«Was ist normal?» – Kritik an rechter Kulturkampf-Rhetorik
Kanzler Nehammer hat eine gefährliche Diskussion angestossen
Nächstes Jahr wird in Österreich gewählt, spätestens im Herbst 2024. ÖVP-Kanzler Karl Nehammer hat in diesem Sommer eine «Normalitätsdebatte» angezettelt, die auf viel Kritik stösst.
Die nächste Nationalratswahl in Österreich findet spätestens im Herbst 2024 statt. Derzeit führt die rechtspopulistische FPÖ in den Umfragen, mal gefolgt von der ÖVP, mal von der SPÖ auf Platz 2. ÖVP-Kanzler Nehammer muss um sein Amt bangen und stösst eine Debatte darüber an, was normal ist. Klima-Kleber und Identitäre sind es nicht, sagt er. Bleibt ansonsten aber recht nebulös.
Er wolle Politik «für die Vielen» machen, ohne «die Wenigen» zu vergessen, heisst es in seinem Tiktok-Video. Minderheitenschutz sei wichtig. Aber er wolle eben vor allem Politik «für die Normalen» machen.
@karlnehammer Was ist normal? Darf man überhaupt noch „normal“ sagen? Meine Meinung dazu im Video! #österreich #austria #karlnehammer #bundeskanzler #kanzler #politik #fürdich #foryou #fy #fyp ♬ Originalton – Karl Nehammer
«Normal» – das ist ein Begriff, den Gesellschaften weltweit über Jahrzehne als Gegenbegriff zu LGBTIQ verwendet haben, viele Menschen tun das noch immer.
Und: «Normal» ist ein Begriff, mit dem die rechtspopulistische AfD – für den Verfassungsschutz gar ein rechtsextremistischen Verdachtsfall – in Deutschland Stimmung macht. Was «unnormal» ist aus deren Sicht: «Genderpolitik» und «Frühsexualisierung» in Kindergärten.
Ausgerechnet von der AfD also lässt sich Nehammer mit seiner Diskussion offenbar inspirieren.
Werner Kogler, Chef des grünen Koalitionspartners, nannte Nehammers Ausdrucksweise schon «präfaschistoid». Ewa Ernst-Dziedzic, LGBTIQ-Sprecherin, erklärte gegenüber MANNSCHAFT: «Wir Grüne halten die Unterteilung der Menschen entlang solcher Begrifflichkeiten für sehr gefährlich. Das haben wir vom Bundessprecher herab von Beginn weg der Debatte auch sehr deutlich zum Ausdruck gebracht. Wir Grüne stehen für eine bunte, offene und pluralistische Gesellschaft, die sich aus all den wunderbaren Individuen in unserem Land zusammensetzt.»
Mario Lindner, LGBTIQ-Sprecher der SPÖ, erklärte: «Zeig mir deine Prioritäten und ich sag dir, wovon du ablenken willst – dieser alte Spruch beschreibt die ÖVP in den letzten Monaten leider besonders gut. Dass die österreichische Kanzler-Partei inmitten unzähliger Krisen und Belastungen lieber eine Debatte darüber anfängt, wer ‹normale› Menschen sind, beweist wie sehr sich diese Partei seit ihrer Übernahme durch Sebastian Kurz vor sechs Jahren aufgegeben hat. Statt sich um Teuerung, Inflation, Klimakrise, das zusammenbrechende Gesundheitssystem oder den Anstieg von Hassverbrechen zu kümmern, setzt man auf billigen Populismus ohne echte Lösungen. Man könnte diese Prioritätensetzung einer Partei als lächerlich abtun, aber leider ist der dahinterliegende Gedanke brandgefährlich», so Lindner auf MANNSCHAFT-Anfrage.
Die «Was ist normal»-Debatte sei am Ende nicht weniger als ein neuer Auswuchs, der rechten Kulturkampf-Rhetorik im Stil von Trump, Johnson oder der AfD. «Denn wenn eine Partei, die sich seit Jahrzehnten gegen jeden Schritt für Fortschritt, wirtschaftliche Gerechtigkeit und gesellschaftliche Gleichberechtigung stemmt, entscheidet, wer normal ist, dann ist leider auch klar, wer eben nicht in die gesellschaftliche Normalität passt: Marginalisierte Gruppe, Menschen mit anderer politischer Meinung, jene, die sich für Inhalte einsetzen, die Nehammer und co. eben nicht passen. Genau diese Spaltungsrhetorik beweist einmal mehr, wie dringend Österreich neue Mehrheiten braucht!»
Noch vor Kurzem war es etwa «abnormal», dass zwei Frauen sich küssen oder ein schwules Paar offen Händchen hält
Auch Yannick Shetty, LGBTIQ-Sprecher der NEOS, hält nichts von der Debatte. «Das aktuelle ‹Normalitäts›-Theater ist ein durchschaubarer Versuch, im Sommerloch Schlagzeilen zu liefern. Dabei nimmt man in Kauf, unsere Gesellschaft weiter zu spalten. Noch vor kurzem war es etwa ‹abnormal›, dass zwei Frauen sich küssen oder ein schwules Paar offen Händchen hält oder gar gleichgeschlechtliche Paare Kinder adoptieren. Die ÖVP, die jahrzehntelang gegen Gleichberechtigung und gegen den Schutz von Minderheiten agitierte, sollte vorsichtig sein, Menschen als ‹nicht normal› zu stigmatisieren. Österreich ist bunter und vielfältiger als Bauernbund oder Landjugend», so Shetty gegenüber MANNSCHAFT.
Diese «Scheindebatten» seien bereits bekannt: «Die Koalitionspartner Kogler und Nehammer zankten sich über den Sommer öffentlich in Interviews, während echte Reformen auf sich warten lassen. Wir kennen das vom mehrmals versprochenen Verbot von Konversionstherapien. Grünen-Klubobfrau Maurer hat dieses etwa pünktlich zum Pride Month hervorgeholt, nur um es nach einem öffentlich inszenierten Streit mit der ÖVP wieder in der Schublade zu begraben. Das Parlament hat bis heute keinen Gesetzentwurf gesehen. Viel Show, wenig Substanz.»
Elke Kahr (KPÖ) liess uns wissen, sie beteilige sich nicht «an dieser wahlkampfbedingten Diskussion. Ich war und bin immer für alle Menschen da. Herkunft, Religion und Geschlecht spielen dabei keine Rolle. Das habe ich aus tiefster Überzeugung mein ganzes Leben so gehalten und erst recht als Bürgermeisterin der Stadt Graz.»
Auch den offen schwulen ÖVP-Mann Nico Marchetti haben wir angefragt, der jedoch eine Antwort schuldig blieb.
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