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Diversität für immer – Von Christine and the Queens zu Redcar

Das neue Album ist da!

christine and the queens
Foto: Promo/Pierre-Ange Carlotti

Mit seinem gerade erschienenen Album «Redcar les adorables étoiles» schliesst der französische Popstar vielleicht das wichtigste Kapitel seines Lebens ab und erlebt, persönlich wie künstlerisch, eine Renaissance: Der von Héloïse Letissier über Chris von Christine And The Queens nun zu Redcar gewordene Künstler identifiziert sich jetzt als männlich.

Lange identifizierte sich der 34-Jährige als nicht-binär, hat aber in diesem Sommer erklärt, nun schon länger als Mann zu leben.

@christineandthequeensOk bonne journee mes amities♬ son original – Redcar

Der Name Redcar bezieht sich metaphorisch auf «rote Autos», die dem Künstler in inneren Monologen immer in wichtigen Gedankenmomenten erschienen sind. Vermutlich gäbe schon das in gewissen Kreisen genügend Anlass, sich über Redcar lustig zu machen. Und in der Tat, der Sänger von Christine And The Queens sieht sich schon seit geraumer Zeit immer wieder in sozialen Medien mit Hass und Queerfeindlichkeit konfrontiert.

Doch Redcar hat es sich zur Aufgabe gemacht, auf seine Kritiker*innen zu reagieren, nicht nur um seine eigene Position und die von anderen trans und queer Menschen zu verteidigen, sondern vor allem bösartige Zungen zum Schweigen zu bringen.


Schliesslich habe es Diversität schon immer gegeben und es sei an der Zeit, Menschen zum Umdenken überholter Geschlechterrollen und ebensolcher Bewertungen zu bewegen.

Der als Héloïse Adelaïde Letissier im Juni 1988 in Nantes geborene Redcar war von Anbeginn eine Ausnahmeerscheinung in der «Variété Française» (beinhaltet alles frankophone aus dem Pop- und Chansonbereich, – ausser Rock, Alternative, Electronica und Rap). Inspiriert von Künstler*innen so unterschiedlich wie David Bowie, Frank Ocean, Michael Jackson, Björk, Daniel Balavoine, Patti Smith, Kate Bush – aber vor allem Mylène Farmer (deren Song «California» er 2018 eindrucksvoll in der französischen Kultsendung «Taratata» präsentierte), trat Redcar als Opening Act für Lykke Li, The Dø, Gaetan Roussell, Woodkid und Stromae auf.

Nach einigen EPs und Singles erschien 2014 endlich das Debütalbum «Chaleur Humaine» (Menschliche Wärme), welches u.a. die beiden ersten grossen Hits «Saint-Claude» und «Christine» enthielt. Beide Songs wurden von innovativen Tanzvideos begleitet, deren Stil bis heute Redcars Bühnenpräsentationen prägen.


Das Album wurde nicht nur in frankofonen Gefilden ein Erfolg: Die parallel in Englisch erschienene Version stürmte auch die britischen Charts bis auf Platz 2, und das ebenso anglisierte «Christine» wurde als «Tilted» ein Top 20 Hit.

Ich beanspruche das Recht, mich nicht über ein Geschlecht oder eine Sexualität zu definieren

Bei den gelegentlich umstrittenen, französischen Victoires De La Musique 2015 & 2016 (vergleichbar mit den amerikanischen Grammys) wurde Redcar als «beste weibliche Künstlerin», «Beste Live-Tour/Präsentation» sowie für die Videos zu «Saint-Claude» und «Christine» ausgezeichnet.

Bereits in der Zeit vor der Veröffentlichung seines zweiten Albums, spielte Redcar zunehmend mit der Mehrdeutigkeit seiner Geschlechtsidentität, trug nun den Namen «Chris» und nahm einen immer androgyneren Look (meist im Anzug) an. Nicht ohne Grund, denn er wollte damit die öffentliche Selbstverständlichkeit einer konkreten «Definition» hinterfragen und gleichzeitig dieser entkommen: «Ich beanspruche das Recht, mich nicht über ein Geschlecht oder eine Sexualität zu definieren», sagte Redcar 2014 in einem Interview des Online-Magazins KOMITID.

Dem zweiten Album, schlicht «Chris» (2018) betitelt, ging die Single Auskopplung «Damn dis-moi», in Zusammenarbeit mit dem US-amerikanischen Elektro-Funk-Rapper Dam-Funk, voraus. Von den Kritikern hochgelobt (und insbesondere von Teilen der britischen Musikjournaille (aber auch vom Autor dieses Artikels) zum Song des Jahres gewählt), fiel die Anerkennung, gerade in Frankreich, überraschend etwas zurückhaltender aus.

Vielleicht lag es daran, dass viele Internetnutzer «Chris» beschuldigten, den Loop der kostenlosen Musikkompositionssoftware Logic Pro kopiert und/oder ohne Quellenangabe gesampelt zu haben?!

Äusserungen wie: «Ich glaube, ich habe ein soziales Gewissen in mir, das von meinen Eltern, die der Arbeiterklasse angehören, geprägt wurde. Als ich plötzlich immer mehr Geld verdiente, erschien mir das obszön», forderten schon so manches schlichtere Gemüt (warum auch immer) heraus, und es kam zu ersten Animositäten im Netz

Dennoch, das Album selbst, erneut in französisch und englischen Versionen erhältlich, verkaufte sich zu Recht blendend. Es folgten Auszeichnungen wie beim NRJ Music Award, Q Award, den Brit Awards und erneut bei den Victoires De La Musique in der Saison 2018/19.

Selbst in Deutschland war man endlich auf den Ausnahmekünstler aufmerksam geworden: Die LP kletterte bis auf Platz 36 in den deutschen Charts.

Während der Corona-Pandemie und den sich anschliessenden Lockdowns war Redcar einer der engagiertesten Künstler*innen, der online Präsenz zeigte. Er drehte z.B. einen Kurzfilm, der visuell die im Februar 2020 erschienene EP «La Vita Nuova» begleitete.

Gleichzeitig erweiterte Redcar seine kreative Kampfzone auf eher populäreres Terrain in Duetten mit Künstlerinnen wie Caroline Polacheck, Charlie XCX und beim Lady-GaGa-Projekt «One World: Together At Home».

Und so wie Redcar uns bisher von Héloïse über Christine And The Queens und Chris auf (s)eine nicht definierte Reise mitgenommen hat, klingt auch der (anscheinend erste) Teil des neuen Œuvres, «Les Adorables Étoiles (Prologue)». Musikalisch eher vage und offen, die meisten Songs wie schwebende Gebilde, mit an Cocteau Twins erinnernden, ephemeren Gesangs- wie Textfarben. Besonders wunderbar im über acht Minuten langen «Combien de temps», das in bester Slow-Disco Manier mit schleppendem Groove ganz im Hier und Jetzt schwebt und den Hörer*innen auf angenehme Weise keine wirkliche Richtung aufzwingt. Das wird natürlich von einigen Kritiker*innen jetzt schon voreilig als «unvollendet» und «halbfertig» eingestuft.

Man sollte eben die französische Musikseele nicht unterschätzen, denn diese kann sehr gut mit gepflegter Tristesse in undefinierbarer Schwebe verweilen. Dass das jenseits des «Héxagone», besonders in Deutschland, eher auf Unverständnis stösst, ist ja nun nicht wirklich etwas Neues.


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