Queer in Brasilien – «Entweder du bringst dich um oder du kämpfst»
Brasilien war schon immer ein homophobes Land, sagen LGBTIQ-Aktivisten - unter Präsident Bolsonaro werde Homophobie nun salonfähig gemacht
Seit gut einem halben Jahr regiert Jair Bolsonaro Brasilien. LGBTIQ-Aktivisten hatten eindringlich vor der Wahl des homophoben Rechtspopulisten gewarnt. Zu Recht, wie Begegnungen mit queeren Brasilianer*innen zeigen.
Text: Lisa Kuner
«Brasilien war schon immer ein homophobes Land», sagt Natalia Pasetti. «Aber die letzten Regierungen haben wenigstens versucht, das zu verbessern.» Jetzt sei das Gegenteil der Fall, Homophobie werde salonfähig gemacht.
In Rio de Janeiro setzen sich Pasetti und Douglas de Lacerda mit ihrer NGO «Casinha» ein. Das «Häuschen» soll ein Schutzraum für LGBTIQ sein, die aus ihren Familien verstossen werden oder aus sonstigen Gründen Unterschlupf brauchen. Brasilien führt regelmässig die Statistik mit den meisten getöteten LGBTIQ an. Viele konservative Familien akzeptieren die Sexualität ihrer Kinder nicht: «Immer wieder wird von der traditionellen brasilianischen Familie gesprochen. LGBTIQ gehören da für Bolsonaro nicht dazu», sagt Pasetti.
Nachdem das Oberste Gericht des Landes in einem Urteil Ende Mai Homophobie offiziell als Verbrechen eingestuft hatte, liess die Kritik des Präsidenten nicht lange auf sich warten: Das Gericht habe «komplett Unrecht», weil es sich in die Gesetzgebung eingemischt habe. Bolsonaro wird nicht aufgeben.
Unternehmen ziehen Unterstützung zurück Schon während seines Wahlkampfs erreichten die Aktivist*innen vermehrt Anfragen von LGBTIQ, die Unterstützung brauchten. Das ganze Land war polarisiert, viele Familien entzweite die politische Auseinandersetzung. Nach einem halben Jahr unter der neuen Regierung bemerken die Aktivist*innen, wie die Finanzierung ihrer Arbeit immer schwieriger wird: Die Regierung kürzt Mittel oder verlängert Projekte einfach nicht. Dazu kommt auch, dass viele Unternehmen, die sich früher bewusst für LGBTIQ einsetzten, begonnen haben, diese Aktivitäten einzustellen, wie etwa der riesige Bierproduzent Skol.
Lacerda ist überzeugt, dass die Arbeit von «Casinha» jetzt wichtiger ist als je zuvor: «NGOs müssen jetzt die Arbeit machen, die der Staat nicht macht», sagt er. Er und Pasetti sind sich aber auch der Tatsache bewusst, dass die Situation in Brasilien für immer mehr Menschen untragbar wird: «Wer bleiben und mit uns kämpfen will, ist herzlich willkommen. Wir brauchen viele Leute», sagt Pasetti. «Aber ich verstehe auch, wenn jemand geht: Das ist oft eine Frage von Leben und Tod.»
Für Indianare Siqueira, die sich für die Rechte von trans Menschen einsetzt, ist das oft nicht anders. Ihr Aktivismus begann in den Achtzigern mit dem Kampf für die Versorgung von Menschen mit HIV und AIDS, heute ist sie eine der bekanntesten Trans-Aktivist*innen Brasiliens. Die aktuelle Regierung treibt sie in die Verzweiflung.
Versorgung von HIV-Positiven gekürzt «Wir brauchen dringend Hilfe!», sagt sie. Ihre Stimme zittert und Siqueira beginnt zu weinen: «Die internationale Community muss uns unterstützen. Wir führen hier einen Überlebenskampf». Der Conselho LGBTQ, ein Rat, der sich auf nationaler Ebene für die Community einsetzte, wurde aufgelöst, die Mittel für die Versorgung von HIV-positiven Menschen gekürzt.
Es gibt grausame Verbrechen gegen trans Personen: In São Paulo wurde im Januar eine Frau ermordet und ihr Herz herausgerissen; es sind mehrere Fälle bekannt, in denen trans Frauen mehrfach überfahren wurden. Siqueira hat ihr nahestehende Menschen verloren, hat Angst um ihren HIV-positiven Lebensgefährten, denn in Rio drohen die antiretroviralen Medikamente auszugehen. Anfang Mai wurde ihr das alles zu viel, sie schluckte drei Schachteln Medikamente, wollte nicht mehr aufwachen. Freunde und ihr Lebensgefährte retten sie.
Flucht nach Morddrohungen Die neuen Ausmasse von Gewalt und Hass nehmen Siqueira mit, obwohl sie schon lange aktiv ist und schon viel gesehen hat: Nachdem sie als Aktivistin und Prostituierte in den Neunzigern Morddrohungen erhalten, floh sie aus Brasilien nach Frankreich. Weil sie eine Wohnung zur Prostitution vermietete, wurde sie dort zu fünf Jahren Haft verurteilt.
«Ich habe mich nie in meinem Leben so sicher und so friedlich gefühlt wie im Gefängnis», erzählt sie. Als sie nach der Hälfte der Zeit freikam, wollte sie das Gefängnis am liebsten nicht verlassen. Sie musste aber und kehrte zurück nach Brasilien, um dort ihrem Kampf für trans Personen weiterzuführen. 90 % von ihnen leben in Brasilien noch heute von Prostitution. «Ich bin Sexarbeiterin, das ist nicht schlimm. Das Problem ist Ausbeutung».
Mit meinem Bild machen sie im ganzen Land Kampagne gegen uns. Wir sind dadurch in direkter Gefahr.
Ihr Haus wird von sieben Kameras überwacht Siqueira setzt sich seither dafür ein, dass trans Personen auch in anderen Bereichen des Arbeitsmarkts eine Chance haben. Aber unter der neuen Regierung gebe es nur Rückschritte, die Gewalt sei eskaliert und die Situation unerträglich. «Ich habe jeden Tag Angst, wenn ich das Haus verlasse», sagt Siqueira. Sie lebt unter einem strengen Sicherheitsprotokoll, ihr Haus wird von sieben Kameras überwacht, immer wenn sie es verlässt oder zurückkommt, informiert sie einen Sicherheitsdienst. Ihr Gesicht und das einiger anderer Aktivist*innen wird immer wieder von Bolsonaro genutzt, um Stimmung gegen die Community zu machen: «Mit meinem Bild machen sie im ganzen Land Kampagne gegen uns. Wir sind dadurch in direkter Gefahr.»
Überwacht vom Militär Drohungen gehören für sie zum Alltag. Ein Mann vom Militär kommt zu nahezu allen öffentlichen Versammlungen, um zu filmen und die Videos auf rechten Websites zu posten. Innerhalb dieser Regierung sieht sie keine Möglichkeit zur Verbesserung, aber sie kann auch nicht aufgeben. «Entweder du bringst dich um oder du kämpfst jeden Tag», sagt Siqueira. Sie versucht sich jeden Tag neu für den Kampf zu entscheiden.
Um sein Leben hat der schwule Jose Brito Junior keine Angst, aber davor, wie seine Familie auf ein Coming-out seiner Sexualität reagieren könnte, dafür immer mehr. Der 23-jährige lebt in Niterói, im Grossraum von Rio de Janeiro, seine Familie kommt aus einer ländlichen Gegend im tausende Kilometer entfernten Nordosten Brasiliens. Sie weiss nicht, dass Junior schwul ist. «Die Welle von Homophobie im Land macht es noch schwieriger, mich vor meiner Familie zu outen», findet er.
Händchen halten auf der Strasse? Lieber nicht Wie fast alle Brasilianer*innen hat er im Wahlkampf die polarisierte Stimmung innerhalb der eigenen Familie erfahren. Immer wieder äusserten sich Verwandte positiv über Bolsonaro. «Ich hatte mich in kleinen Schritten darauf vorbereitet, es ihnen zu erzählen. Jetzt bin ich unsicher», sagt er. Schwul zu sein im ländlichen Raum, sei immer noch ein Event, in der Metropole Rio fühlte er sich darum wohler. Aber auch hier hat bei ihm die Unsicherheit zugenommen: Schon seit dem Wahlkampf vermeidet er es, händchen haltend auf der Strasse zu gehen.
Tief im Süden von Brasilien, nahe der Grenze zu Argentinien, lebt die 21-jährige Rafa Ella Brites. In ihrer Heimatstadt São Borja im Bundestaat Rio Grande do Sul ist alles etwas ruhiger, aber auch konservativer als in den Grossstädten. Seit 2016 lebt die trans Frau als Rafa Ella. Erst seit diesem Jahr ist für trans Personen eine Namensänderung möglich, ohne dafür vors Gericht gehen zu müssen. Darunter litt sie: «Es ist komisch, wenn du zum Beispiel im Gesundheitszentrum als Mann aufgerufen wirst, aber eine Frau bist», sagt sie. Das ist nicht ihre einzige Schwierigkeit: «Oft werde ich auf meine sexuelle Identität reduziert», sagt sie. Die Leute sähen keine Person mit einem komplexen Charakter, sondern nur eine trans Frau als Objekt sexueller Begierde.
Die Leute sehen keine Person mit einem komplexen Charakter, sondern nur eine trans Frau als Objekt sexueller Begierde.
Zwischenmenschliche Beziehungen sind vergiftet Hinzu kommt: «Ich habe richtig Angst, ich versuche, nicht so viel nachzudenken, sonst traue ich mich nicht mehr aus dem Haus», erzählt sie. In Brasilien wird jeden zweiten Tag eine trans Person ermordet, alle 23 Stunden ein Schwuler oder eine Lesbe. Allerdings nicht erst seit Bolsoaro an der Macht ist. «Bolsonaro und der Wahlkampf haben diese schwierige Situation noch verschlimmert», findet Brites. «Sie haben unserer Community das kleine bisschen öffentlichen Raum, das wir hatten, genommen.»
Ausserdem vergifte die aufgeladene politische Situation die zwischenmenschlichen Beziehungen. «Im Wahlkampf habe ich mich richtig mit meiner Familie gestritten, obwohl sie mich sonst unterstützt», sagt Brites. Trotz oder vielleicht auch gerade wegen der schwierigen Situation ist sie überzeugt, dass man weiterkämpfen müsse, und setzt sich in der Initiative VoteLGBT für die Belange von trans Personen ein.
Homophobe Menschen fühlen sich ermutigt Julio Nascimiento macht seinen Doktor in São Paulo. Nebenher engagiert sich der 25-jährige ebenfalls bei VoteLGBT. Ziel der Initiative ist es, die politische Community im Land sichtbarer zu machen, da sie auf der politischen Ebene stark unterrepräsentiert ist. Bei den letzten Wahlen zeigten sie zum Beispiel, welche Kandidat*innen LGBTIQ unterstützen. Als schwuler Brasilianer ist Nascimiento Anfeindungen gewöhnt: Dumme Sprüche auf der Strasse, abfällige Blicke – trauriger Alltag für ihn. Seine eigene Familie akzeptierte ihn nach seinem Coming-out mit 17 Jahren nicht mehr. Seine evangelikale Schwester tut es bis heute nicht, zu seiner Mutter hat sich das Verhältnis nur sehr langsam wieder verbessert.
«Auch wenn es keine konkreten Taten von Bolsonaro gibt, so führt sein Diskurs aber dazu, dass homophobe Menschen sich nicht mehr verstecken», sagt der Aktivist. Schon während des Wahlkampfs hätten homophobe Äusserungen ihm gegenüber stark zugenommen. Darum möchte er seinen vollständigen Namen lieber nicht veröffentlicht sehen, auch ein Foto lehnt er ab. Verständlich. «Ich fühle mich als LGBTIQ und Aktivist jetzt viel unsicherer als unter früheren Regierungen», erklärt Nascimiento.
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