«Unsere Geschichte soll andere Regenbogenfamilien ermuntern»
Ein Porträt über eine polyamouröse Familie aus der Ostschweiz
Hauptsache glücklich: Eine polyamouröse Regenbogenfamilie erzählt aus ihrem Familien- und Liebesleben und macht damit anderen Familien und anders Liebenden Mut. Eine Homestory aus der Ostschweiz – etwas anders und doch vertraut.
Es ist ein frühlingshafter Samstagnachmittag am Stadtrand von St.Gallen. Dort, wo die Stadt aufhört und die Natur anfängt. Dort, wo ich dem Lockdown, nicht aber dem Heuschnupfen entfliehen kann. Dort, wo ich eine polyamouröse Regenbogenfamilie zum Fotoshooting treffe: Camilla, Claudia und Severino (echte Namen der Redaktion bekannt).
Was mir gleich auffällt: Alle drei wirken glücklich. Sie strahlen Harmonie und Zufriedenheit aus. So, wie es die Illustrierten gerne hätten, wenn sie Glück inszenieren. Doch dieses Glück, dem ich beiwohne, ist nicht gestellt: kein Dauergrinsen, das ich aus Homestorys aus den Medien mit Promis kenne, bei denen überstrapazierte Lachmuskelfasern jeden Moment zu reissen drohen. Kein Schwadronieren über Oberflächlichkeiten, sondern unverblümter Klartext – wie beim Thema Eifersucht, von dem mir Camilla und Claudia erzählen. Kein Gefühl der Fremdheit, das mich beschleichen könnte – im Gegenteil: So normal wie mit ihnen habe ich mich noch nie gefühlt. Vorausgesetzt, es existiert ein Gefühl der Normalität.
Sichtbarkeit schafft Normalität Das «Normalitätsgefühl» ist der Grund, warum mich Camilla und Claudia in ihr Beziehungs- und Familienleben blicken lassen: «Unsere Geschichte soll andere Regenbogenfamilien ermuntern, ihr Anderssein offen und frei zu leben und zu ihren Bedürfnissen und Gefühlen zu stehen», erklärt Camilla. Die verschiedenen Familien- und Liebesmodelle seien in der Öffentlichkeit selten oder gar nicht abgebildet. Für mehr Akzeptanz in der Gesellschaft brauche es jedoch mehr Sichtbarkeit: «Das baut langfristig Vorurteile und damit Diskriminierungen ab, weil so ein Gefühl der Normalität entsteht», ergänzt Claudia.
Gerade für Kinder sei es wichtig, vielfältige Familienmodelle zu erleben und zu wissen, dass alle ihre Berechtigung haben. Das bestärke sie später als Erwachsene, ihren eigenen Weg zu gehen, wie Claudia begründet: «Sie bekommen so eine Entscheidungsgrundlage, das eigene Modell selbstbestimmt zu wählen. Auch können sie kritischen Stimmen bestimmter und selbstbewusster entgegentreten und sich dabei für andere oder für sich selbst starkmachen.»
«Konventionen haben uns nie interessiert» Der Grossteil der Menschen wächst mit der Vorstellung auf, irgendwann den Traumprinzen oder die Traumprinzessin zu heiraten und im Idealfall mit zwei Kindern glücklich zu werden. So erzählen es uns die Werbung, Hollywood oder Walt Disney. Andere Lebensweisen bleiben unsichtbar – wie zum Beispiel, wenn jemand angibt, als Single glücklicher zu sein als in einer Beziehung. Oder wenn jemand asexuell und gleichzeitig platonisch glücklich ist.
Solche und andere Modelle erschliessen sich vielen Menschen nicht. Weil sie nicht der gängigen Vorstellung vom Glücklichsein entsprechen: dem monogamen Paar. Darum seien Kategorien für Aussenstehende wichtig, um sich selbst im Kontext zu anderen Beziehungs- und Familienmodellen zu verorten, wie Claudia konstatiert: «Wir selbst hatten nie das Bedürfnis, uns in irgendeiner Form zu definieren – ausser beim Thema Regenbogenfamilie.» Camilla doppelt nach: «Konventionen haben uns nie interessiert. Wir sind unserem inneren Gefühl gefolgt und haben uns die Freiheit genommen, uns dahin zu entwickeln, wo wir heute sind: Wir sind zwei Frauen, die gemeinsam ein Kind grossziehen. Neben unserer Liebesbeziehung zueinander pflegen wir auch zu anderen Menschen amouröse Beziehungen – unabhängig vom Geschlecht oder von der sexuellen Orientierung.»
Offenheit entspannt das Liebesleben «Die Heirat gibt einem vor, glücklich zu sein, wobei meistens die emotionale und sexuelle Treue untrennbar sind», hält Claudia fest. Eine Öffnung der Beziehung erfordere Mut. Mut, hinzusehen und Veränderungen in der Partnerschaft, aber auch bei den eigenen Bedürfnissen zu akzeptieren. «Für viele Paare kommt das einem Trennungsgrund gleich, weil die veränderte Bedürfnislage nicht ins rigide Modell der Monogamie passt. Und das, obschon die Liebe beidseitig nach wie vor gross ist», fährt Claudia fort.
Für Camilla und Claudia sind Beziehungen lebendig wie ein Organismus. Sie entwickeln sich weiter: «Wie wir Menschen und unsere Bedürfnisse auch. Das gilt es zuzulassen und einzuordnen – ähnlich wie beim Wunsch nach einem Kind: Dieser kommt auch erst mit der Zeit und ist nicht von vornherein für das Beziehungs- oder Sexleben massgebend.» Schwule Männer seien für polyamouröse oder andere Konstellationen viel offener, weil sie sich vor dem Coming-out lange mit ihrem eigenen Anderssein und demjenigen von anderen beschäftigen: «Eine solche Offenheit könnte das Liebesleben so mancher Paare deutlich entspannen.»
Eine klare Positionierung gibt Orientierung Welche Form es auch sein mag, letztlich muss sie für alle Beteiligten stimmen. Dabei spielt die Ehrlichkeit eine zentrale Rolle – sowohl der eigenen Person als auch dem*der Partner*in gegenüber: «Was brauche ich, was mein*e Partner*in und was unsere Beziehung, damit wir beide glücklich sind?», fügt Claudia an. «Die Stärke unserer Beziehung liegt darin, dass wir uns mit der Beziehungsform und unserer Sexualität eingehend auseinandersetzen – vor zwanzig Jahren wie heute. Und das hört nicht auf, weil eine Beziehung dynamisch ist.» Dazu brauche es die Fähigkeit, die eigene Sexualität selbstbestimmt gestalten zu wollen. Ihrem Grundverständnis von Sexualität zufolge sei jeder Mensch für seine Sexualität selbst verantwortlich – auch in einer Beziehung: «In unserem schwulen Freundeskreis haben wir verschiedene Modelle erlebt. Wir waren fasziniert, wie ausgeglichen und zufrieden unsere Freunde waren. Dies hat uns noch mehr bestärkt, so zu lieben, wie wir fühlen.»
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Über die Reaktionen anderer machen sie sich keine Gedanken, wie Camilla unterstreicht: «Je natürlicher wir nach aussen kommunizieren, umso natürlicher nehmen es die anderen auf. Eine klare Positionierung gibt den anderen eine Orientierung.» Dabei stehe der polyamouröse Teil der Beziehung nicht im Fokus: «Die Familie ist unsere Homebase. Alles, was dazukommt, unterliegt klaren Abmachungen.»
«Severino hat gleich zwei Mamis und einen Papi.»
Polyamorie und Eifersucht: ein Thema? «Ja», schmunzelt Claudia. Die Auseinandersetzung damit sei jedoch wichtig: «Es geht darum, das eigene Bedürfnis nicht einfach durchzusetzen, sondern sich zu fragen: ‹Wie kann ich sagen, dass ich dich liebe, wenn ich dich in deiner Selbstgestaltung nicht unterstütze?› Wir wollen einander weder anlügen noch hintergehen, bloss weil wir uns nicht trauen, zu unseren Bedürfnissen zu stehen.» Die Basis einer krisensicheren Beziehung sei, über die eigenen Sehnsüchte und diejenigen der besseren Hälfte zu reden.
Zugleich brauche es eine lückenlose Transparenz, das Respektieren von Grenzen sowie das Führen von Verhandlungen über die Wünsche, wie Camilla anfügt: «Anstatt sich etwas gegenseitig oder sogar einseitig zu verbieten, handeln wir nach der Maxime ‹wir finden einen Weg und gehen respektvoll damit um›. Zentral dabei ist das Darlegen der eigenen Bedürfnisse, selbst wenn die Konfrontation im Moment schmerzt, weil sie vielleicht nicht einem gemeinsamen Verlangen entspricht. Uns ist es sehr wichtig, einen gemeinsamen Weg zu finden, der für beide stimmt. Eine Beziehung zu führen, heisst, auf Veränderungen einzugehen und die Beziehung laufend zu überprüfen und anzupassen.»
«Die Kinder schauen ganz ohne Wertung hin. Nicht wie die Erwachsenen: Diese sind es, welche die Kinder mit Vorurteilen prägen»
«Ein Kind braucht doch einen Vater und eine Mutter!» Das behaupten oft die Gegner*innen von Regenbogenfamilien: Den Kindern würde mit zwei Müttern beziehungsweise mit zwei Vätern etwas fehlen oder im Schulalltag eine grosse Bürde auferlegt. Camilla sieht das anders: «Im Kindergarten waren die Reaktionen der Kinder sogar sehr positiv, weil Severino gleich zwei Mamis und einen Papi hat und nicht nur eine Mutter und einen Vater.» Camilla zufolge gehen Kinder sehr frei und natürlich damit um. Sie sehen einzig die Menschen und ihre Beziehungen zueinander. Nur das sei für sie relevant: «Die Kinder schauen ganz ohne Wertung hin. Nicht wie die Erwachsenen: Diese sind es, welche die Kinder mit Vorurteilen prägen. Zudem braucht es ein ganzes Dorf, um ein Kind grosszuziehen, wie eine indianische Weisheit besagt.»
Gegner*innen von Regenbogenfamilien sehen bei gleichgeschlechtlichen Paaren das Kindeswohl in Gefahr. Doch dieses Argument ziehe gemäss Claudia nicht: «Was ist mit dem Wohl der Kinder, die bei alleinerziehenden Eltern aufwachsen? Da fehlt auch eine Mutter oder ein Vater. Oder bei Eltern, die zwar heterosexuell, aber drogensüchtig oder gewalttätig sind.» Entscheidend für das Kindeswohl seien nicht das Geschlecht der Eltern, sondern die Liebe und Verbindlichkeit der Beziehung, die Eltern mit ihren Kindern eingehen.
Wie es Severino dabei geht Der fünf Jahre alte Severino ist ein lebhafter Junge – wissbegierig und aufgestellt, kommunikativ und intelligent. Ihn interessieren besonders die Natur und die Tiere: Als wir beim Fotoshooting nach einem geeigneten Platz für die ersten Bilder suchen, bleibt er bei einer Gruppe von Kühen stehen, geht hin, beobachtet und nimmt achtsam Kontakt zu den Tieren auf. Für einen Fünfjährigen wirkt er viel aufmerksamer und überlegter als gleichaltrige Kinder, obwohl er dieselbe verträumte und verspielte Art an den Tag legt.
Severino scheint es mehr als nur gut zu gehen. Entstanden ist er als Wunschkind in der Ehe von Claudia mit dem Vater Marino (Name der Redaktion bekannt). Da waren Claudia und Camilla schon zusammen und Marino ein Bestandteil der polyamoren Konstellation. Nach gemeinsamen sieben Jahren hat sich Marino entschieden, wieder zurück nach Südamerika zu gehen, wo er heute zwar lebt, als Vater jedoch voll und ganz in der Familie integriert ist: «Er tut uns und Severino gut. Severino geniesst die Auseinandersetzung mit seinem Vater und wächst dadurch auch mit einem männlichen Rollenbild auf. Zweimal im Jahr fliegt Marino zu uns in die Schweiz und hält auch sonst regelmässig Kontakt zu seinem Sohn», erläutert Claudia.
«Jeder Mensch gehört sich selbst und keinem anderen.»
Auf die Frage, ob Severino in seinem Schulalltag schon einmal kritischen oder verletzenden Bemerkungen zum Familienmodell begegnet ist, antwortet Camilla: «Der Umgang mit unserer Regenbogenfamilie ist in unserem Kindergarten offen. Es gab bisher keine schlechte Rückmeldung.» Und für den Fall, dass es eines Tages doch dazu kommt, haben Camilla und Claudia in der Erziehung vorgesorgt: «Wir sprechen mit ihm über Diskriminierung, damit er ein Bewusstsein dafür entwickelt. Unabhängig von der Familienkonstellation sollte ein Kind Strategien entwickeln, wie es sich selber schützen und gegen Diskriminierung für sich oder andere einstehen kann. In unserer Erziehung verfolgen wir eine Nulltoleranz gegenüber Diskriminierungen jeglicher Art – betreffe es die Herkunft, das Aussehen oder die sexuelle Orientierung einer Person.»
Besitzen ist keine Beziehung Manch ein Mantra stimmt wirklich, selbst wenn es von Seelengurus stammt: Das eigene Glück kommt von innen. So auch das Gefühl von Normalität. Beides hängt nicht von äusseren Erwartungen und Normen ab, sondern von den inneren Bedürfnissen – ob glücklich alleinstehend, polyamourös verpartnert, aufgeregt verlobt, monogam verheiratet oder zufrieden geschieden. Weder die eine noch die andere Liebes- oder Lebensform bedarf einer Rechtfertigung, sondern unserer Achtung.
Weitere Diskriminierung von Regenbogenfamilien verhindern!
Dabei muss uns eins bewusst sein: «Jeder Mensch gehört sich selbst und keinem anderen.» Was aus der Feder eines Flirts stammt, hat mir vor Jahren den Grundsatz von Beziehungen vermittelt: Besitzen ist keine Beziehung. Eine Beziehung ist eine dynamische und wechselseitige Verbindung von Menschen, die genauso ihre Stärken und Schwächen hat wie jedes daran beteiligte Individuum, aber ebenso daran wachsen oder scheitern kann.
Sicher ist: Wir Menschen sind in der Lage zu lieben. Und Liebe ist ein irrsinniges Gefühl, das wir in verschiedenen Formen miteinander teilen – die Mutter-Kind-Liebe, die Liebe zum Fussballverein oder die Liebe zu Freund*innen und Partner*innen. Schöne Gefühle zu teilen, ist menschlich. Sie in Form von Besitz zu materialisieren, führt zu Frustrationen, Konflikten und Schlimmerem. Liebe lässt sich zwar teilen, nicht aber besitzen.
Glossar
Die Polyamorie steht für Beziehungskonstellationen, in denen Menschen mehrere Liebesbeziehungen zur gleichen Zeit haben. Nicht alle Beteiligten haben mehrere Partner*innen, wissen jedoch über die anderen Beziehungen Bescheid und sind damit einverstanden.
Eine offene Beziehung ist eine Partnerschaft zwischen zwei Personen, in denen beide Partner*innen wissentlich andere Sexualpartner*innen haben dürfen. Allerdings bleibt die Beziehung auf der emotionalen/sozialen Ebene «monogam», während bei der Polyamorie mehrere Bindungen sowohl sexueller als auch emotionaler Natur erlaubt sind.
Die Polygamie bezeichnet die Ehe oder eine eheähnliche Beziehung zwischen mehreren Menschen, egal welchen Geschlechts. Die Bigamie ist die kleinste der Polygamievarianten, das heisst ein Mensch führt maximal zwei Ehen gleichzeitig.
Die Polygynie ist die verbreitetste Form der Polygamie: Ein Mann führt eine Ehe oder eheähnliche Beziehungen mit mehreren Frauen gleichzeitig. Hat eine Frau mehrere Ehemänner, ist die Rede von Polyandrie.
Die Monogamie definiert eine Paarbeziehung, bei der sich die beiden Partner*innen emotional/sozial und sexuell treu sind. Liebes- oder Sexbeziehungen ausserhalb dieser Beziehung sind ausgeschlossen.
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