Von der Reeperbahn ins Impfzentrum: Eve Champagne will die Welt retten
Die 36-Jährige arbeitet derzeit in den Hamburger Messehallen
Normalerweise leitet sie den einzigen Burlesque-Club auf St. Pauli oder ist bei der Kult-Kiez-Tour von Dragqueen Olivia Jones im Einsatz. Die Pandemie macht das unmöglich. Für Eve Champagne kein Grund, nicht an der Rettung der Welt zu arbeiten. Von Martin Fischer
Eve Champagne ist eine Frohnatur, Entertainerin und die «Schwullandheim-Aufseherin», wie sie sich mal im Gespräch mit der Welt nannte. Und natürlich ist sie Tänzerin und künstlerische Leiterin vom «The Bunny Burlesque St. Pauli» über die Grenzen des Hamburger Kiezes hinaus bekannt. Doch das scheint ewig her, das vertraute Rotlicht von Corona jäh gelöscht, der Betrieb im einzigen Burlesque-Club St. Paulis eingestellt. Eve ist trotzdem glücklich, sehr sogar. «Es war die grosse Liebe, die mich hierher gebracht hat. Ich habe die Pandemie meines Lebens!» Die 36-Jährige steht im Zentralen Impfzentrum in den Hamburger Messehallen.
Sie strahlt. Der weisse Kittel offen, darunter schwarzes T-Shirt (Aufdruck: «Kiezgrösse»), knapper schwarzer Rock, weisse Kniestrümpfe und hohe Chucks. Ihr Gesicht lacht hinter der FFP2-Maske. Der neue Mann in ihrem Leben habe sie in Corona-Zeiten schon auf so manche Idee zum Broterwerb gebracht, erzählt sie. «Ich habe im letzten Jahr im Frühjahr als Spargelstecherin angefangen, als die Erntehelfer ausgeblieben sind. Und dann habe ich über meine neue grosse Liebe einen Job als Kurierfahrerin für Corona-Tests vom Berliner Flughafen nach Hamburg ins Labor im UKE bekommen.»
Das viele Autofahren zwischen Hauptstadt und dem Universitätsklinikum in Hamburg-Eppendorf (UKE) sei für sie aber auf Dauer nichts gewesen. Da habe er sie dann auf den Job im Impfzentrum aufmerksam gemacht. «Und da ich ein aufgewecktes altes Mädchen bin und nicht gerne rumsitze, habe ich mir gedacht, dass ich persönlich für die Beendigung der Pandemie sorge, indem ich helfe, den Impfstoff zu verteilen.»
«Feiern hat für viele Queers eine enorm wichtige Ausgleichsfunktion»
Nun ist sie Teil des sogenannten Care-Teams und ein Kontrast im ansonsten eher steril anmutenden Impfzentrum in den riesigen Hallen. «Ich begleite die älteren Herrschaften durch den gesamten Impfprozess.» Und notfalls auch mit dem Rolli zum Klo. «Dabei habe ich schon so viele schöne Geschichten gehört – von Kriegsveteranen oder von alten Damen am Rollator, die ganz aufgeregt sind und mich auf der Bühne sehen wollen, wenn sie hören, dass ich Revuetänzerin bin.» Viele der älteren Impfwilligen seien auch einsam. «Und wir Künstler wurden einsam durch die Pandemie. Man nimmt sich hier nichts, sondern man gibt sich viel.» Die Impfung werde dann zweitrangig.
Sie fühle sich in dem Job sehr wohl und im Kollegium zu Hause. «Ich schätze, dass 30 bis 40 Prozent der Leute hier vom Kiez kommen, in der Logistik sind 80 Prozent Veranstaltungstechniker. Die haben im Moment ja alle Zeit und sie haben Bock, hier zu arbeiten.» Es sei für sie «ein Seelenheil, wieder neue Menschen, neue Gesichter und neue Geschichten kennenzulernen» und endlich wieder alte Kiez-Freunde zu treffen. Berührungsängste kennt sie nicht. «Ich lebe grundsätzlich ausserhalb meiner Komfortzone, weil man da am meisten erlebt und die coolsten Menschen kennenlernt.» Ausserdem sei sie «Philanthrop, ein Menschenliebhaber und ich habe immer mehr Liebe zu geben als ich selber vertragen kann.»
Auch die «Impflinge» hätten an der besonderen Atmosphäre ihren Spass. «Wenn man hier so einen Termin durchläuft, ist das die reinste Entertainment-Strecke. Es ist ein liebevoller Prozess.» Vom Türsteher aus dem Shooters in der Grossen Freiheit, der vorne am Eingang steht, bis zur Abmeldung seien die meisten «Kiezianer». «Wie Michael hier in der Halle, der im Gesicht tätowierte Türsteher aus der Boutique Bizarre, wo ich auch schon fünf Jahre im Sexshop gearbeitet habe. Die Leute finden es cool und sehr unterhaltsam.»
Dass der halbe Kiez im Impfzentrum arbeite, sei für ihn neu, sagt Jochen Kriens, von der Kassenärztlichen Vereinigung Hamburg, die das Zentrum im Auftrag der Stadt betreibt. Die Stimmung sei aber auf jeden Fall gut. 7000 Menschen pro Tag könnten in den Messehallen geimpft werden, wenn es denn genügend Impfstoff gäbe. In dieser Woche waren es immerhin schon 5000.
So gut die Stimmung im Impfzentrum auch sei, so sehr werde Corona das Leben auf dem Kiez und die Branche verändern, sagt Eve und wird ernst. Sie wohne auf dem Kiez und bekomme tagtäglich mit, wie das normalerweise übervolle Leben von dort verschwindet. «Das einzig Schöne ist dabei, dass man die Nachbarschaft sieht, weil die Menschenmassen nicht da sind und die Kommunikation wieder funktioniert. Man weiss jetzt, wer die Nachbarn sind.»
Zwar würden sich immer Käufer für die Läden finden, die auf der Strecke bleiben, und dort neue Konzepte reinbringen. «Aber das werden Mainstream-Konzepte sein, es werden nicht mehr diese kleinen und individuellen Läden sein.» Auch sehe sie unter Künstlerkollegen, «dass sich viele eine feste Arbeit gesucht haben, weil sie die Freiberuflichkeit nicht mehr leben konnten. Die haben jetzt die Sicherheit, eine Krankenkasse zu haben und in die Altersvorsorge einzuzahlen.» Und viele würden wohl in dieser Sicherheit bleiben, wenn es erst wieder losgeht.
«Ohne Hetero-Clubs gäbe es keine grossen LGBTIQ-Partys»
Auch sie geniesse jetzt die Fünf-Tage-Woche und die freien Wochenenden. «Es wäre ja ein wunderschönes Gefühl, wenn ich die Möglichkeit hätte, mich selber entertainen zu lassen oder auszugehen. Aber da meine grosse Liebe derzeit in der Sicherheitsbranche tätig ist, können wir die Wochenende zumindest zusammen verbringen, was früher nie möglich gewesen wäre.»
Viel verrät sie nicht über ihre grosse Liebe. Er sei Rigger, also Veranstaltungstechniker, und passe mit Bart voll in ihr Beuteschema. Sie habe ihn auf Facebook angeschrieben. Das erste Mal gesehen haben sie sich dann bei der Mahnwache für den unter dem Lockdown leidenden Kiez auf dem Spielbudenplatz. «Er brachte mir einen Kaffee vorbei. Es war Liebe auf den ersten Blick – oder auf den zweiten bei ihm angeblich.» Inzwischen teilen sie eine Wohnung. «Nach 36 Jahren lebe ich jetzt zum ersten Mal mit einem Partner zusammen.»
Aber so schön es auch sei mit trautem Heim und Sozialversicherung, Eve will ihr Leben zurück. Den Traum aufgeben? «Für mich kommt das auf keinen Fall infrage. Ich kann die Welt retten und auf die Bühne gehen, habe ich beschlossen.»
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