«Die PrEP kann auch Druck erzeugen»
Einige sehen im blauen Wunder auch problematische Aspekte
Die HIV-Prophylaxe PrEP ist auf dem Vormarsch. Manch einer begrüsst die «blaue Pille», fühlt sich dank ihr sicherer und sexuell freier. Andere sehen am zunehmenden Gebrauch der Medikation aber auch problematische Aspekte.
«HIV-negativ, auf PrEP» steht auf Kens* Grindr-Profil geschrieben. Ken lebt in New York, wo er für eine Werbeagentur arbeitet. «Viele hier geben auf den Dating-Apps an, ob sie auf PrEP sind oder nicht», so der 31-Jährige im Gespräch mit der Mannschaft. Das Thema sei längst in der Szene angekommen und allgegenwärtig. «Jeder Schwule in meinem Freundes- und Bekanntenkreis weiss, dass man sich mit PrEP vor einer HIV-Infektion schützen kann. Alles in allem sind die Leute gut informiert.»
Sprunghafter Anstieg Kens Aussagen spiegeln sich in den Zahlen wider. Im Jahr 2012 liess die US-amerikanische Arzneimittelbehörde das HIV-Medikament Truvada erstmals zur vorbeugenden Verwendung zu – als Präexpositionsprophylaxe PrEP. Zu Beginn wurde das Präparat nur zögerlich zu diesem Zweck eingesetzt. Nachdem die Medien im Folgejahr aber vermehrt über die neue Schutzstrategie berichtet hatten, gewann die PrEP – zumindest in einigen US-amerikanischen Grossstädten – rasch an Beliebtheit: In New York etwa habe sich die Zahl der krankenkassenversicherten Rezeptverschreibungen zwischen 2014 und 2015 mehr als vervierfacht, schreibt das Magazin POZ. Von den knapp 1600 schwulen Männern, die in einer Untersuchung im Zeitraum von 2013 bis 2015 alljährlich befragt worden waren, hätten sich 2014 erst 3.2 % auf PrEP befunden. Ein Jahr später lag der Anteil der PrEP-Nutzer laut POZ bereits bei 15 %.
Schweiz und Deutschland: Vergleichbar Auch in Deutschland und in der Schweiz ist die PrEP den meisten Schwulen ein Begriff. Im Frühling vergangenen Jahres befragte die Deutsche Arbeitsgemeinschaft niedergelassener Ärzte in der Versorgung HIV-Infizierter (dagnä) rund 900 HIV-negative Männer, die mit Männern Sex haben (MSM), zum Thema. Dabei gaben 85 % der Teilnehmer an, über die PrEP informiert zu sein. Darüber hinaus konnten sich 63 % der Männer vorstellen, die PrEP selbst einmal zu nutzen.
In der Schweiz präsentiert sich eine vergleichbare Lage. Anfang Jahr befragte eine Forschungsgruppe der Universität Zürich knapp 1900 Personen via Grindr zur PrEP. Die Ergebnisse zeigten Folgendes: Knapp 80 % der Männer hatten schon von dieser Form der HIV-Prävention gehört, während 50 % es in Betracht zogen, innerhalb der nächsten zwölf Monate selbst mit der Medikamenteneinnahme zu beginnen. Die Zahl jener, für die eine PrEP in Frage kommt, scheint damit angestiegen zu sein: Im Frühjahr 2016 hatten Forschende der Fachhochschule Nordwestschweiz eine Querschnittsstudie zur «Akzeptanz der PrEP bei MSM» publiziert, für die sie im Verlauf des Jahres 2015 über 550 Männer zur Thematik befragt hatten. Das Resultat: «Lediglich 39 % der Befragten würden die PrEP wahrscheinlich verwenden», wie das Team damals herausfand.
Leichte Zunahme Die Frage, wie viele Schweizer Schwule auf PrEP sind, lässt sich zurzeit nicht eindeutig beantworten. «Wir verfügen über keine genauen Statistiken, da die Beschaffungswege sehr divers sind», sagt Andreas Lehner, Leiter Programm MSM bei der Aids-Hilfe Schweiz. Damit spricht er den Umstand an, dass manch einer via Internet preiswerte Generika aus dem Ausland bestellt. Dies, weil die Krankenkassen die Kosten der HIV-Medikamente nicht übernehmen, wenn diese zur PrEP verwendet werden.
Wer die Tabletten in der Schweiz beziehen will, muss den stolzen Preis von rund 900 Franken pro Monatspackung vorerst also selbst bezahlen. «In jedem Fall zentral ist, dass man die PrEP nur unter ärztlicher Betreuung einnimmt, denn sonst können Gesundheitsrisiken bestehen», betont Lehner. Zurzeit geht er für die Schweiz von 200 bis 300 Langzeitnutzern aus. «Zürich alleine hat bereits über 100.» Damit hat die Organisation ihre Zahlen nach oben korrigiert – in einer Schätzung Ende letzten Jahres hatte sie noch mit 150 bis 200 Nutzern gerechnet. In dieses Bild der Aids-Hilfe passen denn auch die Ergebnisse der «Grindr-Studie» der Universität Zürich: In 82 Fällen der ausgewerteten 1893 Datensätze gaben die Männer an, auf PrEP zu sein – das entspricht einem Anteil von rund 4.5 %.
Preiswertes Generikum In Deutschland nahmen im letzten Jahr «fast 7 % der Interessierten die PrEP», wie die erwähnte dagnä-Umfrage zeigte. Dabei war es bis anhin ein teures Unterfangen, auf PrEP zu sein: Truvada ist zwar seit Oktober 2016 zur Prävention zugelassen, die Tabletten gibt es aber nur auf Privatrezept. Die monatlichen Kosten für das Medikament schlagen mit zirka 800 Euro zu Buche. «Die Mehrheit will oder kann eine solche Summe nicht aus eigener Tasche schultern», schrieb die dagnä. Der Verband fragte die potenziellen Nutzer, welchen Betrag sie für eine PrEP-Behandlung zu zahlen bereit wären. «Ergeben hat sich die durchschnittliche Summe von 93 Euro im Monat», führte die dagnä aus. Nun gibt es die PrEP gar noch billiger: Seit Oktober ist in ausgewählten Apotheken in zunächst sieben deutschen Grossstädten ein Generikum für rund 50 Euro pro 28 Tabletten erhältlich.
Die PrEP ist für viele Menschen eine Entlastung.
Für dagnä-Vorstand Knud Schewe ist «eine 50-Euro-PrEP ein riesiger Fortschritt», während die Deutsche AIDS-Hilfe, die schon seit Längerem einen regulären und leichten Zugang zu den entsprechenden Medikamenten fordert, von einem «Durchbruch» spricht. Kondome blieben zwar das meistgenutzte Mittel für Safer Sex, schreibt die Organisation auf ihrer Webseite. «Sie sind auch spontan einsetzbar, günstig und verringern zusätzlich das Risiko anderer sexuell übertragbarer Infektionen.» Mit der PrEP verfüge man aber über eine weitere Schutzmöglichkeit, die eine zunehmende Anzahl schwuler Männer in ihr Repertoire aufnehme, sagt Tim Schomann, Leiter der AIDS-Hilfe-Kampagne «Ich weiss was ich tu». Das sei eine wichtige und gute Entwicklung. Zum einen stelle die Präexpositionsprophylaxe eine Bereicherung für die Präventionsarbeit dar. «Zum anderen ist sie für viele Menschen eine Entlastung – sie können nun zwischen verschiedenen Safer-Sex-Methoden wählen.»
Weniger nervös Von einer Entlastung spricht auch Ken. Mit der PrEP begann er vor zwei Jahren, als er mit einem HIV-positiven Mann zusammenkam. Der damalige Partner sei zwar unter wirksamer antiretroviraler Therapie gestanden und nicht ansteckend gewesen, erklärt Ken. Zu jener Zeit habe er aber noch zu wenig über das Thema Bescheid gewusst, weshalb er «noch immer etwas nervös» gewesen sei. «Es ergab einfach Sinn für mich, mit der PrEP anzufangen.» Die Beziehung ging zu Ende, die Tagesdosis Truvada nimmt Ken weiterhin ein. «Ich bin ein sexuell aktiver Mann in New York – ich hatte das Bedürfnis nach zusätzlicher Sicherheit», sagt Ken zu seinen Beweggründen.
Er sieht die PrEP als «Teil eines Pakets verschiedener Präventionsmöglichkeiten». Die Frage, ob die Prophylaxe sein Sexualverhalten merklich beeinflusst habe, beantwortet Ken mit einem «Jein». Eine Veränderung nimmt er insofern wahr, als er sich besser und weniger ängstlich fühle im Umgang mit Sex. «Und das gilt nicht nur für mich», so Ken. Er habe ganz allgemein den Eindruck, dass PrEP den Leuten ein tiefgehendes Gefühl von Freiheit und Erleichterung vermittle. «Sowohl die Angst vor HIV als auch das damit verbundene Stigma waren und sind hier derart gross – Truvada hilft, dies zu bekämpfen.» Gleichgeblieben sei, dass er in fast allen Fällen weiterhin ein Kondom benutze. «Wenn ich mich mit jemandem verabrede, den ich nicht kenne, dann mache ich es nie ohne Gummi.»
Auf das Kondom verzichtet er nur, wenn er mit einem der «drei oder vier Männer» schläft, die er regelmässig zum Sex trifft. «Das sind Freunde, die ich seit Langem kenne», so Ken. «Sie alle sind selbst auf PrEP. Und wenn sie eine andere Geschlechtskrankheit hätten, dann würden sie es mir sagen – ich vertraue ihnen.»
PrEP: Keine Selbstverständlichkeit Neben den vielen Vorteilen sieht Ken aber auch heikle Aspekte im Aufkommen der neuen Schutzstrategie. «Schwierig wird es, wenn die PrEP als das einzig Wahre, als die eine Lösung angesehen wird», so Ken. Besonders auf den Apps würden manche PrEP-Nutzer jene kritisieren, die nicht auf PrEP sind, und sie als «dumm» und «verantwortungslos» darstellen. Diese Rhetorik sei gefährlich. Sie impliziere, dass ein jeder Zugang zur Medikation habe, was bei Weitem nicht zutreffe. «In den USA gibt es gerade unter den Schwarzen und Latinos viele Schwule, die weder über eine Krankenversicherung noch über das nötige Geld verfügen, um sich die PrEP leisten zu können», erklärt Ken. So seien es denn auch hauptsächlich finanziell privilegierte weisse Männer, die bisweilen mit einer gewissen Verachtung auf all jene herabschauten, für die der medikamentöse HIV-Schutz nicht in Frage komme.
«Mit Kondom? Nein, danke!» Ein weiterer Punkt, auf den Ken aufmerksam macht: Die PrEP habe dazu geführt, dass manche Typen abwinkten, wenn man ein Kondom benutzen wolle. «Auf den Dating-Apps ist es schon mehrfach vorgekommen, dass ein Mann das Interesse verlor, als ich auf der Verwendung eines Gummis insistierte.» Diese Erfahrung hat auch Michael* aus Bern schon gemacht. «Auf Grindr und Co. begegnet man auch in der Schweiz schon relativ häufig Männern, die auf PrEP sind», so der 41-Jährige gegenüber der Mannschaft. Dabei werde er gelegentlich zurückgewiesen, wenn er nicht in kondomlosen Sex einwillige.
Es ist schon mehrfach vorgekommen, dass ein Mann das Interesse verlor, als ich auf der Verwendung eines Gummis insistierte.
«Alle Seiten beleuchten» Ihn persönlich betreffe die Thematik insofern eher weniger, als er seit 14 Jahren mit seinem Partner zusammen sei, erzählt Michael. «Wir gestalten unsere Beziehung sexuell zwar offen. Es ist aber nicht so, dass wir uns ständig mit anderen Männern verabreden würden.» Die PrEP beschäftigt ihn vielmehr in einer grundsätzlichen Art und Weise. «Mir geht es darum, in den Diskussionen rund um die Prophylaxe auch einmal deren Kehrseiten anzusprechen», wie er es beschreibt. «Ich verstehe natürlich, dass die PrEP aus präventivmedizinischer Sicht etwas Wertvolles und sehr willkommen ist.»
Ebenso sei ihm klar, dass wohl die meisten grundsätzlich lieber ohne Pariser Sex hätten. «Davon nehme ich mich selbst auch gar nicht aus.» Doch manchmal, erklärt er, fehlten ihm einfach die kritischen Stimmen. «Wir sollten umfassend darüber nachdenken, wie sich die PrEP auf die Community auszuwirken vermag». Was er befürchte? «Dass diejenigen, die nicht auf PrEP sein können oder wollen, längerfristig ‹als Langweiler im Bett› abgestempelt und von der Teilnahme am sexuellen Leben ausgeschlossen werden», so Michael.
Er könne sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die PrEP unaufhaltsam zu einer Art Lifestyle werde. «Ein Lifestyle, der auch unter Druck setzen kann.» Und das, betont Michael, dürfe seiner Meinung nach nicht passieren. «Immerhin sprechen wir hier von sehr starken Medikamenten. Die Betroffenen schlucken diese, obwohl sie eigentlich gesund sind und sich mit Kondomen schützen können.»
Feinfühlig vorgehen Dass die Präexpositionsprophylaxe die sexuellen Dynamiken in der Szene durchaus beeinflussen kann, zeigen die Schilderungen von Matthias. Er selbst nimmt «die Pille» seit einem Jahr, wie er im Interview mit der Informationsplattform magazin.hiv der Deutschen AIDS-Hilfe erzählt. Für ihn stehe der finanzielle und organisatorische Aufwand – er bezahlt 60 Euro pro Monatspackung – in einem guten Verhältnis zum Nutzen, den er aus der PrEP ziehe. «Mein Sex ist viel entspannter», so der 38-Jährige. Auch wenn er selbst zufrieden ist mit der PrEP – wichtig sei ein feinfühliger Umgang mit dem Thema.
Immerhin sprechen wir hier von sehr starken Medikamenten. Die Betroffenen schlucken diese, obwohl sie eigentlich gesund sind.
Zum Beispiel sage er bei Sexdates nicht immer gleich, dass er auf PrEP sei, erklärt Matthias. Er wolle den anderen nicht dahingehend unter Druck setzen, «dass ich unbedingt ohne Gummi Sex möchte». Die Kommunikation über PrEP verlange «ein bisschen Fingerspitzengefühl», findet Matthias. «Bei Online-Dates schreiben mir manche, sie hätten gesehen, dass ich auf PrEP sei, sie selber aber würden es trotzdem nur mit Kondom machen.» Damit habe er kein Problem. «Es ist nicht so, dass ich nur noch ohne Gummi Sex habe.» Die PrEP sei für ihn ein «nice to have», das Kondom hingegen ein «must have», fasst Matthias zusammen. «Und wer die PrEP nehmen will, soll sich zuerst darüber schlau machen, damit er eine informierte Entscheidung fällen kann.»
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