«Ernst und Röbi reichen nicht!»
Unseren schwulen und lesbischen Grosseltern auf der Spur
Im Livetalk «Es geht um Liebe» in Zürich stehen schwule und lesbische Lebensgeschichten im Fokus. Vor allem Letztere sind historisch schwierig aufzuspüren und drohen in Vergessenheit zu geraten. Ein Gespräch mit der Historikerin und Lesbenforscherin Corinne Rufli.
Warum sind schwule Männer in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sichtbarer als lesbische Frauen? «Weil sie Männer sind und Männer in unserer Gesellschaft schon immer einen anderen Stellenwert hatten», sagt Historikerin Corinne Rufli. Die Rollenbilder der damaligen Gesellschaft waren klar definiert. «In der Nachkriegszeit bis in die Siebzigerjahre galt für Frauen das Ideal der Ehefrau und Mutter.» Sie waren bevormundet, finanziell abhängig, der Zugang zu Bildung beschränkt. Der Wirkungsort der Frau war zuhause, im Haushalt und in der Kinderbetreuung. «Wie will man sein Leben frei gestalten in einer Gesellschaft, die Bildung für Frauen als nicht relevant erachtet? Männer hatten mehr Möglichkeiten, ihr Leben alleine und unabhängig zu gestalten. Dazu kommt, dass weibliche Sexualität unterdrückt und nicht ernstgenommen wurde.» Schwule Lebensgeschichten sind in dieser Zeit also häufiger zu finden als lesbische.
Eine unsichtbare Generation Der Livetalk «Es geht um Liebe» der Eventreihe «Verzaubert» wirft am 13. Januar ist von der Zürcher Kantonalbank initiiert und wirft einen Blick auf die zweite Hälfte des letzten Jahrhunderts – eine Zeit, in der Schwule und Lesben mit Ausgrenzung und Unsichtbarkeit zu kämpfen hatten. In der Community gut bekannt ist das Aktivistenpaar Röbi Rapp und Ernst Ostertag, deren Geschichte im mehrfach ausgezeichneten Kinofilm «Der Kreis» um die Welt ging. Wie sah es bei den Lesben aus?
Nebst Ernst Ostertag und Corinne Rufli wird am Livetalk auch Liva Tresch dabeisein. Die 86-Jährige Zürcherin, die im Kanton Uri aufgewachsen ist, war in den Sechziger- und Siebzigerjahren oft als Fotografin in der Zürcher Schwulen- und Lesbenszene unterwegs. Ihre Fotografien gelten als wichtige Zeitzeugnisse, um die Geschichten einer Community zu bewahren, die in den damaligen Medien und Büchern oft nur negativ oder am Rande erwähnt wurden – wenn überhaupt.
«Wo sind diese Frauen?» und «Was sind ihre Geschichten?», waren die Fragen, die Rufli begleiteten, als sie die Arbeit an ihrem Buch «Seit dieser Nacht war ich wie verzaubert» aufnahm. Die elf darin porträtierten Frauen sind alle über siebzig und haben unterschiedlichste Lebenswege eingeschlagen. «Diese Frauen überhaupt zu finden, war eine der grössten Schwierigkeiten», sagt die 40-jährige Historikerin. «Meine Grossmüttergeneration hatte weder Bezeichnungen noch Vorbilder für ihr Begehren.»
Vielfältige Lebensgeschichten Je mehr Frauen sie kennen lernte, desto mehr zeigt sich, wie unterschiedlich deren Lebensgeschichten waren. «Die einen realisierten schon mit zwölf Jahren – in den Fünfzigern –, dass sie anders waren, weil sie sich in ein Mädchen verliebt hatten», sagt Rufli. «Andere heirateten einen Mann, hatten Kinder – bis auf einmal eine Frau auftauchte. Sie verliebten sich und beendeten die Ehe.» In den Siebziger- und Achtzigerjahren sei es einfacher geworden, die Scheidung wurde salonfähig, war aber für viele Frauen immer noch ein Risiko. «Dann gibt es nochmals andere, die sich erst im Alter – als die Gesellschaft liberaler wurde – mit ihren Gefühlen auseinandersetzten, die sie ein Leben lang verdrängt hatten.»
Mit der politischen Frauenbewegung entstand in den Siebzigerjahren in Zürich ein Lesbenarchiv, bewusst wurde Material gesammelt und privat gelagert. «Die Frauen vertrauten den patriarchalen Institutionen nicht. Diese hätten ohnehin kein Interesse an feministischen oder lesbischen Themen gehabt, sagt Rufli. Heute ist das Lesbenarchiv im Sozialarchiv in Zürich integriert, zusätzliche Quellen finden sich in der Gosteli-Stiftung oder im Frauenarchiv Ostschweiz. Doch die lesbischen Lebensgeschichten springen einem auch dort nicht einfach an den Kopf. «Man muss sich die Zeit nehmen und die richtige Brille aufsetzen, damit man die Hinweise, dass eine Person lesbisch gelebt hat, auch erkennt. Viele Historiker*innen können das nicht, weil sie sich nicht damit auseinandergesetzt haben», sagt die Badenerin. «Es ist wichtig, dass diese Archive durchkämmt werden. Doch dafür fehlen finanzielle Ressourcen und das Bewusstsein für die Wichtigkeit, diesen Teil der Schweizer Geschichte aufzuarbeiten.» Ein positives Zeichen ist, dass Rufli – unterstützt vom Nationalfonds – in den nächsten vier Jahren zur Lesbengeschichte der Schweiz doktorieren kann: «Endlich kann ich forschen, ohne immer daran denken zu müssen, wie ich die Miete bezahlen soll.»
Durch private Nachlässe kommen einzelne Geschichten erst nach dem Tod ans Licht, darunter etwa Fotos, Tagebücher oder Flyer von Veranstaltungen. Als Autorin und Mitgründerin der Onlineplattform L-World.ch – die wie Wikipedia funktioniert – versucht sie, diese Geschichten zu bewahren und in Erinnerung zu behalten. Regelmässig leitet Corinne Rufli Lesbenspaziergänge durch Zürich und macht Lesungen aus ihrem Buch im In- und Ausland. Dabei kommt sie mit lesbischen Frauen aller Generationen in Kontakt. «Ich treffe auf 20-jährige Frauen, die riesige Probleme und Ängste haben, mit ihren Eltern zu sprechen. Es ist das gleiche Thema wie vor sechzig Jahren», sagt sie. Doch gleichzeitig gab es schon früher Frauen, die ihre Beziehung offen leben konnten und in der Familie akzeptiert waren. «Es geht nicht nur immer vorwärts, Homosexualität ist in unserer Gesellschaft noch lange nicht etwas Selbstverständliches. Und auch wenn bezüglich Sichtbarkeit und rechtlicher Situation viel gegangen ist, bleibt der Prozess des Coming-outs für viele schwierig. Es fehlt an einer offenen Kultur, an Vorbildern.»
Es fehlt an Vorbildern, die keine Normbiografie leben.
«Ernst und Röbi reichen nicht!» Dann braucht es also mehr lesbische Vorbilder? «Ja, unbedingt. Es fehlt im Allgemeinen an Vorbildern, die keine Normbiografie leben. Heiraten und Kinder haben – mit diesem Ideal wachsen wir heute noch auf.»
Die Community konnte über Jahre das Paar Ernst Ostertag und Röbi Rapp feiern. «Beide sind wichtige Vertreter einer gewissen Zeit und waren unglaublich präsent in den Medien und konnten so als Vorbilder fungieren», sagt Rufli. Es brauche jedoch mehr schwule Lebensgeschichten. «Wen gibt es sonst noch, der über 70 ist, schwul und sichtbar? Mein Appell an schwule Historiker: Sucht eure Grossväter und porträtiert sie. Ernst und Röbi reichen nicht!»
Ruflis Arbeit zeigt einerseits immer wieder, wie vielfältig die Lebensgeschichten von älteren, frauenliebenden Frauen sind. Andererseits haben sie auch vieles gemeinsam. «Mich hat berührt, dass die in meinem Buch porträtierten Frauen positiv auf ihr Leben zurückschauen – egal, was für – teils traumatische – Erfahrungen sie gemacht haben. Alle haben sich mit ihrer Geschichte versöhnt», sagt sie. Dennoch müsse einem bewusst sein, dass es nicht allen so gehe. «Es gibt viele Frauen, die bis heute nicht über ihre Gefühle zu anderen Frauen sprechen können – aus Angst oder Scham. Ihnen fehlt das Vokabular oder die Kraft. Diese Erzählungen bleiben für immer verborgen», sagt Rufli. «Das sagt viel über unsere Gesellschaft aus, die bis heute nicht bereit ist, den vielfältigen Lebensweisen Raum zu geben.»
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