«Wir wollen mit den Klischees in den Köpfen aufräumen»
«Vorbild und Vorurteil» porträtiert lesbische Sportlerinnen
Die Historikerin und Amateur-Fussballerin Corinne Rufli ist eine der «Vorbild und Vorurteil»-Autorinnen (MANNSCHAFT berichtete) – das Buch porträtiert 28 lesbische Spitzensportlerinnen.
Interview: Kristin T. Schnider
Corinne Rufli sagt: Homophobie kann Sportkarrieren beenden. Und übrigens schade es Heteros nicht, Fan einer frauenliebenden Sportlerin zu sein. Doch dafür brauche es mutige Athletinnen, die sich outen.
Corinne, warum sind Vorurteile gegen lesbische Frauen im Jahr 2020 überhaupt noch Thema? Wie oft wurden wir schon gefragt: Braucht es so ein Buch noch? Viele denken, dass heute alles in Ordnung ist: Lesben sind sichtbar und führen ein tolles Leben. Die wenigen, die in den Medien zu sehen sind, werden eben so dargestellt. Was es wirklich heisst, auch heute noch, als Lesbe in der Schweiz zu leben, das wird klar, wenn man in das Buch reinschaut, und erfährt, was diese unterschiedlichen Frauen aus ihrem Leben erzählen. Das hat viele erstaunt.
Warum erstaunt? Wenn wir genau hinsehen, merken wir, dass Sexismus und Homophobie feste Bestandteile unserer nach wie vor patriarchal konstruierten Gesellschaft sind. Die Kernfamilie, Mann, Frau und Kind, wird als Optimum für Gesellschaft, Staat und Nation dargestellt. Wer dieser Vorstellung nicht entspricht, sie aufbricht, wird als Gefahr gesehen. Homosexualität zeigt, dass Liebe, Begehren und Beziehungen auch zwischen Frauen oder Männern bestehen können. Leider wird noch immer das bekämpft, was anders ist, was diese engen Vorstellungen ins Wanken bringen könnte. Manchmal offen gewalttätig oder subtil diskriminierend.
Es sind spezielle Frauen, die in eurem Buch ihre Geschichte erzählen: Spitzensportlerinnen. Warum ausgerechnet das Gebiet Sport? Die Initialzündung war eine junge Sportlerin, die sich bei mir gemeldet hatte. Durch mein erstes Buch, in dem frauenliebende Frauen über 70 zu Wort kamen, war bekannt, dass ich mich für die Sichtbarkeit von lesbischen Frauen einsetze. Ihre Geschichte hat mir gezeigt, dass Homophobie im sportlichen Umfeld eine Karriere beenden kann. Ich fand, dass das thematisiert werden muss, und habe mich an Marianne Meier gewendet, die als Historikerin und Sportpädagogin ein Buch über die Geschichte des Frauenfussballs geschrieben hatte. Wir diskutierten, andere Frauen kamen dazu, und schliesslich fanden wir uns zu diesem Quintett zusammen, das nun das Buch veröffentlich hat. Drei Jahre ist es her, dass wir im legendären Bahnhofbuffet Olten auf den Beginn unseres Projekts angestossen haben!
Wie seid ihr vorgegangen? Wir suchten lesbische Spitzensportlerinnen verschiedenster Sportarten und Generationen und fragten, ob sie bereit wären, über ihr Leben zu reden. Wir merkten, dass unsere Wunschkandidatinnen nicht nur mit den Vorurteilen in den Köpfen aufräumen, sondern sich auch sehr gut als Vorbilder eignen. So kamen wir zu unserem Buchtitel.
Sportler*innen gelten allgemein als gute Vorbilder. Aber hier geht es wohl um etwas anderes? Es geht vor allem um Sichtbarkeit, um Orientierungspunkte, die gerade jungen Frauen und besonders lesbischen Frauen noch oft fehlen. Auch junge Männer sollen sehen, dass es starke weibliche Vorbilder gibt – und überhaupt alle Menschen.
Fehlten auch dir die Vorbilder? Als mir als Zwölfjährige bewusst wurde, dass ich Frauen liebe, dachte ich zuerst, dass ich mein Leben gar nicht leben kann. Nirgends sah ich, wie eine lesbische Frau überhaupt lebt. Ich wusste nur, das darf es nicht geben. Später sah ich Hella von Sinnen und Martina Navratilova im Fernsehen. Immerhin gab mir ihre Öffentlichkeit so etwas wie eine Verbindung. Doch die eine sah schräg aus, benahm sich schrill, und die andere war die weltbeste Tennisspielerin: Was hatte das mit mir zu tun? Es waren «Vorbilder», die sehr, sehr entfernt von mir waren.
Über die Autorin Corinne Rufli (40) studierte Germanistik und Geschichte an der Universität Zürich und arbeitete lange im Journalismus. 2015 erschien ihr Buch zur Sichtbarkeit lesbischer Frauen: «Seit dieser Nacht war ich wie verzaubert» (Verlag Hier und Jetzt) mit Porträts von frauenliebenden Frauen über siebzig. Mit diesen Protagonistinnen aus dem Buch ist Rufli auf Lesetour im gesamten deutschsprachigen Raum. Dazu macht sie Lesbenspaziergänge durch Zürich und engagiert sich für die Plattform www.l-world.ch. Seit 2020 forscht die Badenerin als Doktorandin in einem grossen SNF-Projekt zur Lesbengeschichte der Schweiz mit Fokus auf den Zeitraum 1945–1970. Als Co-Autorin schrieb sie das Buch «Vorbild und Vorurteil. Lesbische Spitzensportlerinnen erzählen». Corinne Rufli spielt in der 3. Liga Fussball.
Sind Spitzensportlerinnen nicht auch etwas weit weg vom üblichen Leben? Nicht unbedingt. Die Frauen in unserem Buch sind aus Biel, Rüttenen, Wallisellen oder Muttenz. Und nur schon wir Autorinnen haben alle einen sportlichen Hintergrund, wissenschaftlich in der Sportpädagogik oder in der Leichtathletik, beim Boxen und Fussballspielen, auch wenn wir keine Profis sind. Das schafft alles Nähe. Auch Diskriminierungserfahrungen – in erster Linie gegen Frauen – zeigen sich im Sport schon früh. Ich wollte als Kind schon immer «tschutte», aber nein, es war mein Bruder, der in den Fussballverein durfte, und damals gab es in meiner Umgebung noch keine Mädchen- oder Frauenteams. Sport ist auch eine Art gesellschaftlicher Kulminationspunkt oder ein Spiegel der Gesellschaft, wie es im Vorwort heisst.
Sport ist doch ohnehin etwas Öffentliches? Ja. Und das gilt im Spitzensport umso mehr. Das Publikum und die Medien gehen davon aus, dass sie das Recht haben, über Spitzensportler*innen etwas zu wissen und auch zu erzählen. Das macht die Entscheidung für ein Coming-out umso schwerer. Aber andererseits sind die porträtierten Frauen deshalb nicht «nur» Vorbilder, sondern sie helfen zusätzlich, die Klischees in den Köpfen abzubauen. Wir Autorinnen sind sicher, dass sich etwas verändert, wenn «Herr und Frau Schweizer», die den Sportlerinnen gerade in ihren Stuben zugejubelt haben, merken, dass sie, ohne es zu wissen, Fans einer lesbischen Frau sind – und dann feststellen, dass gar nichts Schlimmes passiert ist . . .
Das ist das Schöne an «Vorbild und Vorurteil», zu sehen, wie vielfältig, unterschiedlich und den Klischees gar nicht entsprechend das Leben von lesbischen Frauen, Sportlerinnen, tatsächlich ist. Es wird offensichtlich, dass lesbische Frauen einfach Menschen sind, Individuen mit verschiedenen Geschichten, die versuchen, ein Leben zu führen, alleine, vielleicht miteinander, verheiratet, mit oder ohne Kind, wie sie das wollen.
Nochmals zum Sport und den dazugehörigen Klischees, woher kommen die eigentlich? Sie beruhen auf der Heteronormativität. Also die Einteilung der Menschen in Männer und Frauen mit ihren je spezifischen Rollen, dazu kommt, dass stets angenommen wird, eine Person sei heterosexuell. Im Spitzensport dominiert die Wahnvorstellung vom heterosexuellen Mann: stark, ehrgeizig und heldenhaft. Hingegen wird Homosexualität bei Männern mit schwach, weich, passiv sein, also weiblich sein assoziiert, ihnen wird dann Eiskunstlauf, Gymnastik und Tanz zugeordnet. Und lesbische Frauen stehen unter Verdacht, «Mannsweiber» zu sein, wenn sie zum Beispiel Fussball spielen oder boxen. Wenn sie aber tanzen oder turnen, wird ihrer Lebensweise, zu der auch gehört, wen sie lieben, keine weitere Bedeutung zugemessen. Sie werden nicht als lesbisch gesehen – sofern sie sich «weiblich» verhalten.
Das ist natürlich Unsinn. Habt ihr als Autorinnen eigentlich selbst auch Vorurteile gehabt? Ja, wer hat keine Vorurteile? Wir alle leben in einer hetero-patriarchal geprägten Gesellschaft, haben diese Bilder auch verinnerlicht, und lassen uns selbst manchmal davon übertölpeln. Für das Buch haben wir bewusst lesbische Frauen aus allen Sportarten gesucht, auch dort, wo sie eben weniger sichtbar sind. Das Schöne an der gemeinsamen Arbeit war, dass sie bei uns allen, – bei den Autorinnen wie auch bei den erzählenden Frauen – einen Prozess ausgelöst hat, der noch im Gange ist. Vieles wird jetzt klarer oder erst bewusst, was wir gar nicht richtig wahrgenommen hatten, auf unserer Seite etwa die feministischen, politischen Aspekte unseres Projektes. Und jetzt, wo die Sportlerinnen ihre eigene Geschichte nachlesen können, fällt einigen auf, dass sie viel mehr Diskriminierung durchgestanden hatten, als ihnen klar war. Andere, die nicht mitmachen wollten, denken jetzt, dass sie vielleicht Vorbilder gewesen waren im Sport – aber vielleicht auch Vorbilder für andere, für lesbische Frauen hätten sein können.
Das Buch erfüllt also seinen doppelten Zweck als «Vorbildbuch» für viele lesbische Frauen, und es geht gegen allgemeine Vorurteile und verinnerlichte Klischeebilder an. Es wirkt wie eine freundliche Doppelaxt, das Sinnbild der lesbischen und feministischen Aufforderung, doch endlich zum Wohle aller mit dem heteronormativen Unsinn aufzuhören. Das ist doch Anlass zur Freude. Oh ja. Das Buch wurde unglaublich gut aufgenommen: Kaum erschienen, ging es in die zweite Auflage! Und das in dieser schwierigen Zeit: Lockdown – alle Buchhandlungen geschlossen und unsere lang geplante Buchtaufe gestrichen. Jetzt hoffen wir sehr auf einen persönlichen Austausch, ein erstes Treffen mit den Sportlerinnen und Anlässe mit all den Leser*innen. Wir sind zwar online gut unterwegs, aber es ist nie dasselbe. Wir freuen uns, bald all die Prozesse, die Diskussionen auch «face to face» intensivieren zu können.
Das Buch «Vorbild und Vorurteil» ist im Verlag Hier und Jetzt erschienen.
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