Neuzeitliche Hexenverfolgung oder: Was darf der ESC?
Über das Ansinnen, den Eurovision Song Contest zu verhindern
Der Eurovision Song Contest 2025 soll in der Schweiz stattfinden. Bzw. soll er das eben nicht, wenn es nach der EDU geht. Der Kommentar*
Eins ist klar: Hätte der diesjährige Eurovision Song Contest im Jahre 1650 stattgefunden, wären wohl viele der Teilnehmenden im Anschluss auf dem Scheiterhaufen gelandet. War doch die Dichte okkulter Gestalten dieses Mal aussergewöhnlich gross. Als wir die Show in einem kleinen Grüppchen sahen, war daher auch bei uns das vorherrschende Thema, welche der unzähligen Gothic-Hexen im Wettbewerb am besten performt hat. War es der irische Act Bambie Thug, der während der Performance den Leibhaftigen heraufbeschwor? Raiven, die Männer verführende Mänade aus Slowenien? Oder doch Kräuterfrau Teya Dora aus Serbien?
Wir müssen uns allerdings nicht ins tiefste Mittelalter zurückversetzen, um den Vorwurf der Ketzerei zu vernehmen. Denn auch im Jahr 2024 soll der Scheiterhaufen wieder angefeuert werden. Zumindest wenn es nach der christlich-nationalkonservativen Partei EDU in der Schweiz geht (MANNSCHAFT berichtete). Diese droht derzeit mit einem Referendum gegen alle ESC-Bewerbungen und will über mögliche Kredite abstimmen lassen. In Zürich tritt auch der Bund der Steuerzahler als Opposition auf, genau wie die Schweizerische Volkspartei in Bern. Einzig in Basel und Genf, den beiden anderen möglichen Austragungsorten, regt sich bislang kein regionaler Widerstand.
In einem Statement teilt die EDU mit, dass sich der ESC in eine bedenkliche Richtung entwickelt habe und Satanismus und Okkultismus zelebriert würden. Ja, die vielen düsteren Beiträge fielen in diesem Jahr durchaus auf, aber als schwedischen Hexen-Sabbat würde ich die Veranstaltung mit ihren vielfältigen Beiträgen dann doch nicht bezeichnen. Die zugrundeliegende Frage lautet ja wie so oft: Was darf Kunst? Und in diesem speziellen Fall: Was darf der ESC?
Ich sage: Kunst darf das. Und (mit Blick auf die Statuten des Wettbewerbs): Der ESC darf das. Dass die Beiträge der letzten Jahre reichlich wenig mit jenen aus den Anfangstagen des Wettbewerbs zu tun haben, als adrett gekleidete Sänger*innen sich noch an einem Mikroständer festklammerten, ist klar. Die Musikszene hat sich weiterentwickelt und verkauft wird heute ein Gesamtpaket. Das ist nicht erst seit gestern so. Auch die Vielfalt an Musikrichtungen, die uns mittlerweile beim ESC begegnen, bedingt, dass immer wieder auch Gothic-Elemente auf der Bühne zu sehen sind und waren. Man denke etwa an die ESC-Gewinner von 2006, die finnische Metalband Lordi, die genauso gut aus den Untiefen der Hölle gekommen sein könnten wie diesjährige Künstler*innen. Auch der Regelkatalog des ESC sagt ganz klar „Kunst darf das“ und benennt keine nennenswerten Einschränkungen, was die visuelle Darbietung der Teilnehmenden betrifft.
Anders verhält es sich im Falle politischer Inhalte, die im Rahmen des ESC nicht geduldet werden. Die angeblich zunehmende Politisierung ist denn auch ein weiterer Kritikpunkt der EDU und stelle zudem ein Sicherheitsrisiko dar. Doch politisch war der ESC seit seiner Gründung im Sinne der Völkerverständigung nach dem Zweiten Weltkrieg schon immer. Auch wenn die politischen Botschaften mittlerweile tatsächlich wenig subtil und zunehmend plakativer von der musikalischen Bühne geschrien werden.
Die Form darf man also durchaus kritisieren und mitunter wären auch schärfere Sanktionen ähnlich wie bei Sportgrossveranstaltungen wünschenswert. Auch, wenn ich die transportierten Botschaften grösstenteils gutheisse, gehören politische Symbole, wie beispielsweise Flaggen (Länderflaggen ausgenommen), für mich nicht auf die Bühne. Und subtile Worte wie Conchita Wurst sie bei ihrer Dankesrede 2014 wählte, taugen meiner Ansicht nach zu deutlich stärkeren und nachhaltigeren Statements als die kurze Zurschaustellung von Symbolen nach der Holzhammermethode. Für welche Zwecke die Teilnehmenden die ihnen zuteil werdende Aufmerksamkeit nach Austragung des Wettbewerbs nutzen, sei wiederum ganz ihnen überlassen.
Es ist nur legitim, die eigene Popularität für Belange zu nutzen, die einem wichtig sind. Nur sollte das den Contest nicht unmittelbar tangieren. Denn wird die eigentliche Veranstaltung zu offenkundig politisiert, droht sie uns vielleicht irgendwann wirklich zu entgleiten. Keiner verlangt im Übrigen, dass eine christlich-konservative Partei den ESC oder dessen Entwicklung gutheißt. Auch ein Statement, das den Unmut der Partei zum Ausdruck bringt, ist absolut legitim.
Eine derartige Aktion wie ein Referendum, das die Finanzierung des Wettbewerbs in Gefahr bringt, schiesst aber deutlich über das Ziel hinaus. Rund um die Austragung des ESC wird immerhin auch unglaublich viel Geld verdient, nicht nur ausgegeben. Der Vorwurf satanistischer Propaganda und politischer Instrumentalisierung scheint mir im Falle der EDU scheinheilig. Der diesjährige ESC kam zugegebenermassen deutlich politischer daher als frühere Veranstaltungen, es dürften aber vielmehr die politischen Inhalte sein, die der Partei widerstreben.
Ich jedenfalls wünsche der Schweiz schon jetzt einen famosen ESC und versuche, nach Möglichkeit selbst vor Ort zu sein. Bleibt also zu hoffen, dass das Wetter auch weiterhin unbeständig bleibt, und der Regen dafür sorgt, dass der neu errichtete Scheiterhaufen gar nicht erst anfängt zu brennen.
*Die Meinung der Autor*innen von Kolumnen, Kommentaren oder Gastbeiträgen spiegelt nicht zwangsläufig die Meinung der Redaktion wider.
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