Muttersprache – oder: Lernt ein Kind mit zwei Vätern eine Vatersprache?
Die gängige Verwendung des Begriffs «Muttersprache» zeigt, wie Geschlechtskonzepte in unserer Sprache verankert sind. Anstatt von Muttersprache zu sprechen, schlägt unsere Kolumnistin vor, bei Eltern unterschiedlicher Herkunft von Mutter- und Vatersprache zu reden, um die Vielfalt der Sprachen und Sozialisierungsmöglichkeiten zu betonen.
Letztens moderierte ich ein Podium, und einer meiner Gäste, eine nicht-binäre Person, erklärte dem Publikum: «Meine Elternsprache ist Französisch.» Da realisierte ich: Ja, klar, das Wort «Muttersprache» ist gegendert. Ein Tag nach der Moderation lerne ich: In vielen anderen Sprachen sagt man ebenfalls «Muttersprache». Fachpersonen vermuten, dass das mit der Ansicht zu tun hat, dass es die Mutter sei, die einen aufzieht, und dass die Sprachentwicklung ja schon im Mutterleib beginne.
Hat ein Kind mit zwei Vätern denn eine Vatersprache?!
Versteht mich nicht falsch, das ist jetzt nicht ein Riesending oder so, aber: Das Beispiel zeigt uns doch sehr fest, welche Konzepte von Geschlecht in unserer Wortwahl verborgen sind. Angefangen beim «Mutterleib»: Ich erinnere uns alle gern daran, dass Körper kein Geschlecht haben und dass auch nicht-binäre Menschen und trans Männer schwanger sein können (und dass es Mütter gibt, die selbst nicht schwanger waren). Schwangerschaft ist nicht dasselbe wie Mutterschaft.
Die Ansicht, dass ein Kind von der Mutter aufgezogen wird, ist in Wirklichkeit auch nur eine von sehr vielen Möglichkeiten, aufzuwachsen – hat ein Kind mit zwei Vätern denn eine Vatersprache?!
Viel mehr Sinn würde es machen, bei Eltern unterschiedlicher Herkunft von Mutter- und Vatersprache zu reden. Meine Muttersprache etwa ist Schweizerdeutsch, genauer: Zürcher Dialekt, auf den meine Mutter stets bestand, während wir in der Ostschweiz aufwuchsen (Dialekte in der Schweiz: ein ernstes Thema).
Meine Vatersprache hingegen ist Hebräisch; nicht, weil ich zweisprachig aufgewachsen wäre, sondern weil mein Vater, gebürtiger Israeli, mit seinen Freund*innen und Verwandten Hebräisch sprach; meine Kindheit war geprägt vom Zuhören bei stundenlangen Telefonaten, Hebräisch war allgegenwärtig, wurde mir aber nie beigebracht.
Das führt zu einem lustigen Phänomen: Wenn ich irgendwo Hebräisch höre, überkommt mich ein kindliches Gefühl der Vertrautheit – aber verstehen tu ich beinahe nichts. Ich glaube, wenn mich irgendwer mal bezirzen und zu etwas überreden wollen würde, hätte die Person auf Hebräisch am meisten Chancen. Ich würde zwar nicht verstehen, worum es geht, aber ich wäre voll dabei.
Gleichzeitig gibt es immer wieder Momente, in denen meine Vatersprache in mein Leben grätscht. Seit ich in Zürich wohne (dem Zentrum meines Mutterdialekts), ist Fahrradfahren ein verkehrsintensives Abenteuer. Manchmal warte ich darauf, dass ein Auto vor mir endlich losfährt, ein Lichtsignal nach gefühlten Stunden auf Grün springt, Velofahrende vorwärts machen. Dann höre ich mich plötzlich «Nu!» rufen, ein Ausdruck der Ungeduld, den ich auf Deutsch vergebens suche. Nu!, ein uralter jiddischer Ausspruch, der mich als Kind passiv begleitet hat. Jetzt, in Momenten der Ungeduld, des Geschehens, ist er plötzlich präsent.
Das also ist meine Vatersprache. Sie hat wenig mit Blutsverwandtschaft und viel mit Nähe und Kultur zu tun. Es ist, als wäre Elternschaft eine Frage der Sozialisierung – nicht der natürlichen Ordnung.
Bi the way
«Bisexuell, Berufsaktivistin und Büsi*-Fanatikerin. Anna Rosenwasser ist Polit-Influencerin und lebt in Zürich.»
Rosa Buch
In ihrem «Rosa Buch – Queere Texte von Herzen» feiert Anna Rosenwasser die Vielfalt, schreibt gegen herrschende Normen an und plädiert für die Liebe, dazuzulernen, ohne Angst zu haben vor Fehlern.
[email protected] *Büsi ist Schweizerdeutsch für Katze Illustration: Sascha Düvel
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