Kampf um Gleichstellung in Österreich «noch lange nicht vorbei»
Die Regierung in Österreich ordnet ihre Agenda dem Thema Migration unter. Ihre ganze Politik? Fast, denn gerade an der Ehe für alle scheiden sich seit dem Sommer die türkis-blauen Geister.
Ein Drama in türkis-blau: Seit fast einem Jahr wird Österreich von ÖVP und FPÖ regiert. Die neue Regierung ordnet ihre Agenda dem Thema Migration unter. Ihre ganze Politik? Fast, denn gerade an der Ehe für alle, beim Kampf um Gleichstellung, scheiden sich seit dem Sommer die türkis-blauen Geister …
Seit Dezember 2017 hat Österreich eine neue Regierung. Nach den Neuwahlen vor knapp einem Jahr regiert die (ehemals christlich-soziale, heute türkise) ÖVP mit der freiheitlichen Partei (FPÖ) in Rechtsbündnis, das von Sebastian Kurz geführt wird. Kurz hat seine Partei im Juni 2017 übernommen und Österreich in Neuwahlen geführt. Seine Regierung setzt seitdem auf eine einfache Strategie: Sie ordnet fast alles dem Migrations- und Flüchtlingsthema unter.
Im Windschatten von Diskussionen über Kopftuchverbote und Polizeipferde wurde dabei eine Reihe von Maßnahmen durchgepeitscht, die alles andere als beliebt sind. Von der Streichung des bereits beschlossenen Rauchverbots in der Gastronomie, über die Umgestaltung der Unfallversicherung bis hin zu einem neuen Arbeitszeitgesetz erwies sich die Regierung bisher als brave Erfüllungsgehilfin ihrer Freunde in Wirtschaft und Industrie. Das Geheimnis zum Erfolg liegt für Kurz und FPÖ-Chef Strache dabei vor allem in einer minutiös geplanten Kommunikation. Streit und Widerspruch sollen der Vergangenheit angehören, stattdessen bekommt die Bevölkerung ein abgestimmtes Wording präsentiert.
Wie heikle Themen umschifft werden Diese Strategie hat es dem türkis-blauen Bündnis bisher erlaubt, auch heikle Themen zu umschiffen. FPÖ-Chef Strache bezeichnete etwa die Einführung eines 12-Stunden-Tages vor wenigen Jahren noch als „asozial“ – im Juli wurde dieses Vorhaben dann doch zum Gesetz. Beschlossen mit den Stimmen der FPÖ und durchgefochten von einer blauen Sozialministerin. Der gemeinsame Außenauftritt der Regierung hielt diesem (und anderen) Umfallern bisher stand. Doch gerade an einer Frage, mit der wenige gerechnet haben, entbrennt seit den Sommermonaten ein erster Streit: An der Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare.
Die Ehe für alle wurde in Österreich nicht von der Politik, sondern im Dezember 2017 durch den Verfassungsgerichtshof ermöglicht. Die Höchstrichter beendeten damit eine jahrelange Debatte und öffneten sowohl die Ehe, als auch die Eingetragene Partnerschaft (die bisher nur Homosexuellen offenstand) für alle Paare in Österreich. Dieses Urteil tritt am 1. Jänner 2019 in Kraft. Monatelang schwieg die Regierung zu diesem Urteil bis schließlich Ende August ÖVP-Justizminister Moser versuchte, aufkeimende Spekulationen zu beenden und erklärte, das Urteil vollständig umsetzen zu wollen.
Betretenes Schweigen Offensichtlich handelte es sich dabei um einen nicht ganz abgesprochener Versuch, wenn man das betretene Schweigen am Tag danach betrachtet. Aus den Regierungsparteien gab’s keinen Kommentar und schon gar keine sichtbare Unterstützung, nur der Regierungssprecher ließ ausrichten, dass noch verschiedene Optionen geprüft werden. Das könnte das Ende der Vorstellung gewesen sein, doch in Wahrheit war es nur der erste Akt in einem Schauspiel, das die österreichischen Medien seitdem beschäftigt. Erstmals seit Amtsantritt scheint die Kommunikation der neuen Regierung zu bröckeln.
Dem Schweigen auf Mosers Vorstoß folgten Widerstand aus katholischen Verbänden und eine Erklärung des FPÖ-Chefs, der zuerst mit der Kirche über das Thema reden wollte. Kanzler Kurz (sichtlich nicht ganz zufrieden darüber, in diesen Streit hingezogen zu werden, statt über sein Lieblingsthema Flüchtlinge zu reden) erklärte daraufhin im Fernsehen, dass er zwar gläubig, Religion aber Privatsache und das VfGH-Urteil anzuerkennen sei. Den dritten Akt des türkis-blauen Dramas dominierten wieder die Freiheitlichen, die mit dem Wunsch aufhorchen lassen, trotz des Urteils nach Wegen zu suchen, um die Ehe und vor allem „den klaren Willen, Kinder zu zeugen“ zu privilegieren.
Für ein Land wie Österreich, das lange als modernes Vorbild gefeiert wurde, ist das traurig.
Während die größere Regierungspartei diesen Streit anscheinend aussitzen will, sucht der Juniorpartner nach Schlupflöchern im Urteil der Höchstrichter. Diese Strategie offenbart nicht nur ein fragwürdiges Demokratiebewusstsein, sondern ist umso bemerkenswerter, wenn man die Gesamtstrategie dieser Regierung betrachtet. Im Regierungsprogramm werden LGBTIQ-Themen mit keinem Wort erwähnt, stattdessen wird bewusst bei Gleichstellungsprojekten gekürzt. Und nun entbrennt die erste Meinungsverschiedenheit in dieser Koalition gerade an der Öffnung der Ehe – nicht an den vielen fragwürdigen Entscheidungen und Umfallern der Regierung, sondern an (gerichtlich geklärten) gesellschaftspolitischen Fragen wie der Gleichstellung Homosexueller. Für ein Land wie Österreich, das lange als modernes Vorbild gefeiert wurde, ist das traurig … und vor allem ein Signal dafür, dass der Kampf um Gleichstellung für viele Gruppen in unserem Land noch lange nicht vorbei ist.
Ein Gastbeitrag von Mario Lindner. Lindner ist Sprecher für Gleichbehandlung und LGBTIQ der SPÖ-Fraktion im Parlament und Bundesvorsitzender der sozialdemokratischen LGBTIQ-Organisation SoHo. Nach seinem Coming-out auf der Regenbogenparade 2016 ist er momentan der einzig offen schwule Abgeordnete im Nationalrat.
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