Party zu sehen, ihren Blick auf mir zu spüren. Sie ist für mich eine Art Versicherung, dass ich schon in Ordnung bin, dass es schon gut kommt.

Die mit ersten Malen verbundene Unsicherheit, Aufregung, ja Euphorie kann etwas Positives sein: Wenn wir wollen, kann sie uns zu empfänglicheren Menschen und Partner*innen machen, die mehr lernen und erleben als die, die immer schon abgeklärt sind, weil sie alles schon zu kennen glauben – und ausserdem zu empathischen Menschen, die die Sorgen und die Ängste davor, etwas ganz Neues gerade zum ersten Mal zu tun, so gut kennen.

Illustration: Chiara Lanzieri
Illustration: Chiara Lanzieri

Erste Male verbinden Auf jeder queeren Party gibt es mindestens eine Person – vermutlich aber eher 10 oder 20 –, die gerade zum ersten Mal auf einer queeren Party sind. Oder auf ihrem ersten queeren Date. Oder die das erste Mal knutschen. Die auf irgendeine Art so sind, wie Giulia und ich damals waren, auf dieser Party im Frühling 2018. Und dieser Umstand führt dazu, dass unsere Partys so eine eigene Atmosphäre von Dringlichkeit und Drama, eine eigene Intensität haben, die für Heteros vermutlich gar nicht messbar ist, als spiele sie auf einer Tonfrequenz, die sie nicht erfassen können.

Jedem Anfang liegt bekanntlich ein Zauber inne, und jeder queere Event ist zumindest für ein paar der Anwesenden der Anfang – oder einer von vielen Anfängen. Deswegen diese dichte Luft, die vielen Tränen, die vielsagenden Blicke – aber eben auch das unvergleichliche Gefühl, wenn die ersten Akkorde von «Dancing on My Own» erklingen: Das ist, weil wir alle auf irgendeiner Ebene Teenager bleiben auf diesen Partys. Weil diese Anlässe unsere Geschichten miteinander verbinden und uns in eine gemeinsame rücken. Aber noch viel wichtiger: Dadurch, dass wir die antizipierten Biografien und Timelines verqueeren und davon erzählen, schaffen wir Raum für immer wieder neue Geschichten vom Anfangen, für eine ganze Poetik des Anfängerinnenseins.

Inzwischen war ich monatelang auf keiner queeren Party mehr. Aber irgendwann – in sechs Monaten oder drei Jahren – werde ich wieder auf eine gehen. Weiss ich dann noch, wie man tanzt? Weiss ich dann noch, wie man flirtet? Es wird wieder sein wie das erste Mal. Ich werde mich dumm anstellen und überfordert davon sein, so viele Lesben aufs Mal zu sehen. Ich werde stottern, mich schlaksig bewegen, meinen Blick schweifen lassen, mich erinnern, wer alles da ist, an wen ich lange nicht mehr gedacht habe. Und dann werde ich auf die Tanzfläche gehen, mich vorsichtig bewegen, die Füsse, die Arme, meine Hüften. Schritt für Schritt. Ich werde tapsig sein, aber ich werde tanzen, wie beim ersten Mal.

Lesbensex zählt für viele Menschen offenbar nicht und wird als Petting abgewertet. Nicht nur Anna Rosenwasser, die dazu den Samstagskommentar schreibt, macht das wütend.

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