«Der Koran kennt Homosexualität nicht als Sünde»
Christian Hermann aus Berlin ist der erste schwule Imam Deutschlands
Christian Hermann ist der erste schwule Imam Deutschlands und vermutlich der einzige, der konfirmiert wurde – bevor er der evangelischen Kirche den Rücken kehrte. Über den Versuch, zwei Welten miteinander zu versöhnen.
Wenn man sich mit Imam Awhan unterhält, kann man sich gut vorstellen, wie seine sonore Stimme Räume füllt, große Räume. Wie die Mitglieder der Gemeinde seinen mit einem leichten Restdialekt Fränkisch gefärbten Worten lauschen. Momentan ist das für den ersten schwulen Imam aber noch Zukunftsmusik. Christian Awhan Hermann ist freischaffender, derzeit hauptsächlich virtuell tätiger Imam.
1970 in Koblenz geboren und in Fürth aufgewachsen, gehörte er zunächst der evangelischen Kirche an. Seine Mutter ließ ihn taufen, nicht aus übermäßig tiefem Glauben, sondern weil man das damals so machte. Auch die Konfirmation, zu der die Mutter gar nicht erst in der Kirche erschien, nahm er mit. Welcher Jugendliche mit Verwandtschaft lässt sich schon die vielen Geschenke entgehen. Als er anfing zu arbeiten, Christian ist gelernter Industriekaufmann, mochte er keine Kirchensteuer zahlen und trat aus – verließ «den Verein, der mir nichts bringt», wie er sagt.
Den Koran schenkte man ihm in der Fußgängerzone Mit Religion, besser gesagt: Religionen und Strömungen, fernöstlichen etwa, hat er sich aber in den Folgejahren intensiv befasst, etwa mit dem Buddhismus. «Aber es hat nie Klick gemacht.» So lebte er etliche Jahre mit Gott, aber ohne Ritualistik und religiösen Überbau.
Er begann, sich seelsorgerisch unter dem Namen Aura Sortea Beneficia als Mitglied der Schwester der perpetuellen Indulgenz zu engagieren. Zudem las er viele religiöse Texte, auch den Koran, allerdings in keiner besonders guten Übersetzung – das Exemplar hatte man ihm in Nürnberg in der Fußgängerzone geschenkt, noch vor der umstrittenen «Lies»-Aktion durch den Verein «Die wahre Religion», den das Bundesinnenministerium 2016 verboten hatte.
Gott ist so was Cooles, das muss man gar nicht begreifen
«Dass es da etwas größeres gibt, war für mich immer klar», sagt Christian, der immer Zwiesprache mit Gott hielt wie mit einem guten Freund, ohne sich einen alten Mann mit weißem Bart vorzustellen. «Gott ist so was Cooles, das muss man gar nicht begreifen», sagt er. Christian, der Imam, redet weiter von Gott, nicht von Allah. Aus islamischer Sicht sei der Gebrauch auch unstrittig. «Und wenn ich jetzt anfange immer Allah zu sagen, zwar ohne eine lobpreisende Formel, die ich mir aber vielleicht dazu denke, dann muss ich wissen was es in meinem Gegenüber auslöst. Dass es vielleicht eine Distanz schafft.»
Schwule und kopftuchlose Frauen willkommen Im Juni 2017 passierte in seiner Wahl-Heimat Berlin etwas, das seinen weiteren Weg entscheidend prägte. Die Anwältin und Frauenrechtlicherin Seyran Ateş eröffnete die liberale Ibn-Rushd-Goethe-Moschee. Besonderheiten: Ihr steht eine Imamin vor, nämlich Ateş, Männer beten dort gemeinsam mit Frauen – und zwar ohne Kopftuch – und: Die Moschee steht ausdrücklich auch queeren Menschen offen.
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Homosexualität: im Koran nicht verteufelt Nun las Christian nicht nur den Koran, sondern auch Zeitungen. Er wusste, wie repressiv das Leben in islamischen Ländern wie etwa Saudi-Arabien oder in einigen fernöstlichen Ländern ist. Zudem traf er im Rahmen seiner Schwestern-Arbeit bei Veranstaltungen immer wieder auf Muslime, die mit dem Islam ein Konflikt-Thema hatten. Christian war von der Idee einer liberalen Moschee begeistert. Für ihn war es neu, dass es Muslime gab, die das Thema LGBTIQ entspannt sahen, und so machte er in der neuen Moschee einen Termin. Bis es soweit war, schaute er nächtelang YouTube-Videos, die sich mit dem Islam befassten. Talkshows, Dokus. Auch den Koran las er zur Vorbereitung nochmal. Auch diesmal suchte er nach Stellen, die Homosexualität verteufelten – und fand sie nicht. Der Besuch in der Moschee änderte sein Leben. Dort erlebte er etwas, das er als metaphysisch beschreibt.
«Da war diese weisse Wand und ich hatte erst das Gefühl, die ist nicht richtig gestrichen. Ich sah dort etwas, und tatsächlich war es exakt die Gebetsrichtung nach Mekka. Solche Momente hatte ich immer wieder: Ich komme in einen Raum und weiß direkt, wo Mekka liegt.»
Treffen auf schwulen Imam aus Paris Der Gemeindekoordinator, beeindruckt von dem fundierten theologischen Wissen, das der Besucher mitbrachte, schnitt im Gespräch mit Christian das Thema Imamausbildung an. Seine seelsorgerische Arbeit bei den Schwestern würde ihm da sicher zugute kommen. Es dauerte dann nochmal drei Monate, bis Christian in der Ibn-Rushd-Goethe-Moschee Ludovic-Mohamed Zahed begegnete. Der gebürtige Algerier ist in Paris als Imam tätig, hat dort vor sechs Jahren eine LGBTIQ-freundliche Moschee eröffnet und ist selber schwul. Auch Ludovic, der Islamische Theologie studiert hat, berichtet in Interviews davon, dass ihm schon als Kind gepredigt wurde, dass Homosexualität eine Sünde sei – dabei stehe davon nichts im Koran.
Einen Monat später, im November, stieg Christian in den Imam-Kurs ein, den der Algerier via Skype unterrichtete. Schon im Dezember sprach Ludovic ihn mit Imam-Bruder an, wenn sie unter sich waren. «Das fand ich krass“, erinnert sich Christian. Damals war er in Marseille bei einem Workshop-Wochenende. «Du bringst alles mit», sagte Ludovic. «Es gibt zwar Dinge, die musst du lernen, aber das kommt noch.»
Plötzlich Imam Christian dachte nach und machte eine Art Plan. Im Jahr 2019 würde er so weit sein und sich selber Imam nennen. Dann folgte ein weiteres Seminarwochenende in Marseille mit 30 Teilnehmern. Und Ludovic stellte den Deutschen überraschend als Imam vor. Nun wollte Christian auch nicht mehr warten, der Moment war gekommen.
Natürlich ging das alles sehr schnell, aber mit dem westlichen Verständnis, wie eine Ausbildung auszusehen habe, komme man hier nicht weit, erklärt Christian: Einerseits gebe es Leute, die sagen, ohne acht Jahre Arabistik gehe gar nichts. Oder man müsse mindestens in Kairo oder Medina studiert haben. Auf der anderen Seite gebe es viele Imame in freien Gemeinden, die in diese Rolle hineingerutscht seien, erklärt er, ohne universitär organisierte Ausbildung. Teilweise übernehmen Söhne die Rolle von ihren Vätern.
«Sie hatten ein Problem damit, dass ich schwarz und schwul bin»
Seine Auffassung des Islams nennt er «progressiv-inklusiv». Der Koran gebe vor, dass die Menschen, und nicht nur die Muslime, die Aufgabe hätten, einander kennen zu lernen. Inklusive des Religionsverständnisses anderer. Man sollte nicht nur über den eigenen Tellerrand gucken, sondern sich auch auf den Teller einlassen, findet der Berliner Imam, der schräge Vergleiche mag. «Das wäre sonst sehr oberflächlich nach dem Motto: Magst du lieber Netflix oder Amazon Prime?»
Viele nehmen ihn noch nicht ernst Als schwuler Imam steht er zwischen zwei Welten, die er versöhnen möchte. Ob die beiden Communitys dazu bereit sind, wird sich zeigen. Während Ates, die Gründerin der liberalen Berliner Moschee, Morddrohungen erhält und Polizeischutz benötigt, hält sich der Gegenwind bei ihm sehr in Grenzen. «Man nimmt an vielen Punkten mein Wirken nicht ernst, nicht als Imam und nicht als Muslim. Es gibt Leute, die halten mich für einen durchgeknallten Typen, der sich das alles nur ausdenkt. Viele sind noch unsicher, was mich betrifft, und halten sich zurück.» Er habe jedenfalls keine einzige Androhung von Gewalt oder gar Mord erhalten. Dass er als Islamist oder gar als homophober Islamist beschimpft wird, komme dagegen schon vor. «Das muss ich aushalten», findet er.
Was die ablehnenden Reaktionen aus der LGBTIQ-Community betrifft, so seien das etwa zur Hälfte Menschen, die ein grundsätzliches Problem mit Religion hätten. Die anderen 50 % argumentierten nach dem Motto: Wie kann man sich nur als schwuler Mann dem Islam zuwenden, die sind doch alle so homophob?! Ein schwuler rechter Blogger überschrieb seinen Artikel über Imam Awhan mit den Worten, er habe sich «seinen Schlächtern an den Hals geworfen».
Wenn sich ein Muslim im Fernsehen outet
Religion muss den Menschen helfen Christian hat dazu eine klare Position: Ein Muslim, der LGBTIQ-Personen herabwürdigt oder gewalttätig wird, handelt unislamisch – «da gibt es gar keine Diskussion.» Diskriminierungen einzelner Personen oder Gruppen entsprächen nicht der Idee der grossen Buchreligionen wie dem Christentum, dem Judentum oder dem Islam. Denn: Religion sei dazu da, den Menschen zu helfen. Ein Imam sei ein Dienstleister, findet Christian, der die Probleme der Menschen ernst nehmen müsse. Wenn etwa ein muslimischer Mann eine atheistische Frau heiraten wolle, dann laute die Antwort von Islam–vertretern in der Regel: Nein. Das führe dazu, dass sich Menschen in ihren Gemeinden oft allein gelassen und nicht gesehen fühlten. «Man hört sie nicht an, sondern konfrontiert sie direkt mit einer Regel.» Zumal Muslime heute Auslegungen folgten, die im 9. Jahrhundert gemacht worden seien. Aber Religion muss sich immer wieder erneuern und überprüfen, sagt Christian.
«Religion muss sich immer wieder erneuern und überprüfen.»
Auch darum hat er sich mit dem Zentralrat der Muslime in Deutschland (ZMD) vernetzt. Am Tag unseres Interviews kommt er gerade von einem Telefonat mit dem ZMD und ist guter Dinge. Dass es seitens des Zentralrats problematische Aussagen zum Thema Homosexualität gibt, weiss er natürlich. So gab der Zentralratsvorsitzende Aiman Mazyek in einem Interview 2016 zu Protokoll: «Ich nehme Homosexualität für mich und religiös nicht an.» Aber, so fügte er hinzu: «Ich trete gleichzeitig ein gegen Homophobie, als Muslim.»
Christian ist der Ansicht, so etwas lasse sich langfristig nur im Austausch klären, nicht, indem er die anderen anprangere. Sein offener Ansatz lautet: «Hey, wird sind beide Mulisme – ist doch cool. Reden wir mal!»
Der Koran kennt Homosexualität nicht als Sünde Er weiss den Koran, die heilige Schrift des Islams, auf seiner Seite. Dort gebe es klare Anweisungen, etwa zur Gewaltlosigkeit. Mord sei tabu, Ehebruch ebenso. Man finde darin Listen, ähnlich den Zehn Geboten in der Bibel. Vom Kopftuch stehe da nichts, sagt Christian, und von Homosexualität auch nicht. «Im Mainstream-Islam wird Schwulsein zur grossen Sünde heraufstilisiert. Dabei gibt es das im Koran gar nicht, grosse Sünden und kleine Sünden. Und wenn es für Gott so wichtig wäre, zu zeigen, dass Homosexualität eine grosse Sünde ist – warum sagt er das dann nicht im Koran?»
Schwuler Imam aus Berlin schafft Anlaufstelle für LGBTIQ-Moslems
Für die Ibn-Rush-Goethe-Moschee arbeitet er seit dem Frühjahr nicht mehr. Es gab Spannungen zwischen ihm und Gründerin Ateş, deren Ausrichtung war ihm zu politisch; auch homophobe Tendenzen habe er dort wahrgenommen, sagt er. Dafür hat er eine kleine Gemeinde von etwa zwei Dutzend Personen aufgebaut, in Berlin, aber auch virtuell, die ihn über Facebook oder Skype erreichen. Nicht nur Menschen aus der LGBTIQ-Community. Es gebe schliesslich überall Menschen, die von ihrer Gemeinde enttäuscht sind und keinen Zugang zur Gemeinschaft vor Ort finden. Schätzungen zufolge gingen in Deutschland nur etwa 30 % der Muslime in die Moschee, sagt Christian. Im Vergleich zu den Christen sei das relativ viel, aber die 70 %, die nicht gehen, das seien seine potenziellen Schäfchen.
Seine Beratungen, aber auch Predigten will er virtuell anbieten. Sein Plan: komplette Gebete zu streamen, mit denen er auch Menschen in unterschiedlichen Zeitzonen erreicht. Deutschlands erster schwuler Imam hat viel vor. Eine eigene Gemeinde, gerne in Berlin, am liebsten in Kreuzberg, wo er wohnt, das wäre sein Traum. An dem er auch bereits arbeitet. Und wenn man bedenkt, wie rasant seine Entwicklung in den vergangenen Monaten verlaufen ist, so hat man wenig Zweifel, dass ihm auch das noch gelingt.
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