Sven Lehmann: «Der Kampf gegen Diskriminierung geht weiter»
Der NRW-Chef der Grünen Sven Lehmann bewirbt sich erstmals für ein Bundestagsmandat – und zwar in Köln, im ehemaligen Wahlkreis von Volker Beck, dem die Partei beim NRW-Landesparteitag im Dezember einen aussichtsreichen Listenplatz verweigert hatte. Wir sprachen mit dem 37-Jährigen über seine Anfänge in der Partei, seine politischen Ziele und über Volker Beck.
Herr Lehmann, erinnern Sie sich an Ihre ersten Monate bei den Grünen als Neu-Mitglied? Ja, ziemlich gut. Ich bin Ende 1999 eingetreten. Ich wollte in eine Partei, die sich auch für andere Lebensentwürfe einsetzt als die in dem katholischen Milieu, in dem ich großgeworden bin. In der über Kriegseinsätze kritisch diskutiert und gestritten wird. Also ging ich zu den Grünen, die waren bunt, feministisch, streitlustig. Ich bin da sehr gut aufgenommen worden und fand ein Klima vor, in dem ich mich weiter engagieren wollte.
Wurden Ihre Vorstellungen vom Innenleben einer Partei, die Sie vorher hatten, bestätigt oder war es ganz anders? Es war besser als ich erwartet hatte. Ich dachte, man tritt ein und kann dann vielleicht auch bei ein, zwei Aktionen mitmachen. Aber ich durfte direkt mit entscheiden, in der Öffentlichkeitsarbeit und in der aktiven Kommunalpolitik. Ich war also mittendrin und konnte mich einbringen, Entscheidungen meiner Stadt mit prägen, aber natürlich auch Plakate kleben, Stände aufbauen, Tapeziertische schleppen. Und Flaggen bügeln für die nächste Aktion. (lacht)
Sie sind katholisch sozialisiert. Sind Sie noch in der Kirche? Nein, ich bin schon lange ausgetreten. Aus verschiedenen Gründen, aber vor allem, weil ich die Positionen, die die Amtskirche gegenüber gesellschaftlichen Gruppen wie Frauen und Homosexuellen einnimmt, nicht mehr mittragen wollte.
Die Kirchen in Deutschland haben immer noch eigenes Arbeitsrecht und können Menschen kündigen, wenn ihnen ihre Sexualität nicht genehm ist. Das müssen wir dringend ändern, das ist in keinster Weise akzeptabel. Das kirchliche Arbeitsrecht diskriminiert zum Beispiel wiederverheiratete Geschiedene: Ihnen kann in Krankenhäusern und Kindergärten in kirchlicher Trägerschaft gekündigt werden, das ist ein Eingriff in die Privatsphäre. Das betrifft genauso Schwule und Lesben. Das ist ein Uralt-Arbeitsrecht, das dem individuellen Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit und dem Recht auf Privat- und Familienleben widerspricht. Außerdem ist das Streikrecht eingeschränkt. Darum fordern wir Grünen auch, dieses Sonder-Arbeitsrecht zu überwinden.
Was sind aus Ihrer Sicht weitere queerpolitische Themen der kommenden Legislaturperiode? Es gibt sehr viele Baustellen, aber ich nenne mal drei. Der Kampf für gesellschaftliche Akzeptanz und gegen Diskriminierung geht weiter, auch nach der rechtlichen Gleichstellung. Es gibt immer noch viele Menschen, für die Schwule, Lesben und Transpersonen im öffentlichen Raum eine Provokation sind. LGBTIQ* erleben immer noch Gewalt, werden auf dem Schulhof beschimpft, daher brauchen wir einen bundesweiten Aktionsplan gegen Homo-, Bi- und Transphobie, einen Aktionsplan für Akzeptanz. Wir haben das in NRW in sieben Jahren Regierungsbeteiligung auch vorangetrieben und im Land verankert, zum Beispiel mit Bildungsplänen und der Förderung und Stärkung von Beratungsstrukturen wie Jugendzentren. Auch öffentliche Einrichtungen und Arbeitgeber müssen stärker für das Thema Vielfalt sensibilisiert werden. Einen solchen Aktionsplan auf nationaler Ebene aufzulegen ist ein zentrales Vorhaben, das ich mit anpacken möchte.
Was sind die anderen Schwerpunkte? Wir haben die Gleichstellung bei Ehe und Adoptionsrecht. Aber die Vielfalt der Lebensformen, in denen Schwule, Lesben, Bisexuelle und Transpersonen zusammenleben, braucht auch neue rechtliche Möglichkeiten. Ich finde, Menschen sollen selber entscheiden können, in welchen familiären Zusammenhängen sie miteinander leben. Das ist bei vielen nicht immer die Biofamilie, sondern es sind Wahlverwandtschaften, Wahlfamilien oder familiäre Netzwerke. In Frankreich gibt es ja den Pacte civile de solidarité (PACS), und solche Pakte für das Zusammenleben wollen wir auch in Deutschland ermöglichen. Familiäre Verträge, mit denen Menschen entscheiden, welche Aspekte des Zusammenlebens sie miteinander rechtlich regeln. Von Auskünften in gesundheitlichen Fragen über Güterfragen bis hin zu erbrechtlichen Bestimmungen. Ich glaube, das ist für viele Menschen ein großes Thema, weil sie in Verbindungen oder Netzwerken leben, in denen sie sich absichern möchten, aber halt ohne Ehe. Im Moment ist das nur mit Notaren möglich und oft kompliziert.
Außerdem brauchen wir ein neues Gesetz zur selbstbestimmten Geschlechtsidentität. Im Moment müssen Menschen sehr komplizierte und teils entwürdigende Verfahren bei Psychiatern und Behörden durchlaufen, um ihr Geschlecht wechseln zu können. Transgender und Transsexuelle dürfen aber nicht länger pathologisiert werden. Wir brauchen einfache Verfahren zu Geschlechtseintrag und Änderung des Vornames. Und ein Verbot von Zwangsoperationen zur Geschlechtsangleichung, wie sie noch oft bei Säuglingen und Kindern vorgenommen werden.
Sie haben den Aktionsplan als Ziel genannt: Kann es gelingen, Homo- oder Transphobie irgendwann ganz ausrotten? Meine Vision ist, dass wir in einer Gesellschaft leben, wo Verschiedenartigkeit nicht als Bedrohung wahrgenommen wird. Und dass alle Menschen trotz Verschiedenheit gleich an Rechten und Würde sind. Das muss schon in Schulen und in der Jugendarbeit ansetzen. Dort müssen wir Anlaufstellen ausbauen, an die sich Jugendliche wenden können, wenn sie feststellen, dass sie anders sind. Wir müssen sie bestärken, dass sie dabei nicht allein sind. Und wir müssen einschreiten, wenn sie beschimpft oder gemobbt werden. Es mag sein, dass einige Menschen Andersartigkeit immer als fremd oder bedrohlich auffassen werden, aber es darf nie zu Abwertung und Entwürdigung kommen, und das geschieht leider noch viel zu oft.
Teil 2: „Die Anpassung an einen wie auch immer gearteten Mainstream ist der Verrat an der Emanzipationsbewegung.“
Wir stecken mitten in der Pride-Saison: Den CSDs wird ja manchmal vorgeworfen, sie seien zu schrill. Diese Debatte, ob sich Schwule und Lesben stärker anpassen sollten, ist ja nicht neu. Ich sehe das komplett anders. Die Anpassung an einen wie auch immer gearteten Mainstream ist der Verrat an der Emanzipationsbewegung. Ich möchte, dass Menschen bunt sind und queer und schrill auftreten können, weil das Leben halt eben auch bunt und schrill und queer ist. Wenn wir uns anpassen würden und anfangen uns einzurichten in der bürgerlichen Bequemlichkeit, das wäre die Selbstaufgabe der Bewegung.
[perfectpullquote align=“full“ cite=““ link=““ color=““ class=““ size=““]Der Schub für unsere Emanzipation kam nicht durch Anpassung und Spießigkeit, sondern durch Aufstand.[/perfectpullquote] Beim CSD in Stuttgart sollte gar eine Jury darüber wachen, dass es nicht zu viel Nacktheit gibt. Nacktheit ist etwas Natürliches. Außerdem sind doch gerade CSDs und die Emanzipationsbewegung Orte, wo sexuelle Vielfalt gezeigt und auch gelebt werden sollte. Da bin ich extrem für Offenheit. Wenn man darüber nachdenkt, wie die ganze CSD-Bewegung losgegangen ist: Das war ein Aufstand der Drag Queens in New York, da ging es um Schrillheit, Queerness, Lautsein. Wir sollten uns als LGBTIQ* immer wieder daran erinnern, woher der Schub für unsere Emanzipation kam – der kam nicht durch Anpassung und Spießigkeit, sondern durch Aufstand. Stonewall was a riot. Deswegen finde ich solche Debatten um Anpassung auch befremdlich.
Manche sehen in dem Kampf von Schwulen und Lesben um die Eheöffnung auch einen Aspekt der Anpassung. Alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens müssen gleichberechtigt für alle offen sein. Und Ehe für alle heißt ja nicht, dass jetzt alle heiraten müssen, sondern dass sie können, wenn sie wollen. Es gibt genügend Menschen, die das nicht wollen. Deshalb wollen wir ja auch Pakte für das Zusammenleben auch ohne Ehe ermöglichen.
Einer, der maßgeblich für die Gleichstellung gekämpft hat und dem jetzt viele das Verdienst zuschreiben, dass wir die Ehe für alle haben, ist Volker Beck. Sie treten in seinem Wahlkreis an. Unterstützt er Sie im Wahlkampf? Volker Beck sitzt seit 23 Jahren für die Grünen im Bundestag, er ist eine zentrale Stimme der Emanzipationspolitik und im Parlament Vater der rechtlichen Gleichstellung von Lesben und Schwulen. Ohne ihn wären wir heute nicht da, wo wir jetzt sind. Und ich freue mich persönlich für ihn, dass mit der Rehabilitation der Opfer des §175 und der Eheöffnung im Parlament noch zwei große Gesetze errungen wurden, die sehr stark mit seinem Namen verknüpft bleiben werden. Ich bin mir sicher, dass er auch weiterhin eine laute und wahrnehmbare Stimme bleiben wird, auch außerhalb des Parlamentes. Wir arbeiten seit vielen Jahren miteinander, in Köln und NRW. Ich habe andere Schwerpunkte als er, wie zum Beispiel die Sozialpolitik. Aber gerade in Emanzipations- und Gleichstellungsfragen ziehen wir sicher auch in Zukunft an einem Strang.
[perfectpullquote align=“full“ cite=““ link=““ color=““ class=““ size=““]Volker Becks starker Auftritt hat mich beeindruckt.[/perfectpullquote] Ist es – rückblickend betrachtet – angesichts dieser Erfolge richtig, dass die Grünen in NRW ihm den sicheren Listenplatz verweigert haben? Die Partei hat das damals so entschieden. Und in der Rede, die Volker Beck danach gehalten hat, gab es auch keinen Groll und keine Häme. Es war ein starker Auftritt, der mich beeindruckt hat. Er hat sich bedankt, dass die Grünen ihm die Gelegenheit gegeben haben, 23 Jahre im Bundestag zu sitzen und dort viel zu erreichen.
Sie kämpfen für den Einzug in den Bundestag, aber auch für ein gutes Abschneiden Ihrer Partei. Laut Umfragen reicht es derzeit rechnerisch aber nicht für Rot-Rot-Grün. Ist schwarz-grün eine Option für Sie? Ich kämpfe für starke Grüne im nächsten Bundestag. Und für eine Regierung, in der die Grünen ihr Programm umsetzen können. Dazu gehören zentrale ökologische Fragen wie der Kohleausstieg und das Ende des Verbrennungsmotors. Dazu gehören aber auch mehr soziale Gerechtigkeit, Menschenrechte und Friedenspolitik, etwa das Verbot von Rüstungsexporten in Krisenregionen. Mir fehlt gerade ehrlich gesagt die Phantasie, dass die CSU da mitmachen würde. Oder dass sie die Sanktionspraxis bei HartzIV abschafft, was ich sehr stark fordere, weil die Menschen hier oft entwürdigend behandelt werden. Demokratische Parteien müssen miteinander reden, aber es muss auch eine gemeinsame Richtung bei einer Zusammenarbeit geben. Wenn es die nicht gibt, habe ich auch kein Problem damit, dass wir aus der Opposition heraus Druck für unsere Anliegen machen.
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