Aids, Angst, queere Aktualität: «Engel in Amerika» am Residenztheater

In München wird das Mammutwerk von Tony Kushner als Saisonauftakt gespielt

Roland Koch, Nicola Mastroberardino, Michael Wächter (v.l.n.r.) in «Engel in Amerika» (Foto zvg von Birgit Hupfeld)
Roland Koch, Nicola Mastroberardino, Michael Wächter (v.l.n.r.) in «Engel in Amerika» (Foto zvg von Birgit Hupfeld)

Zur Spielzeiteröffnung brachte das Residenztheater München das LGBTIQ-Meisterwerk «Engel in Amerika» heraus, ein Spiegel der US-Gesellschaft in Zeiten von Aids in den 1980er-Jahren, worin auch den Beginn der Neuordnung der Welt nach dem Untergang der Sowjetunion behandelt wird. Beides nach wie vor hoch aktuelle Themen.

Zuletzt hatte das Residenztheater mit «Das Vermächtnis» ein queeres kulturelles Ausrufungszeichen gesetzt und das Werk von Matthew Lopez zur deutschsprachigen Erstaufführung gebracht (MANNSCHAFT sprach mit Regisseur Philipp Stölzl).

Genau wie «Das Vermächtnis» ist das frühere Stück «Engel in Amerika» von Tony Kushner ein Zweiteiler, der über sechs Stunden die Geschichten von verschiedenen Figuren erzählt, die mit der Homophobie von damals – in Politik, Religionsgemeinschaften und der Gesamtgesellschaft während eines konservativen Roll-backs – kämpfen müssen.

Der Intendant des Residenztheaters, Andreas Beck, sagt: «Das Stück hat nie an Aktualität verloren. Wenn wir diese Inszenierung jetzt noch einmal in die Hand nehmen, hat das nicht nur damit zu tun, dass wir alle sie sehr mögen. Wir glauben, dass wir durch die Pandemie und zusammen mit der Betrachtung von ‹Das Vermächtnis› von Matthew Lopez zwei Epen haben, die auf fantastische Art und Weise ein Panorama der letzten 40 Jahre bieten. Man könnte natürlich sagen, dass das anhand einer bestimmten Community geschieht, aber es geht längst darüber hinaus.»

Mormonen und Halluzinationen MANNSCHAFT traf vor der Premiere Pia Händler und Michael Wächter in München. Die beiden spielen in der Inszenierung von Simon Stone das Mormonen-Ehepaar Harper und Joe Pitt: Er betrügt seine Ehefrau heimlich mit einem anderen Mann, kann darüber aber mit ihr nicht sprechen. Sie schluckt Pillen, um ihre emotionalen Schmerzen zu betäuben und trifft in ihren Halluzinationen ausgerechnet den Lover ihres Mannes.

Michael Wächter und Pia Händler in «Engel in Amerika» (Foto zvg von Birgit Hupfeld)
Michael Wächter und Pia Händler in «Engel in Amerika» (Foto zvg von Birgit Hupfeld)

«Angels in America» wird von Tony Kushner im Untertitel beschrieben als «Gay Fantasia on National Themes». Spielt man als Schauspieler*in eine «Gay Fantasia» anders als ein Seelendrama von Ibsen oder ein Shakespeare-Stück? Hat man da andere – queere – Möglichkeiten? Pia Händler: Ich gehe das nicht anders an als andere Stücke. Klar, ein Ibsen ist schon anderes. Aber…

Michael Wächter: Man versucht ein Stück immer so konkret wie möglich zu spielen, egal welches Genre es ist und egal, ob es eher fantastisch oder realistisch ist. Bei Tony Kushner ist es beides. Wenn man dabei denkt: «Was ist denn hier los, das ist ja wie bei Steven Spielberg», dann hilft das, sich zurechtzufinden. Denn im Grunde ist die Geschichte sehr realistisch und alltäglich – nur dass halt jemand Engel sieht und sich zum Schluss die Engel treffen.

Aktuell sind im Kino oder in Serien Fantasy-Geschichten populär. Darin wird das Publikum aus dem Alltag in eine Fantasiewelt mitgenommen, wo Superheld*innen rumfliegen, Drachen leben oder Dinge passieren, die bei den meisten im Alltag nicht geschehen. Hat «Angels in America» auch das Potenzial, Menschen aus dem Alltag in eine solche Fantasy-Welt zu transportieren? Pia Händler: Auf alle Fälle. Gerade bei der Figur der Harper Pitt ist es so, dass sie sich immerzu wegträumt, indem sie Valium-Tabletten nimmt. Sie flüchtet in eine Fantasiewelt. Ich finde, «Angels in America» ist ein bisschen wie 1980er-Jahre-Musikvideos. Die habe ich als Kind viel gesehen und war davon immer ein grosser Fan. Da fängt auch alles ganz normal an, und plötzlich bricht eine andere Welt auf …

Zum Beispiel? Pia Händler: Ich denke da an Grace Jones’ «Slave to the Rhythm» oder Peter Gabriels «Sledgehammer» bzw. Michael Jacksons «Thriller». Wir spielen diese Musikvideos in unserer Inszenierung ab: Harper schaut sie die ganze Zeit, als eine Art Loop.

Harper träumt sich ja nicht in Fantasy-Welten hinein, weil sie Spass am Träumen hat. Sondern sie flieht aus ihrer Ehe mit einem schwulen Mann. Es ist schon spannend, dass in dieser «Gay Fantasia» eine der zentralen Figuren eine heterosexuelle Frau ist, die darunter leidet, dass ihr Mann Joe Pitt sie betrügt und nicht offen mit ihr sein kann. Ist das etwas, was du als moderne junge Frau nachvollziehen kannst – oder haben wir das inzwischen hinter uns gelassen? Pia Händler: Ich finde schon, dass wir das hinter uns gelassen haben. Aber trotzdem kann ich Harpers Lage gut nachvollziehen. Sie ist als gläubige Mormonin gar nicht mal gegen Homosexualität, sie kennt das einfach nur nicht. In dem Moment, wo sie vermutet, dass ihr Mann woanders unterwegs ist, als sie dachte, fragt sie ihn sogar. Er fragt zurück: «Was, wenn es so wäre?» Und sie antwortet: «Dann sind wir weiter!»

In meiner Kirche glauben wir nicht an Homosexuelle

In einer anderen Szene trifft Harper in einer Halluzination Prior, den heimlichen Liebhaber ihres Ehemanns. Sie stellt sich vor mit «Hallo, ich bin Mormonin». Und er sagt: «Ich bin homosexuell.» Darauf antwortet sie: «O, in meiner Kirche glauben wir gar nicht an Homosexuelle.» Und er kontert: «In meiner Kirche glauben wir nicht an Mormonen.» Sie fragt «In welcher Kirche?» und nimmt das erstmal als ganz alltäglich an.

Aber in dem Moment, wo es um ihren Mann geht, bringt es sie schon durcheinander. Wobei es sie vermutlich gar nicht so stören würde, wenn man drüber reden könnte und nicht alles heimlich laufen würde.

Wie es denn von der anderen Seite, den schwulen Ehemann zu spielen? Michael Wächter: Schauspielerisch ist es toll … je grösser das Problem ist, das eine Figur hat, desto interessanter ist es, sie zu spielen. Es gibt bei Joe ein hohes Mass an moralischem Bewusstsein, das ihm im Wege steht in einer Zeit, wo es nicht als normal angesehen wurde, homosexuell zu sein. Da war die öffentliche Moral an einem anderen Punkt als heute.

Und zu seinen Moralvorstellungen gehört eine gewisse Fürsorge um seine Frau. Ich denke, das hat nichts mit tiefer Liebe zu tun. Es ist eher ein Beziehungsmodell nach dem Motto: Das macht man halt so. Er nennt seine Ehefrau auch immer wieder «Kumpel» bzw. «Buddy». Körperliches Verlangen nach dem Ehepartner ist da – übersichtlich. Aber er will ein guter Mensch sein und bemüht sich, seine Ehe irgendwie am Laufen zu halten.

Roland Koch als Roy Cohen (l.) mit Michael Wächter in «Engel in Amerika» (Foto zvg von Birgit Hupfeld)
Roland Koch als Roy Cohen (l.) mit Michael Wächter in «Engel in Amerika» (Foto zvg von Birgit Hupfeld)

Pia Händler: Später, in der Szene mit Roy Cohen, lehnt Joe es ab, nach Washington zu gehen, weil er sagt, er habe eine Verantwortung. Das ist auch so was wie sein moralischer Anspruch an sich selbst … obwohl er eigentlich aus seiner Ehehölle raus will.

Michael Wächter: Als er sich dann endlich traut auszubrechen, endet es für ihn allerdings schrecklich.

Das Stück spielt in den 1980er-Jahren auf dem Höhepunkt der Aidskrise. Damals erlebten schwule Männer in den USA (genauso wie in Deutschland) krasseste Homophobie und Stigmatisierung wegen HIV. Könnt ihr euch diese Situation – und das damalige konservative Roll-back in der Gesellschaft in Bezug auf LGBTIQ – heute überhaupt noch vorstellen? Michael Wächter: Ich glaube, im Kleinen gibt es so was heute immer noch. Ich habe eine grosse Familie auf dem Lande, und da haben manche immer noch Ansichten wie vor 25 Jahren. Da fühlt sich das Leben manchmal nicht wie 2022 an, sondern in der Zeit stecken geblieben. Homophobie und sogenannte «konservative Werte» sind da heute nur anders verpackt. Als Schauspieler beschäftigt man sich immer viel mit der Zeit, in der ein Stück spielt. Und gerade diese Aidszeit ist wahnsinnig gut dokumentiert. Es fällt mir überhaupt nicht schwer, mich da zurechtzufinden.

Produzenten wie Ryan Murphy bemühen sich, einer jüngeren LGBTIQ-Generation den Horror von damals mit Filmen wie «The Normal Heart» zu vergegenwärtigen. Weil viele moderne Queers gar nicht mehr wissen, was damals los war. Können Amerikaner LGBTIQ-Geschichte besser über Unterhaltung vermitteln als deutschsprachiges Fernsehen oder Theater? Michael Wächter: Auf jeden Fall, da habe ich keinen Zweifel, dass das so ist. Auf jeden Fall!

Haben öffentlich-rechtliche Sender mit Bildungsauftrag nicht auch Interesse daran, Geschichte zu vermitteln? Andere Aspekte der Geschichte – wie der Zweite Weltkrieg oder die Weimarer Republik – werden ja auch in Serien rauf und runter behandelt. Nur nicht Queer History. Wenn man mal von «All You Need» absieht, mit Benito Bause, der bei euch im Residenztheaterensemble ist. Michael Wächter: Ich habe die Serie mit Benito nicht gesehen. Aber sie wurde angekündigt mit «jetzt machen wir das endlich». Da dachte ich: Wird ja auch Zeit! Aber Themen rund um Leidenschaft und Erotik, das haben die Deutschen nicht so drauf. Der englischsprachige Raum, die Franzosen, die Italiener sind da weiter, leichter, offener. Vielleicht liegt’s an der Sprache, dass es bei uns so rumpelt. Ich weiss es nicht.

«Angels in America» ist ein total witziges Stück

Unser Regisseur Simon Stone kommt als Australier aus einem anderen Kulturkreis, und deshalb war es wirklich erfrischend, gerade in Bezug auf diese Themen mit solcher Leichtigkeit und mit Witz zu spielen. Das kommt «Angels in America» sehr zugute, weil es ein total witziges Stück ist, genauso wie es schrecklich ist.

Es ist wie ein perfektes Drehbuch: es kommen zwei Gags und dann ein Satz, der dich voll in die Magengrube trifft! So was ist zutiefst undeutsch und zutiefst anglo-amerikanisch. Bei uns ist es immer Entweder-oder. Und Kushner ist Sowohl-als-auch. Zumindest ist das mein etwas generalisierter Eindruck.

Als «Angels in America» 2017 in London am National Theatre rauskam, war das Teil der grösseren Queer-Britain-Feierlichkeiten in jenem Jahr. Da wurde das Stück mit einer Superstarbesetzung auf die Bühne gebracht und als Event verkauft: Andrew Garfield war dabei, Russell Tovey, Nathan Lane usw. 20 Jahre davon hat HBO das Stück ebenfalls mit Superstarbesetzung verfilmt und den Schulterschluss zwischen Theater, Kino und Fernsehen hinbekommen. Kann da eine Produktion am Residenztheater in München neben solchen Konkurrenzangeboten mithalten – oder setzt ihr ganz andere Akzente? Michael Wächter: Mithalten ist ja immer relativ. Wir teilen uns nicht das Publikum mit dem National Theatre in London und wir verkaufen uns auch nicht ans Fernsehen mit Übertragungsrechten in Millionenhöhe. Wir haben andere Abhängigkeiten als HBO oder Netflix mit ihren Budgets … aber qualitativ können wir mithalten, das haben uns bislang alle bestätigt. Wir haben die Produktion ja schon erfolgreich in Basel gespielt, wir waren damit auch auf erfolgreichen Gastspielen. Und wir haben damit viele Menschen erreicht, die teils mehrmals gekommen sind.

Die Themen sind gross und saftig gesetzt, das bietet für jeden, der gern ins Theater geht – aber auch für jeden, der noch nie im Theater war – alles, was man von einem Popcornabend will! Ob eine Gruppe von Superstars auf der Bühne automatisch für ein gewisses Grundniveau sorgt, kann ich nicht sagen. Das würde ja bedeuten, dass jeder Film, nur weil er hochkarätig besetzt ist, automatisch irrsinnig gut wäre. Das ist bekanntlich nicht so. Bei uns hat jede*r Darsteller*in im Laufe des Abends seine Momente und kann glänzen.

Wenn jemand die HBO-Verfilmung kennt: was ist aus eurer Sicht der Reiz, sich das nochmal in einer anderen Inszenierung bei euch anzuschauen? Michael Wächter: Wir benutzen eine neue Übersetzung, die das Stück noch moderner und griffiger macht.

Pia Händler: Toll ist, dass wir im Theater live spielen und man sieht, wie die Bühne sowohl verzaubern als auch entblössen kann. Das Stück entwickelt auf der Bühne einen ganz anderen Rhythmus, den in Echtzeit zu erleben besonders ist.

Habt ihr euch die Verfilmung als Inspiration angeschaut? Pia Händler: Ich habe phasenweise reingeschaut … (lacht) 

Michael Wächter: Ich kenne nur die Ausschnitte mit Al Pacino. In den Szenen mit Patrick Wilson, der meine Rolle spielt, merkte ich: wir sind da auf einem anderen Dampfer. Und deswegen habe ich nicht weitergeschaut.

Pia Händler und Benito Bause in in «Engel in Amerika» (Foto zvg von Birgit Hupfeld)
Pia Händler und Benito Bause in in «Engel in Amerika» (Foto zvg von Birgit Hupfeld)

Es geht u.a. um Religion und die strengen Regeln, die eine Religionsgemeinschaft ihren Mitgliedern auferlegt. Wir leben in einer Zeit, wo in Belgrad serbisch-orthodoxe Christen kürzlich gegen die Europride demonstrierten, weil sie das als westliche Dekadenz ablehnten (MANNSCHAFT berichtete). In Florida haben Evangelikale das Don’t-Say-Gay-Gesetzt durchgesetzt. Ist es ein Ausrufungszeichen, ein Stück wie «Angels in America» gerade jetzt wieder zu spielen? Michael Wächter: Das Residenztheater will damit absolut ein gesellschaftliches Zeichen setzen. Abgesehen davon, dass «Angels in America» ein herausragend gutes Stück ist, ist es auch inhaltlich essenziell, was da gesagt wird. Es wird gezeigt, in welchen Zwängen Menschen stecken, gesteckt haben und immer stecken werden. Dass man dies einem Publikum gerade heute zeigen muss – angesichts all der Dinge, die rechts und links passieren – ist der Hauptfaktor, warum «Angels» nun auf dem Spielplan steht.

Gibt denn das Stück Antworten auf die Probleme, mit denen wir uns immer noch rumschlagen? Pia Händler: Es gibt Dinge, die im Stück gesagt werden, wo man erschrickt, wie aktuell die teilweise sind und wie viel von dem, was damals als Zukunftsprognose benannt wurde, Realität geworden ist. Ich spiele neben der Harper noch die Figur des Martin Heller, ein Mitarbeiter der Ronald-Reagan-Regierung und dort im Justizministerium tätig.

Das ist geradezu prophetisch

Dieser Martin Heller sagt: «In Washington erleben wir eine Revolution, wir haben endlich einen richtigen Plan, und jetzt haben wir mit Präsident Reagan auch einen richtigen Führer. Wir haben zwar immer noch nicht die Mehrheit im Senat, aber in den 90ern werden wir den Supreme Court knallhart mit Republikanern besetzt haben und genauso die Bundesgerichte.»

Und dann sage ich als Martin Heller tatsächlich: «Antidiskriminierungsmassnahmen, Abtreibung, Familienwerte … wir kriegen, was wir wollen!» Das ist geradezu prophetisch.

Nicola Mastroberardino (vorn) und Myriam Schröder in «Engel in Amerika» (Foto zvg von Birgit Hupfeld)
Nicola Mastroberardino (vorn) und Myriam Schröder in «Engel in Amerika» (Foto zvg von Birgit Hupfeld)

Gibt’s auf einer persönlichen Ebene auch Antworten für die Probleme der Figuren? Pillenschlucken kann ja nicht die Lösung sein … Pia Händler: Harper entscheidet sich letztlich, Joe zu verlassen. Ob sie dann aufhört, Pillen zu schlucken? Sie empfiehlt ihm sogar, selbst welche zu schlucken, gibt ihm eine Packung Valium und wünscht ihm viel Glück damit. Harper ist auch tief drin in dieser Umwelt-Kiste mit dem Ozonloch. Sie hat Angst davor, dass die Welt zu Ende geht. Auch vor der Umweltkatastrophe schützt sie sich durch Tabletten.

Michael Wächter: Direkte Antworten gibt’s wenige im Stück, wie in jedem guten Kunstwerk. Aber es wird von Kushner schonungslos gezeigt, dass alles immer zwei Seiten hat. Man wird als Publikum permanent gezwungen, sich zu entscheiden – wer einem leid tut, wer nicht. Und dann fühlt man plötzlich mit jemandem mit, der eigentlich ein Arschloch ist. Das macht das Stück so spannend.

Ihr habt «Angels» schon eine Weile gespielt. Wie sind denn Reaktionen von einem nicht-homosexuellen Publikum? Oder ist «Angels» nur was für Homosexuelle? Pia Händler: Die Themen im Stück gehen jeden an. Ich sehe «Angels» als eine Kollage von Liebes- und Beziehungsgeschichten. Aids und der historische Kontext liefern nur den Rahmen. Aber es geht um ganz viele andere Dinge … um Freiheit und Befreiung. Das betrifft nicht nur Homosexuelle. Gleichzeitig sind sie mit ihren Geschichten und teils speziellen Problemen zentral im Stück vorhanden, und das ist das Tolle daran.

Spielt ihr die zwei Teile von «Angels in America» an einem Tag? Michael Wächter: Ja, in einem Rutsch.

Ist das für euch wie ein Marathonlauf? Michael Wächter: Ja, so kann man das bezeichnen. Aber das Stück trägt einen, weil das Ganze so ein irres Tempo hat. Und plötzlich sind sechs Stunden Theater vorbei, ohne dass man es gemerkt hat oder zwischendurch aufs Klo musste. Das ist immer ein gutes Zeichen!

Ist «Angels» an einem Tag so was wie Bingewatching? Michael Wächter: Das haben viele über unseren Doppelabend geschrieben. Aber ich finde den Vergleich schwierig, als wäre Bingen das grösste, was man machen kann – mit der Popcorntüte in der Hand dieser Welt entfliehen. Das greift ein bisschen kurz im Fall von «Angels», weil Kushner teils Sätze schreibt, die schwer auszuhalten und oft extrem schmerzhaft sind. Manchmal ist es herzzerreissend, den Geschichten dieser Charaktere zu folgen.

Manchmal ist es herzzerreissend, den Geschichten dieser Charaktere zu folgen

Das Gute ist, dass die emotionalen Überwältigungsmomente sich nicht ankündigen, sondern man vorher noch über drei Pointen gelacht hat. Und dann fliessen plötzlich Tränen. Ich kenne kein Stück, das in dieser Dichte und Schnelligkeit so viele Wechsel hat und das Publikum auf solch eine Achterbahnfahrt der Gefühle mitnimmt. Das ist das Einmalige an «Angels». Kein Wunder, dass das Stück in den letzten Jahren wieder so viel gespielt wird, weil man diese Qualität neu erkannt hat.

Roland Koch (l.) und Nicola Mastroberardino in «Engel in Amerika» (Foto zvg von Birgit Hupfeld)
Roland Koch (l.) und Nicola Mastroberardino in «Engel in Amerika» (Foto zvg von Birgit Hupfeld)

Trotzdem ist es auffallend, dass dieses Meisterwerk aus den 1990er-Jahren ausgerechnet jetzt einen solchen Boom weltweit erlebt. Habt ihr dafür eine Erklärung? Michael Wächter: Das hat sicher mit Donald Trump zu tun.

Pia Händler: Vielleicht liegt’s auch daran, dass die Aidszeit ein bisschen weggerückt ist und viele wissen wollen, wie das damals war. Gleichzeitig hat das Stück in jeder Szene gute Hooks, man will immer wissen, wie‘s weitergeht. Und das Publikum verbindet sich sehr mit den Figuren. Ich habe schon viele Leute getroffen, die zu mir sagten: «Ach, immer wenn ich Sie sehe, frage ich mich, wie’s dieser Harper geht!» Man kommt den Figuren nahe durch die gemeinsam im Theater erlebte Zeit.

Letzte Spielzeit lief am Residenztheater das zweiteilige Mammutwerk «Das Vermächtnis» von Matthew Lopez, das sich sehr klar an «Angels» orientiert und die Geschichte aus den 80ern ins Heute holt. Wie seht ihr die beiden Stücke im Verhältnis zueinander? Michael Wächter: Die Vergleiche drängen sich auf. Aber der Fokus liegt woanders. Bei «Vermächtnis» geht’s vor allem ums Zwischenmenschliche. Vieles kratzt ein bisschen am Kitsch, würde ich sagen. Und es fehlt die politische und fantastische Dimension, die Kushners Stück hat. Ich masse mir nicht an zu sagen, das eine Stück sei besser oder schlechter als das andere. Aber im Vergleich stehe ich – natürlich! – mehr auf «Angels in America». (lacht)

Pia Händler: Ich mag an «Angels» die fantastische Reise, die man macht. Es gefällt mir persönlich gut, wenn eine Geschichte sich irgendwohin wendet, woran man gar nicht gedacht hat – und plötzlich findet sich Harper in der Antarktis wieder. Oder es fällt ein Engel durch die Decke. Da ist «Vermächtnis» viel gradliniger und weniger radikal anders. «Angels» hat für mich mehr Saft und Vielfältigkeit, auch wenn die äussere Struktur beider Stücke ähnlich ist.

Das könnte dich auch interessieren