«Marlene»: Sven Ratzkes Dietrich-Dekonstruktion in Berlin
Der Entertainer schlüpft in die Rolle der Überdiva und sucht die Dietrich in sich
Am Renaissance Theater in Berlin spielt Sven Ratzke im Oktober die Rolle von Deutschlands berühmtestem Filmstar – als langen inneren Monolog, kombiniert mit einem Konzert mit den besten Liedern von Marlene Dietrich.
Die britische Dramatikerin Pam Gems hat sich im Laufe ihrer langen Karriere darauf spezialisiert, Stücke übers Leben berühmter Leute zu schreiben. Ihr Drama «Piaf» (1978) wurde international viel gespielt – und das 1996 entstandene Werk «Marlene», als Selbstgespräch der alternden Dietrich, in ihrer Garderobe kurz vor einem ihrer legendären späten Konzerte. Dieser Monolog-einer-Diva hatte in Deutschland eine besondere Karriere, nachdem Judy Winter die Titelrolle im Berliner Renaissance Theater übernahm und jahrzehntelang spielte, mit Schwanenmantel, blonder Perücke und viel Musik im zweiten Teil, ursprünglich begleitet am Flügel von Adam Benzwi. (Es gibt eine CD davon.)
Das Pam-Gems-Werk ist so gegliedert, dass man im ersten Teil einen kursorischen Vortrag übers Leben der Dietrich zu hören bekommt, wo alles angesprochen wird: von der Kindheit, der Begegnung mit Regisseur Josef von Sternberg, dem Umzug nach Hollywood, Hitler, dem aktiven Einsatz für die Alliierten mit Konzerten an der Front im Zweiten Weltkrieg, die Beschimpfungen als «Vaterlandsverräterin», als die Dietrich später nach Deutschland zurückkehrte. Und ihre Geldnot, in späten Jahren, wegen der sie – in der fiktiven Gegenwart des Stücks – wieder auftritt mit ihren berühmten Songs, von «Ich bin von Kopf bis Fuss auf Liebe eingestellt» bis zu «Johnny, wenn du Geburtstag hast», «Lili Marleen» und «Illusions».
Am Schluss liegt die Dietrich – wie ganz am Anfang auch schon – einsam im Bett, zieht die Decke über den Kopf und ist im Grunde fertig mit der Welt. Es fällt ihr schwer, ihrem eigenen überlebensgrossen Image zu entsprechen. Sie zieht sich zurück aus der Öffentlichkeit, weil sie die Erinnerungen an die Glamour-Version von sich selbst nicht trüben will. Man kann das traurig, ja sogar tragisch nennen. Es entspricht der Realität der Dietrich-Biografie.
«Gender reverse» Nach all den Jahrzehnten von Judy Winter als Marlene, hatte das Renaissance Theater nun die Idee, das Stück neu zu beleben für ein neues Publikum – aber natürlich musste das deutlich anders werden, damit die Neufassung neben der legendären Winter-Interpretation bestehen kann. Und so kam man der Plan auf, die Titelrolle mit Sven Ratzke zu besetzen. Solche «gender reverse»-Besetzungen sind ja gerade stark in Mode.
Im besonderen Fall von Marlene Dietrich ist es natürlich so, dass ziemlich viele Dragqueens ins Kostüm von Deutschlands berühmtestem Filmstar geschlüpft sind – weil sie nicht nur Star, sondern Mythos ist. Eine offen queer lebende Frau, jemand, der Gendernormen immer wieder öffentlich in Frage gestellt hat, jemand, der sich politisch von den Faschisten nicht vereinnahmen liess, jemand, der sich selbst neu erfunden hat. Jemand, der wirklich singulär in der deutschen Unterhaltungsgeschichte dasteht. Und auch heute noch eines der berühmtesten Gesichter der Welt ist – übrigens Copyright geschützt. Wer Marlene aufs Cover von Postern oder CDs, Büchern oder Theaterstücken nimmt, muss dafür an die Erben zahlen. Und die Beträge sind nicht gering.
Zum anhaltenden Dietrich-Boom gehört, dass momentan in Hollywood an der Verfilmung von Maria Rivas Buch «Meine Mutter Marlene» gearbeitet wird, ursprünglich im Jahr des Todes von Marlene Dietrich erschienen, also 1992.
Schattenspiel Als Sven Ratzke am Anfang von «Marlene» als Schattenspiel seinen Monolog startet und darüber spricht, dass er sich «neu erfinden» bzw. «Marie Magdalene Dietrich» abstreifen wollte, um jemand Neues zu werden, dachte ich kurz: Wow, das wird ein grandioser Abend, auch vorm Hintergrund von aktuellen Diskussionen übers Selbstbestimmungsgesetz (MANNSCHAFT berichtete), besonders aber, weil Ratzke die Textzeilen fast sachlich-trocken vortrug, als eine Art Dekonstruktion der Dietrich.
Doch dann öffnet sich der Vorhang, wir sehen einen kleinen schwarz-verspiegelten Raum, in dem ein Bett steht (Bühne: Ezio Toffolutti). In dem liegt die Dietrich und aus dem heraus irrt sie umher – im Gespräch mit sich selbst als Spiegelbild, aber auch mit ihrer Assistentin Viv (gespielt von Johanna Asch), die versucht, sie für den Auftritt am Abend irgendwie bereit zu machen.
Für das am Premierenabend stark im 1. Rang vertretene junge Publikum, das die Dietrich-Geschichte vermutlich nicht im Detail kennt, sind die unendlich vielen Andeutungen in diesem «Stream of Consciousness» weitgehend unverständlich. Was ist das mit der «Vaterlandsverräterin», wieso wird Dietrich von ihren Landsleuten bei der Rückkehr bespuckt? Auch in der neu bearbeiteten Fassung von Connie Palmen bleibt hier alles vage. Und Ratzke als alternde Frau, gebückt laufend und von Schmerzen geplagt, ist … lächerlich. Sorry, aber ich kann das nicht anders formulieren. Man glaubt ihm diese Rolle in keiner Sekunde, vielleicht, weil ihm hier das schauspielerische Vermögen fehlt, in eine Rolle zu schlüpfen, die er (zumindest vom Alter her) absolut nicht ist.
Gespenstische Erinnerungen Dadurch zieht sich der erste Teil des Abends arg in die Länge (Regie: Guntbert Warns), untermalt von atmosphärischen Klaviertönen, die Jetse de Jong am Flügel von der Seite beisteuert, als eine Art gespenstische musikalische Erinnerung an all das, wovon Ratzke als Marlene erzählt.
Wirklich in Fahrt kommt die Aufführung erst nach der Pause. Denn im zweiten Teil erleben wir das Konzert, für das Viv die Dietrich im ersten Teil vorbereitet. Da kommen dann die berühmten Lieder, eins nach dem anderen. Auf den Schwanenmantel verzichtet Ratzke zugunsten eines nach C&A aussehenden Modells (Kostme: Ian Griffiths). Auch hier ist Ratzke mehr Ratzke als Dietrich, diesmal ohne Anflüge von Schauspielerei. Wenn man das als reines Konzertprogramm betrachten würde – so wie der Künstler zuvor einen Bowie- oder einen Weill-Abend gestaltet hatte –, wäre dieser Teil separat absolut lohnend, in einer Venue wie zum Beispiel der Bar jeder Vernunft (dessen künstlerische Leitung bei der Premiere anwesend war). Auch weil Pianist Jetse de Jong hier massiv in die Tasten haut und brilliert. Komplett anders, als das einst Benzwi tat.
Diese «Marlene»-Neudeutung läuft im Renaissance Theater noch bis Februar 2024, erklärte Ratzke am Premierenabend in einer Schlussapplausansprache. Man könnte also vermuten, dass er noch auf dem Weg zu einer endgültigen Interpretation ist, noch nach der Dietrich-in-sich sucht. Wegen der vielen Aufführungstermine könnte man annehmen, dass ihm das auch noch irgendwann gelingen wird. Am Premierenabend war das (leider) noch nicht der Fall.
Die vielen prominenten Gäste – von Rosa von Praunheim bis Susanne Juhnke – applaudierten dennoch begeistert. Denn trotz aller Einwände, überstrahlte Sven Ratzke als Bühnenpersönlichkeit die Schwächen des Abends. Bemerkenswerter ist allerdings die Tatsache, dass der Mythos Marlene das alles seinerseits nochmal überstrahlte. Und zwar so sehr, dass es sich dann doch lohnt, sich diese «Marlene»-Neuauflage anzuschauen. Jedenfalls, wenn man sich für die Diva und ihre ungebrochene Wirkungsmacht interessiert.
Eine neue Ausstellung in New York würdigt Marlene Dietrich mit 250 Fotos – viele der Bilder sind zum ersten Mal zu sehen (MANNSCHAFT berichtete).
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