Kinderzimmer in Rosa und Hellblau? DAS ist Gender-Gaga!

Gleichberechtigung erreichen wir nur ohne Geschlechterstereotypen

Foto: Pixabay
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Alle reden von Gender-Gaga, wenn es darum geht, die Geschlechtervielfalt überall abzubilden. Niemand kommt jedoch auf die Idee, von Gender-Gaga zu sprechen, wenn wir Mädchenzimmer in Rosa und Knabenzimmer in Himmelblau ersäufen. Dabei ist gerade Letzteres total gaga, meint Predrag Jurisic in seinem Samstagskommentar*.

1897 trugen die Fussballer von Juventus Turin rosa Trikots samt schwarzen Schleifchen um den Kragen – wie süss! Rosa galt bis dahin als männliche Farbe – als die kleine Schwester von Rot, die schon im alten Rom die Signalfarbe der Männlichkeit repräsentierte. Die Farbe der Mädchen war das Himmelblau, weil die Jungfrau Maria diese Farbe trug. Entsprechend waren auch die Taufkerzen für Mädchen blau und solche für Jungs rot.

Doch dann kam die rosa Barbie oder? Zwar kennen wir die Barbie in ihrer vor Rosa triefenden Welt nur zu gut. Doch es waren vielmehr Matrosen und Arbeiter, die ab den 1940er Jahren das Blau als männliche Farbe etablierten, weil sie entsprechende Uniformen und Arbeiterklamotten trugen. Der Gender-Shift bei den Farben stammt also nicht unmittelbar von der Barbie, sie hat ihn später sicherlich verstärkt. Die erste Barbie kam 1959 in einem schwarz-weiss gestreiften Kostüm der heutigen Juventus Turin Trikots.

Umso erstaunlicher ist es, dass sich jetzige Generationen von Eltern an sogenannten «Gender Reveal Partys» mit rosa und hellblauen Konfetti-Kanonen zu Tode bomben. Ist kein Witz, passiert wirklich. Und das nur, um ihrem Umfeld zu zeigen, ob das Geschlecht ihres Nachwuchses weiblich oder männlich ist. Was hingegen zwischen diesen beiden Polen auch noch sein könnte, klammern sie in ihrem rosablauen Wahn völlig aus – mit problematischen Folgen: Was, wenn das Kind trans oder intergeschlechtlich die durchgegenderte Welt erblickt und unter dem vorgelebten Gender-Druck dann leidet?

Ausgrenzung und Morddrohungen – weil Alex nicht-binär ist

Klar, die Mehrheit der Bevölkerung ist entweder männlich oder weiblich und fühlt sich später auch ihrem bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht zugehörig. Wie sieht es jedoch aus, wenn eine Person trans oder inter ist? Das Transgender Network Switzerland geht von einer Zahl zwischen 0,5 und 3 Prozent von Transmenschen in der Bevölkerung aus. Das wären aktuell zwischen 42’725 und 256’350 Menschen in der Schweiz, in Österreich etwas mehr: 44’650 bis 267’900 Menschen. In Deutschland dagegen wären es bereits zwischen 415’500 und 2’493’000 Personen – also ganze Metropolen.

Bei zwischengeschlechtlichen Menschen gibt es aus der Wissenschaft keine eindeutigen Zahlen, wie intersex.ch festhält: «Betroffenenorganisationen gehen von 1:500 bis 1:1000 Kindern aus, die irreversiblen kosmetischen Genitaloperationen und weiteren medizinisch nicht notwendigen Eingriffen ausgesetzt werden.» Das sind selbst in der Schweiz mehrere Kleinstädte, die unter der Geschlechterfixierung leiden. Diese Geschlechterfixierung macht also gesunde Menschen krank. Und das bloss, weil es manche Gemüter nicht aus ihrem Schubladendenken schaffen – mit der Begründung: a) zu anstrengend und b) «uh, neu, anders, Angst!».

Wenn mehr als zwei Geschlechter irritieren «Das Fehlen von zwei Geschlechterkategorien führt zu grosser Verunsicherung: Gehört doch die Einteilung in Frau und Mann zu den grundlegendsten Kategorisierungen des Alltags. Was irritiert uns mehr, als wenn wir bei einer Person auf der Strasse nicht genau einschätzen können, ob diese männlich oder weiblich ist?», antwortet Adrian Knecht auf die Frage, warum vermeintlich aufgeklärte junge Erwachsene dem rosablauen Wahn verfallen.

Als Projektleiter bei der Aids-Hilfe St.Gallen-Appenzell berät er regelmässig Transmenschen sowie Männer, die mit Männern Sex haben. «Die Verunsicherung, was zwischen dem weiblichen und männlichen Pol noch liegen könnte, wird also kompensiert. Und zwar durch die Manifestierung der bekannten Kategorien: Es reicht nicht mehr, auf der Geburtsanzeige das Geschlecht des Neugeborenen preiszugeben: «Es ist ein Mädchen!» Es braucht vielmehr eine Party, die notabene im Farbeimer des vermeintlichen Geschlechts des Nachwuchses ertrinkt. Die Eltern stellen in der offenen Welt der vielfältigen Möglichkeiten Sicherheit her. Allerdings nur für sich, nicht für das Kind.»

Darum wäre es für die gesamte Gesellschaft hilfreich, neben dem weiblichen und männlichen Geschlecht auch das diverse bzw. non-binäre Geschlecht anzunehmen – ob beim Pass, bei einer Bewerbung oder beim Kreditantrag in einer Bank. Dann stünde auch niemand mehr unter dem rosablauen Gender-Gaga, das derzeit Menschen aus- statt einschliesst.

«Das Geschlecht bestimmt die Stellung in der Gesellschaft» Auch wenn am Anfang eines jungen Lebens bloss eine unschuldige Farbe steht, so ist sie der erste Schritt zu einer ganzen Kette, die das soziale Leben später prägt: Der Farbe folgen gegendertes Spielzeug, gegenderte Kleider und irgendwann mal gegenderte Berufe. «Deshalb landet später auch die Mehrheit der Frauen in sogenannten ‹Kümmerjobs›, die obendrein schlechter bezahlt sind als viele männlich dominierte Berufe», stellt Viviane Probst, Kommunikationsfachfrau, immer wieder fest, wenn sie ihr Umfeld betrachtet. Auch stört sie sich daran, wie Eltern ihre Kinder erziehen: «Jungs werden dazu erzogen, sich durchzusetzen. Sie dürfen laut und wild sein, sich Freiheiten herausnehmen. Mädchen dagegen müssen hübsch anzusehen zu sein – und leise, lieb und unauffällig.» Das führe zwangsläufig dazu, dass sich Frauen auf ihr Erscheinungsbild als einzige Qualitätseigenschaft reduzieren lassen, während Männer den Versorger spielen, der den Frauen etwas bieten muss. Dieses Ungleichgewicht besteht auch heute noch.

«Und Hollywood, Disney und die Werbung zementieren dieses Bild auch noch: Männer sind die Helden, Frauen die Prinzessinnen, die nur darauf warten, gerettet und versorgt zu werden. Emanzipation geht anders», enerviert sich Viviane Probst.

Adrian Knecht sieht das ähnlich: «Geschlechterstereotypen bestimmen die Möglichkeiten und Grenzen für den kompletten Lebensentwurf.» Eltern minimieren so die Entfaltungsmöglichkeiten ihres Kindes, indem sie es auf das ihm bei der Geburt zugewiesene Geschlecht reduzieren: «Ich finde, es ist nicht unser Recht, die Möglichkeiten für den Lebensentwurf von jungen Menschen einzuschränken, indem wir sie geschlechterstereotypisch behandeln.» Aus seiner Zeit als Flugbegleiter zeigt er an einem Beispiel, wie Erwachsene im Alltag oft unbewusst Kinder in bestimmte Rollen drängen: «Es ist nicht richtig, einen Jungen, der beim Boarding das Cockpit besucht, zu fragen ‹Willst du auch mal Pilot werden?› und in der gleichen Situation zu einem Mädchen zu meinen: ‹Da hat’s viele Knöpfe, nicht wahr?› Die Frage muss lauten: ‹Was interessiert dich?› und sie soll allen Geschlechtern gestellt werden.»

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Auch schon Gender-gaga? Dann tu was dagegen! «Das Geschlecht bestimmt die Hobbies, die Vorlieben, die Berufswahl, das soziale Netz, die Stellung in der Gesellschaft und die Rolle in der Familie», fasst Adrian Knecht zusammen. Deshalb ist es enorm wichtig, Geschlechterstereotypen sein zu lassen: Wenn wir als Gesellschaft die Gleichberechtigung aller Geschlechter erreichen wollen, müssen wir bereits im Kinderzimmer ansetzen.

«Uns stehen Tausende Pantonefarben zur Verfügung. Warum wählen wir für die Kinderzimmer und Babykleider mal alles andere ausser Rosa und Himmelblau? Und warum überlassen wir nicht den Kindern später die Wahl, ihre Lieblingsfarbe zu bestimmen?» Viviane Probst ist selbst Patentante und achtet beim Geschenkekaufen darauf, nicht in die Gender-Farbfalle zu tappen oder stereotypisierte Spielzeuge zu kaufen.

Neben mehr Diversität bei den Farben spielt auch die Sprache eine wichtige Rolle im Alltag, wie Adrian Knecht betont: «Sprache schafft Realität. Unsere Kinder lernen die Wörter, die wir ihnen gegenüber benutzen. Was sprachlich nicht ausgedrückt wird, existiert nicht. Sprache schränkt also ein. Sprache kann aber auch bereichern, wenn wir sie so vielfältig wie möglich gestalten, anstatt sie zu limitieren.»

Deswegen ist das Einschliessen aller Geschlechter beim Sprechen und Schreiben eine weitere gute Möglichkeit, für mehr Inklusion statt Exklusion zu sorgen. Besonders dann, wenn sich manche über den Genderstern aufregen, weil er angeblich typografisch unschön sei oder ihnen beim Sprechen eine eigenartige Denkpause abnötige. Doch manchmal wären gerade solche Denkpausen hilfreich, um das eigene Verhalten zu reflektieren. Darum tu auch du was gegen das rosablaue Gender-Gaga. Denn Gender ist mehr als nur eine Farbe oder ein primäres Geschlechtsmerkmal.

*Jeden Samstag veröffentlichen wir auf MANNSCHAFT.com einen Kommentar oder eine Glosse zu einem aktuellen Thema, das die LGBTIQ-Community bewegt. Die Meinung der Autor*innen spiegelt nicht zwangsläufig die Meinung der Redaktion wider.

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