«Jagdszenen in der Motzstrasse»? Was passierte nach Berlin Pride?
Ein 38-Jähriger kam verletzt ins Krankenhaus, sein Bruder erhebt schwere Vorwürfe gegen die Polizei
Am Samstag fand die Parade zum Christopher Street Day mit etlichen Zehntausenden Menschen statt. In dem Zusammenhang gab es am Abend und in der Nacht homophobe Übergriffe gegen Mitglieder der LGBTIQ-Community (MANNSCHAFT berichtete). Am Abend in der Motzstrasse im Regenbogenkiez soll sogar die Polizei rabiat gegen Feiernde vorgegangen sein. Die lässt die Vorwürfe intern untersuchen.
Der Berliner Anwalt Niko Härting war am Abend privat vor Ort und ist Augenzeuge. Er spricht bei Facebook von «Jagdszenen in der Motzstrasse», die die Polizei veranstaltet hätte.
In der Motzstrasse, aber auch in der Fuggerstrasse, wo sich am Abend noch viele Menschen auf der Strasse aufhielten und feierten, setzte die Polizei die Maskenpflicht durch. Problem nur, sagt Härting gegenüber MANNSCHAFT: Es gibt gar keine Maskenpflicht mehr im Freien. Nur bei Versammlungen oder Veranstaltungen, und beides sei es am Samstagabend nicht gewesen.
Der Anwalt spricht von einem «Rechtsbruch» seitens der Polizei und erklärt: «Es gab nur eine Strassensperre, das war mit Polizei und Bezirk abgesprochen, damit die Wirte da viel Fläche haben und innen nicht öffnen, um den Ansturm zu vermeiden.»
Nun gibt es Berichte von Besucher*innen der Motzstrasse, die klagen, es gab «keinerlei Abstände, keinerlei Masken, riesiges Gedränge». Stundenlang habe es niemanden interessiert, was die Polizei erzählt. Man wollte nach dem Marsch einfach noch irgendwo was trinken gehen, «aber das war echt ein Superspreader-Event», schreibt uns eine MANNSCHAFT-Leserin.
Andere sind frühzeitig gegangen, weil es die Polizei die ganze Zeit mit ihrer Präsenz schon so «ungemütlich werden» liess, sagt Anwalt Härting. In einigen Fällen kam es sogar zu handfesten Auseinandersetzungen.
Martin Soboll hat es erlebt und beschreibt es gegenüber MANNSCHAFT so: Sie waren zu dritt auf dem CSD. Der 55-Jährige mit seinem Lebensgefährten und sein jüngerer Bruder Oliver, der selber nicht schwul ist. «Er kam aus lauter Solidarität mit und hat dann noch die volle Wucht abgekommen.» Der 38-jährige Bruder wohnt gerade bei dem Paar, wegen Sanierungsarbeiten in seiner Wohnung – die drei Männer sind also aktuell ein Haushalt.
Sie waren noch im Regenbogenkiez essen, und wollten eigentlich schon nach Hause und ein Taxi rufen, aber am «Romeo & Romeo», in der Motzstrasse Ecke Eisenacher, beschlossen sie, noch ein Bier zu trinken, als Absacker. «Das war der grosse Fehler.»
Sie hätten dort nicht lange gestanden, dann seien die ersten Polizisten schon «breitbeinig» auf das Trio zugekommen und hätten gerufen: «Maske auf!» Martin entgegnete, es gebe auf der Motzstrasse keine Maskenpflicht. «Aber das wollten die nicht hören. Wir würden die Hygieneregeln nicht einhalten, sagten sie.»
Martin erklärte, dass er und sein Partner geimpft seien, der Bruder sei genesen. Doch der Polizist wurde immer aggressiver. Sein Bruder hatte an dem Abend viel getrunken und sagte, er setze keine Maske auf. Dann wurde es handgreiflich.
«Ein Polizist hat ihn geschubst, warum auch immer. Oliver rief dann: Fass mich nicht an! Und dann ging es wohl los: Die Polizisten stürzten dann auf ihn, es waren 15 – 20 locker. Er lag sofort auf dem Boden, dann haben sie einen Kreis gebildet und ihn da rein geschleift.“ Was dann passiert ist, konnte Martin nicht sehen, aber er sagt: Da müssen sie ihn zugerichtet haben.
Sein Verdacht: «Die stellen sich drum rum und einer verprügelt den, damit es keiner sieht.“ Fest steht: Danach war seine Kleidung zerrissen, Hemd und Hose, und auch seine Brille war weg. Und dann sei sein Bruder noch von den Beamten verhöhnt worden. «Mein Bruder ist ein bisschen füllig. ‚Du Fettsack, zieh mal deine Hose hoch‘, riefen sie. Und dann: ‚Ach nee, kannste ja nicht!‘»
Martin erinnert sich, wie sein Bruder immer wieder schrie: «Martin, Martin, mein Auge! Ich kann nicht mehr sehen!»
Er wurde dann von der Polizei mitgenommen und mitten in der Nacht am Platz der Luftbrücke entlassen. Von dort musste er selbst mit einem Taxi zur Notfallaufnahme im Elisabeth-Krankenhaus fahren. «Dabei wollten ihn sogar die Sanitäter sofort dort hinbringen», erklärt Martin. «Ich bin zutiefst erschüttert!»
Bei Oliver bestand der Verdacht auf eine Schädel-Hirn-Trauma. «Die Verletzungen am Auge rühren von einem Polizeistiefel», sagt Martin. Beweisen lässt sich das vorerst nicht.
Am Montagabend wurde er entlassen. Er habe immer noch starke Kopfschmerzen, das CT war unauffällig. Dienstag morgen muss er zum Augenarzt. Das Krankenhaus empfehle eine weitere Betreuung durch Hausarzt. Dazu kommt: Der Bruder ist schwer traumatisiert, vermutet Martin.
Auch den anderen beiden gegenüber habe sich die Polizei unangemessen verhalten. «Sie redeten mit mir als wäre ich der letzte Penner aus der Gosse», sagt Martin. Er habe sich mindestens 500 Meter entfernen müssen, dabei wollte er doch wissen, was mit seinem Bruder passiert. Bei seinem Lebensgefährten, einem gebürtigen Kubaner, habe man mit der Hand die Hosentaschen durchsucht und die Beine breit gestellt.
Bis Montag hätten sich bei Anwalt Härting insgesamt drei Personen gemeldet, die ähnliche Vorfälle gesehen oder erlebt haben. «Wir können von drei gravierenderen Fällen ausgehen». Ein offizielles Mandat von ihnen hat er noch nicht, aber er geht davon aus, dass die Betroffenen ihn bitten, dass er sie unterstützt.
Seit März 2020 gibt eine Corona-Helpline in seiner Kanzlei, dort würden immer wieder auch Polizeiübergriffe gemeldet. Auch Wirte hätten ihn angesprochen. Polizisten sollen bei regelmässigen Kontrollen teils «sehr massiv» geworden sein gegenüber Wirten. Teils seien ganze Mannschaften von Beamten in die Läden gekommen, hätten «auf schikanöse Weise» nach der Schanklizenz oder dem Hygienekonzept gefragt.
Immer wieder hört er Berichte über eine Sonderstaffel, «die gingen ziemlich rabiat vor». Sein Eindruck: Die Pandemiebedingungen führen dazu, dass die Leute nicht mehr so genau hinschauen, was die Polizei da eigentlich macht. Viele gingen davon aus, es habe angesichts der Pandemie schon seine Richtigkeit, was sie tun.
Sowohl Härting wie Martin Soboll betonen aber auch, tagsüber auf der Demo habe man die Polizei anders erlebt, es habe immer wieder freundliche Ansagen gegen, nach dem Motto: ‚Liebe Leute, bitte denkt dran, Abstand zu halten!‘
Er hat es auch auf CSDs in der Vergangenheit immer so erlebt, dass die Polizei zum Schutz der Community da sei. Die aber, die am Samstagabend unterwegs waren – «das schien eine andere Truppe zu sein.»
Nach wie vor gilt in der Öffentlichkeit der Mindestabstand von 1,5 Metern.
Am Montagabend kann Polizeisprecher Thilo Cablitz noch nicht viel zu den Vorwürfen sagen. Was die Maskenpflicht im Freien angehe, so sei die tatsächlich aufgehoben. Aber: «Nach wie vor gilt in der Öffentlichkeit der Mindestabstand von 1,5 Metern, darum waren die Kollegen auch im Einsatz. Sie haben Ansammlungen von Menschen verstreut: ‚Gehen Sie weiter oder halten Sie Abstand.‘»
Was nun den verletzten Oliver angeht, werde ermittelt. Was online dazu an Video-Material veröffentlicht wurde, habe man gesichert und weitergeleitet an das Kommissariat für Beamtendelikte beim LKA. Dort müsse geklärt werden, ob der Verdacht begründet ist, so Cablitz gegenüber MANNSCHAFT.
Allerdings würden die Festnahmen auch von den Beamt*innen selber dokumentiert. Es seien immer Kolleg*innen mit Kamera vor Ort. Einige filmten drumherum, andere filmen die Festnahmen an sich. Auch dieses Material werde jetzt ausgewertet. Es drohten Konsequenzen für die Kolleg*innen, wenn die Vorwürfe belegt werden, «ohne Wenn und Aber».
Was die Einkreisung bei Festnahmen angeht, sagt Cablitz: Diese müssten gesichert werden. Es sei am Samstag in einem anderen Fall auch zu einer versuchten Gefangenenbefreiung gekommen. Dies gelte es zu verhindern.
Insgesamt kam es am Samstag zu 12 Verstössen gegen die Infektionsmassnahmen: Sechs Strafanzeigen wegen Widerstands gegen die Polizei und tätlichen Angriffs sowie der eine Fall von Gefangenenbefreiung.
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