Notizen zu ungeklärten Wissensständen der queeren Community
Es wird Zeit, dass die politische Selbstaufklärung voran kommt, meint unser Autor
In queeren Wissenschaftszirkeln wird vieles geforscht, erörtert und gestritten. Aber: Wir wissen über unsereins so gut wie nichts. Der Samstagskommentar* von Jan Feddersen.
In queeren Wissenschaftszirkeln wird vieles geforscht, erörtert und dabei gestritten, das natürlich auch. Meist geht es um solche Themen: Wie queer sollen wir sein? Aber, möchte ich hier schon nachfragen: Wer ist dann dieses «wir»? Alle Schwulen, Lesben, trans Menschen, inter Menschen und wer auch immer sich als solche versteht und ein unverfolgtes Leben, also ein Leben ohne Nachstellungen und ständige Infragestellungen als Person wünscht?
Geht es um Identitäten, um Zerstörung der alten, für meinen Geschmack gar nicht mehr so mächtigen heteronormativen Ordnung? Oder geht es um Rechte, um konkrete, rechtlich belastbare Gesetze, die ein einzelnes Leben leichter, besser machen? So wie die Abschaffung des Sonder-Strafparagraphen 175 im Jahre 1994 die symbolische Ordnung insofern zu unseren Gunsten veränderten, dass schwules Leben nicht mehr fundamental mit einer eigenen Rechtsvorschrift als aussätzig markiert.
Mir liegen allerdings Fragen näher, die ich gern zuerst gestellt – und dann wenigstens halbwegs beantwortet hätte. Ich finde, vor der Pride-Saison und vor dem internationalen Tag gegen Homophobie am 17. Mai genau dies zu besprechen, könnte lohnen: Wer sind wir – noch? Was ist queer, was lesbisch, schwul, was trans? Und: Was haben wir erreicht? Was sollten wir noch erreichen wollen? Dass die queeren Paraden wegen Corona überwiegend nicht stattfinden werden, spielt keine Geige: Wir wissen ja, dass unsere CSDs wiederkommen, in voller Stärke im kommenden Jahr, höchstwahrscheinlich. Also können wir nachdenken.
Ist womöglich Antihomosexuelles nicht mehr selbstverständlich, sondern moralisch begründungspflichtig geworden?
Zu solchen Fragen etwa: Wie haben unsere Leben Antidiskriminierungsgesetze, das Gesetz zur Wiedergutmachung für §175-Opfer der Nachkriegszeit, auch die Ehe für alle verändert? Und zwar nicht unsere Leben, die konkret zur LGBTIQ-Öffentlichkeit gehören, also «the activist bubble» sind. Wie hat es die Bundesrepublik atmosphärisch geändert? Also nicht die Frage: Was hat es konkret ermöglicht? Sondern: Hat sich Homophobie gemindert? Ist Schwules & Lesbisches «normaler», undramatischer geworden? Ist womöglich – wie ich nur mit starken Belegen vermuten darf – Antihomosexuelles nicht mehr selbstverständlich, sondern moralisch begründungspflichtig geworden? Was ein Unterschied zu früher wäre – ums Ganze.
Aber: Warum sind Coming-outs immer noch so schwierig, besonders nicht in proletarischen Familien, sondern in solchen der Mittelschicht? Weshalb liegt das beherzte sexuelle Erwachen unter unsereins immer noch später als das heterosexueller Jugendlicher? Ist die Schmähung mit dem Wort schwul etwa auf Schulhöfen wirksam wie seit langem? Und wenn ja: warum und durch wen? Mehr noch: Hat die Ehe für alle den moralischen Druck auf Schwule und Lesben, die als Singles leben und dies womöglich aus eigener Wahl, erhöht? Fühlen sie sich – und das wäre ein Unterschied ums Ganze im Vergleich mit Zeiten, als Homosexuelles nur sexuell und sozial im Underground gedacht wurde – ausgegrenzt? Stimmt die Theorie, dass es ein «Slut Shaming» gibt, die moralische Diskreditierung schwuler Männer (und mancher lesbischer Frauen), die sich nicht paaren wollen, jedenfalls nicht als soziale Beziehung über den Sex hinaus?
Will sagen: Ich habe keine Ahnung, was wirklich stimmt, aber das verbindet mich mit Leuten, die solche Theorien entwickeln – sie wissen es nämlich auch nicht, sie glauben und vermuten. Weiter: Wie denken ganz Alte über die neuen, diskriminierungsärmeren Zeiten (auch nur eine These, ich weiss) – empfinden sie die liberaleren Zeiten als ihnen zuträglich? Oder hat sich für sie nichts geändert?
Überhaupt: Wen soll man fragen, auf welche Menschen könnte sich Forschung verlegen? Ich würde meinen: Wir müssen auch dies erst herausfinden. Meine Phantasie, meine These: In den queeren Öffentlichkeiten – einschliesslich der Szenemagazine wie der Berliner Siegessäule – sieht man nur einen Ausschnitt unserer gesamten «Minderheiten». Wer ist, wie der Sexualwissenschaftler Martin Dannecker vor einem halben Jahrhundert, die Gruppe der «gewöhnlichen Homosexuellen» – und was wollen sie? Könnte es sein, dass sie einfach nur unbehelligt leben möchten? Und davon abgesehen ihr normales Leben führen möchten, im Kleingartenverein aktiv sein oder im Autoschrauberhobbykreis an den Stadträndern?
Trans oder schwul oder lesbisch kann an und für sich nicht abendfüllend sein.
Schliesslich: Wollen trans Menschen, dass die Kategorie Frau verändert wird zu – Menschen, die menstruieren, weil eine Frau ja auch eine Person sein kann, die einen Penis hat, doch sich als Frau identifiziert? Was wissen wir über jene trans Menschen, die sich für Transaktivismus nicht interessieren, sondern ihr Geschlecht, in dem sie sein möchten, einfach endlich auch leben können – und politisch in Ruhe gelassen werden wollen? Weil: Trans oder schwul oder lesbisch oder was auch immer – das kann ja an und für sich nicht abendfüllend sein.
Letztlich: Wir wissen über unsereins so gut wie nichts. Es wird Zeit, dass die politische Selbstaufklärung ein Stück voran kommt. Wir haben damit nicht einmal angefangen. Forschende, guckt über Eure Horizonte hinweg! Es könnte sich lohnen.
*Jeden Samstag veröffentlichen wir auf MANNSCHAFT.com einen Kommentar oder eine Glosse zu einem aktuellen Thema, das die LGBTIQ-Community bewegt. Die Meinung der Autor*innen spiegelt nicht zwangsläufig die Meinung der Redaktion wider.
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