Tugendterror in den App-Stores – Scruff verbietet Jockstrap-Fotos

Auch Küssen ist unerwünscht: Um nicht aus den App-Stores zu fliegen müssen Nutzer der Dating-App Scruff sich künftig züchtig zeigen

Szene aus dem William-Higgins-Klassiker «The Young Olympians» von 1983 aus dem Buch «Porn: From Andy Warhol to X-Tube»
Szene aus dem William-Higgins-Klassiker «The Young Olympians» von 1983 aus dem Buch «Porn: From Andy Warhol to X-Tube»

Es ist verblüffend, welche Macht Privatunternehmen wie Apple, Google, Facebook und Amazon haben und mit ihren sogenannten Firmenrichtlinien hart erkämpfte gesetzliche Grundlagen zu individueller – auch sexueller – Freiheit einfach aushebeln. Jüngstes Beispiel: Die Dating-App Scruff verbietet Profilbilder mit Jockstrap, Unterwäsche und knappen Badehosen, um nicht aus dem App Store zu fliegen.

Bekanntlich kommen alle Apps, egal um welche Inhalte es geht, nur über den App-Store aufs Telefon oder Tablett: d.h., das scheinbar grenzenlose Angebot an Apps muss erst durch dieses Nadelöhr der Kontrolle und Auswahl. Das gibt den zwei Firmen, die die entsprechenden Stores betreiben, die Möglichkeit, nach eigenem Gutdünken zu entscheiden, welche Apps sie zulassen und welche nicht.

Dabei geht es nicht wie ehemals bei grossen Gerichtsprozessen rund um Fragen der «Sittlichkeit» und «öffentlichen Moral» um Firmen, die sich als Staatsbetriebe an allgemeine juristische Richtlinien halten müssen (wie beispielsweise die Post), sondern um höchst individuelle Richtlinien, die nach Belieben und persönlichen Moralvorstellungen angewandt werden können. Was bekanntlich zu einer weltweiten Neo-Prüderie geführt hat, besonders in den Sozialen Netzwerken, die von Mark Zuckerbergs Anti-Nacktheits-Dogma dominiert sind – über das alle staunen, die die Umwälzungen der Zweiten sexuellen Revolution in den 1970er-Jahren miterlebt haben.

Wir sind heute weit hinter Standards zurückgefallen, die einst als Errungenschaft und Zeichen von Weltoffenheit bzw. Modernität angesehen wurden.

Vernichtende Folgen für unsere Community Die Änderungen bei Scruff hat deren CEO Eric Silverberg auf der Webseite des Unternehmens bekannt gegeben, wo er betont, dass bei Nichteinhaltung einer entsprechenden Zensur Scruff aus den App-Stores entfernt würde: «Einfach gesagt, alle schwulen oder queeren Apps müssen sich an die erzwungene App-Store-Politik halten oder sie riskieren, vollständig aus dem Store entfernt zu werden. Das ist Scruff vor einiger Zeit passiert. Wenn dieser Schritt dauerhaft gewesen wäre, hätte das vernichtende Folgen für unsere Firma und unsere Community gehabt.»

Sein Unternehmen hat daher beschlossen, sich zukünftig an die App-Store-Richtlinien zu halten und auf den Profilbildern keine Jockstraps, Unterwäsche oder knappe (Bikini-artige) Schwimmoutfits zu erlauben, so Silverberg.

Doch damit nicht genug: «Wir betonen in unserer [neuen] Firmenpolitik, dass wir alle Andeutungen von Umarmung und Küssen entfernen werden, denn es sind genau solche sexuellen Andeutungen […], die vielleicht nicht mit den App-Store-Richtlinien übereinstimmen.»

Bill Henson in typischer 1980er-Jahre Pose mit Jockstrap für die Firma Falcon. Solche öffentlichliche Nacktheit musste damals hart erkämpft werden. Bild aus dem Buch «Porn: From Andy Warhol to X-Tube»
Bill Henson in typischer 1980er-Jahre Pose mit Jockstrap für die Firma Falcon. Solche öffentlichliche Nacktheit musste damals hart erkämpft werden. Bild aus dem Buch «Porn: From Andy Warhol to X-Tube»

Das Zauberwort hier ist «vielleicht»: Denn wie bei Facebook und anderen Firmen bekommt kaum jemand genaue Angaben, sondern man wird einfach entfernt und mit zeitlicher Blockade abgestraft. So dass andere anschliessend in vorauseilendem Gehorsam besonders vorsichtig agieren. Wodurch eine Form von Tugendterror und Angst vor jedweder Sexualität entstanden ist – die hauptsächlich nichtheteronormative Sexualität betrifft. Diese stellt scheinbar für Apple, Google und Facebook ein besonderes Problem dar.

Positiv und offen über Sex reden «Angesichts der Tatsache, dass Scruff eine Community ist, die offen und positiv über Sex redet, über Körper und Intimität, kann es sein, dass manche Nutzer solche Richtlinien als Widerspruch empfinden. Solche Kritik ist durchaus begründet», sagt Silverberg. «Scruff respektiert die Sorgen, die von unserer Community zu diesem Fall geäussert werden, und wir möchten alle anspornen, uns und alle Technologiefirmen zur Rechenschaft zu ziehen bzgl. der Inhalte und Verhaltensstandards, die sie erzwingen.»

Diese Ergänzung zum Statement kam, nachdem mehrere Nutzer der Scruff-App ihre Frustration online ausgedrückt hatten in der letzten Woche, als sie benachrichtigt wurden über die neuen Fotorichtlinien.

Das sieht nicht gut aus, Jungs!

Ein Kommentator schrieb auf Twitter: «Craigslist, Backpage, Tumblr. Und nun sogar Scruff, eine schwule Dating App, für die man über 18 sein muss, um sie zu nutzen, zensiert was für Fotos gepostet werden? Das sieht nicht gut aus, Jungs!»

Zu heiss für Scruff Ein weiterer Twitter-User teilte einen Screenshot seines eigenen Scruff-Accounts, mit einem unlängst hochgeladenen Profilbild. Für das hatte er die Benachrichtigung erhalten, es sei «zu heiss für Scruff». Das Bild zeigte ihn lediglich ohne Hemd. Er bat die App-Administratoren zu erklären, warum solch ein oben-ohne-Bild unzulässig sei und entfernt wurde. Natürlich gab’s darauf keine Antwort.

Dating-App Scruff erhöht Datenschutz und geht gegen Rassismus vor

Jemand anderes teilte auf Twitter ein Foto, das ihn und seinen Ehemann küssend zeigt: auch das war von Scruff entfernt worden. Wobei scheinbar völlig gleichgültig ist, dass gleichgeschlechtliche Ehen in den USA vom Supreme Court abgesegnet sind und also ein küssendes Männerehepaar unter keinen Umständen anstössig sein sollte.

Aber wie schon erwähnt: für Privatfirmen gelten keine allgemeinen Rechtsprechungen, sondern sie können ihre privaten Richtlinien in ihrem privaten Firmenbereich anwenden. Leider betrifft das dann sehr viele Menschen weit ausserhalb des Firmenbereichs.

Ein Pornofilm wie «Boys in the Sand» von Wakefield Poole konnte 1971 in der New York Times beworben werden und öffentlich in New York im Kino gezeigt werden. Aus dem Buch «Porn: From Andy Warhol to X-Tube»
Ein Pornofilm wie «Boys in the Sand» von Wakefield Poole konnte 1971 in der New York Times beworben werden und öffentlich in New York im Kino gezeigt werden. Aus dem Buch «Porn: From Andy Warhol to X-Tube»

Politische Entscheidung Es ist aktuell keine Änderung der Lage in Sicht, wenn das Monopol von Apple und Google und Facebook nicht aufgebrochen wird. Es ist erstaunlich, dass Wettbewerbshüter und staatliche Stellen sich mit der Situation nicht längst auseinandergesetzt haben. Aber vielleicht passt vielen neokonservativen Regierungen solche Neoprüderie ja ganz gut ins Konzept. Denn so wird die Welt – ganz ohne Gerichtsurteile oder politische Entscheidungen – auf einen Moralstandard zurückgeworfen, den LGBTIQ-Vorkämpfer einst erschüttert hatten. Das scheint heute in Vergessenheit geraten zu sein und von einer jüngeren LGBTIQ-Community passiv hingenommen zu werden.

Ein Trauerspiel, gefangen in einem Kreislauf, aus dem bisher niemand einen Ausweg gefunden hat

Und selbstverständlich gelten diese prüden Richtlinien auch für Veröffentlichungen von Zeitschriften wie «Mannschaft» und in Bezug auf Vorschaubilder, die zu Artikeln wie diesem verwendet werden.

Man könnte es ein Trauerspiel nennen, gefangen in einem Kreislauf, aus dem bisher niemand einen Weg gefunden hat auszubrechen.

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