Vielfalt im «LGBT History Month» – Aufklärung tut Not!
Den queeren Themenschwerpunkt gibt es sogar in Ungarn und Brasilien
Die queere Geschichte ist eine Geschichte voller Vorurteile, Diskriminierung, Kriminalisierung und Lücken, die aufgearbeitet werden sollten, kommentiert Matthias Gerschwitz anlässlich des bevorstehenden «LGBT History Month» in Grossbritannien – und feiert die Vielfalt der dort vorhandenen Kinder- und Jugendbücher.
Wenn es nicht so traurig wäre, müsste man herzlich lachen: Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan verteidigte 2020 die Aussage des Präsidenten der türkischen Religionsbehörde Diyanet Ali Erbas, Homosexualität sei für den Corona-Ausbruch mitverantwortlich, mit den Worten, sie sei «korrekt». Offensichtlich tut Aufklärung mehr als je Not.
«Die Geschichte der Menstruation ist eine Geschichte voller Missverständnisse …» liess uns 1994 eine Journalistin in einem Werbespot für Damenhygiene wissen. Als Mitglied der queeren Community kann man da nur staunen. Wir schön wäre es, wenn die queere Geschichte lediglich Missverständnisse beinhielte!
Tatsächlich ist sie aber eine Geschichte voller Vorurteile, Diskriminierung, Kriminalisierung und Lücken. Homosexuelle sind wechselweise für Naturkatastrophen, Geburtenrückgang und Pandemien aller Art verantwortlich; dabei wurden aber Generationen von queeren Menschen – wenn sie Glück hatten – nur totgeschwiegen. Ihre Leistungen wurden unterschlagen, ihre Lebensläufe wurden geschönt … und alles nur, um ein vorherrschendes Ideal von sogenannter «Normalität» zu pflegen. Übrigens: Covid-19 gibt es trotzdem.
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Aufklärung tut Not. Dabei helfen kann eine viel zu wenig beachtete Institution: Der «LGBT History Month» … auch wenn er eher aus Zufall entstand: 1994 nahm der 29-jährige Geschichtslehrer Rodney Wilson aus dem US-amerikanischen Bundesstaat Missouri den Holocaust durch und erklärte den erstaunten Schülern, dass er – hätte er damals in Deutschland gelebt – als schwuler Mann auch ein Opfer der NS-Ideologie geworden wäre. Daraus wurde die Idee geboren, sich der LGBT-Geschichte zu widmen, um mehr darüber zu lernen, zu wissen und zu verstehen. Andere Länder, aber auch einzelne Städte, übernahmen die Idee, wenn auch zu unterschiedlichen Terminen.
Seit 2005 wird in Grossbritannien der «LGBT History Month» im Februar begangen; wesentlicher Teil des Gedenkens ist der umstrittene Clause 28, eine Gesetzeserweiterung, mit der die Thatcher-Regierung 1986 das Verbot der Förderung von Homosexualität beschlossen hatte, worunter auch jede Form der positiven Berichterstattung verstanden wurde. Nach langen Kämpfen wurde er 2003 wieder abgeschafft, in Schottland sogar drei Jahre früher.
Clause 28 hat leider Schule gemacht. Russland ist 2013 auf den eigentlich schon lange abgefahrenen Zug aufgesprungen, und die reaktionären Kräfte ehemaliger Ostblockländer wie Polen und Ungarn sind nachgezogen. Dabei gibt es den «LGBT History Month» sogar im Reiche Victor Orbáns – und er wird wie in Grossbritannien im Februar begangen. Ob und wie er 2021 stattfinden kann und wird, steht allerdings in den Sternen; die rechtskonservative Regierung unterlässt (fast) nichts zur Unterdrückung nicht-heterosexueller Menschen. Und sie versucht mit allen Mitteln, Aufklärung, Wissen und Verstehen zu verhindern.
Dabei wäre es so einfach: Man müsste lediglich Rodney Wilsons Beispiel folgen und die LGBT-Geschichte zum Teil des Schulunterrichts machen** – denn diese Geschichte ist länger, als manch konservativer Politiker glauben möchte: Die ersten Artefakte, die auf gleichgeschlechtliche Erotik hindeuten, stammen aus dem Jungpaläolithikum (etwa 12.000 v. Chr.). Zum Vergleich: Das Alte Testament entstand erst um 1.500 v. Chr.
Wenn man das alte deutsche Sprichwort Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr ernst nimmt, muss man, um einen Lernprozess zu erzeugen, bereits bei Kindern ansetzen. Und schon höre ich den Aufschrei, dass man Kinder doch bitte nicht mit LGBTIQ- oder ganz allgemein Diversity-Themen überfrachten solle. Sie würden verwirrt. Sie verstünden es nicht. Was gibt es eigentlich daran nicht zu verstehen, wenn es doch nur darum geht, Menschen so zu nehmen, wie sie sind?
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In Ungarn geht der Aufschrei so weit, dass ein im Herbst 2020 erschienenes Kinderbuch mit Märchen, in denen die Helden einer Minderheit entstammen, mit einem Warnhinweis wegen angeblicher Unvereinbarkeit mit traditionellen Geschlechterrollen versehen werden muss (MANNSCHAFT berichtete). Dabei geht es nur darum, Vorurteile zu bekämpfen bzw. gar nicht erst entstehen zu lassen.
Nach Angaben der Lesbenvereinigung Labrys, die das Buch «Meseország mindenkié» (Märchenland für alle) herausgibt, soll mit dem Buch vorrangig aufgezeigt werden, dass es Menschen gibt, die es schwerer haben als andere, die anders sind als andere – aber trotzdem das gleiche Recht auf einen Platz in der Welt haben. Die Kinderrechtsexpertin Szilvia Gyurkó schreibt über das Buch: «Es gehört in jeden Kindergarten, weil es wichtig ist, die Vielfalt der Welt zu verstehen.» So werden schon früh Vorurteile verhindert … und Eltern können gemeinsam mit ihren Kindern nicht nur die Zukunft, sondern auch die Gegenwart gestalten. Hat die ungarische Regierung Angst vor der Zukunft, der Gegenwart … oder etwa vor Kindern?
Ganz anders dagegen Grossbritannien: Von «The ABCs of LGBT – Gender Identity Book for Teens, Teen & Young Adults» für ratsuchende Teenager, Lehrer oder Eltern und jeden, der lernen möchte, wie man über Geschlechtsidentität und sexuelle Identität spricht, über «The Every Body Book: The LGBTQ+ Inclusive Guide for Kids about Sex, Gender, Bodies, and Families» und «The Flamingo Who Didn’t Want To Be Pink» bis hin zu «All Out: The No-Longer-Secret Stories of Queer Teens Throughout the Ages» und «Trans Power – Own Your Gender» … um nur einige Veröffentlichungen der letzten Jahre zu nennen – bieten die Autoren des Königreiches umfassende kind- und jugendgerechte Literatur zu allen LGBT- und Vielfalt-Themen.
Ganz neu auf dem amerikanischen Büchermarkt ist «I am A Prince – An Inclusive LGBTQIA+ Children’s Book», das bei Amazon schon Widerhall findet: »Dies ist ein schöner Weg, um das Konzept der nicht-binären Geschlecht einzuführen, so dass sich diejenigen, die sich selbst so sehen, vertreten fühlen, und alle anderen davon einen Empathiegewinn haben.» Schon etwas früher (2019) erschien mit «The GayBCs» ein zauberhaft illustriertes Alphabet der Vielfalt: Vier unterschiedliche Kinder leben in Vierzeilern Begrifflichkeiten von A wie «Ally» (Verbündete*r) über D («Drag»), I (»Intersex«) und N («Non-Binary») bis zu T («Trans») und X (jenseits von M und F). Zum guten Schluss (Z) geht es um «Zest», mit der Vielfalt als «Würze des Lebens» beschrieben wird.
Kann man Kindern das wahre Leben auf schönere Weise nahebringen? Das kleine Büchlein feiert Vielfalt sogar so weit, dass es auch von türkischen Präsidenten und ungarischen Regierungschefs verstanden werden könnte: Die Zeichnungen sind gross genug.
* Die Meinung der Autor*innen von Kolumnen, Kommentaren oder Gastbeiträgen spiegelt nicht zwangsläufig die Meinung der Redaktion wider.
** Im Land Berlin gibt es seit 2018 immer im Mai den Queer History Month.
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