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Die neuen Nuller-Schwulen und ihre Angst vor «unmännlichem» Analsex

Im Internet hat sich eine Gruppierung formiert, die sich «g0ys» (mit einer Null geschrieben) nennt und weg will von schwulen Stereotypen. Sie wollen auch raus aus einer «queeren» Community, mit der sie sich nicht identifizieren

Analsex
(Symbolfoto: Henri Meilhac / Unsplash)

Es gab einst den Schlachtruf «Gay Liberation», der vor allem von schwulen Männern in die Welt getragen wurde. Daraus entwickelten sich Dinge wie «Gay Culture» und nach einer spürbaren Sinnkrise im neuen Millennium Bücher wie «How to be Gay». Nun hat sich eine neue Gruppe gebildet, die sich «g0ys» nennen, mit einer Null geschrieben. Sie lehnen die Klischees ab, die man gemeinhin mit «Schwulen» verbindet – und sie verweigern sich strikt jeglichem Analverkehr.

Die neuen Nuller-Schwulen haben eine eigene Website errichtet, auf der gleich in der Überschrift klargemacht wird, worum es geht: «Liebe, Vertrauen, Respekt, Diskretion, Männlichkeit.» Plus ein Hinweis darauf, dass die «Mehrheit der Männer» Maskulinität bewundere, aber «sich nicht als GLITQ etc.» identifiziere.

Also raus aus der Buchstabengruppe und raus aus der erweiterten queeren «Community», zurück auf Anfang, zurück zu einem paradiesischen Garten Eden oder «Ground Zero» (O-Ton auf der Website)? Ist das eine Reaktion darauf, dass die Community als «Marke» überdehnt wurde, wegen zu grosser Diversifikation, so dass sich einzelne Untergruppen nicht mehr repräsentiert und aufgehoben fühlen? Dass in diesem Fall schwule Männer nicht mehr zusammengewürfelt werden wollen mit anderen Gruppen, deren Ideale sie nicht teilen? Die neuen «G0ys» jedenfalls sehen sich als «explosives Erwachen unter Männern im Allgemeinen – das den ganzen Erdball erfasst hat». Starke Worte, viel Propagandarhetorik, Grössenwahn?

Ultimative Respektlosigkeit
Laut Eigendefinition wollen «G0ys» tuntiges bzw. feminines Verhalten meiden, weil sie es als «feige» ansehen. Sie wollen sich auch gegenseitig nicht mehr als «Schwestern» anreden, geschweige denn mit weiblichen Vornamen. Das grösste Tabu ist für sie allerdings: Analsex!


Sie lehnen diesen grundsätzlich ab, weil er ihrer Meinung nach ein «gewaltsamer Akt» sei, der die «ultimative Form von sexueller Respektlosigkeit» darstelle.

Die Webseite klärt auf: «Mit unserer abgewogenen Position bezüglich einer grundlegenden männlichen Sexualität haben wir zwei Dinge ins Visier genommen – religiöse Fundamentalisten und die liberale queere Linke.» Demnach seien «G0ys» die «gesündesten Männer auf dem Planeten», und «sexuell übertragbare Krankheiten» seien «kein Thema» [«a virtual non-issue»].

Wie kann das sein, und wie kommt man von queeren Linken und religiösen Fundamentalisten zu Analsex? «G0ys lehnen naturgemäss JEGLICHE Form von anal-fetischistischen Aktivitäten ab!» Mehr noch: «Wir fordern dringend dazu auf, körperliche Intimität mit anderen zu meiden, die unsere Ideale ablehnen. Dadurch wird die Gefahr, sich mit sexuell übertragbaren Krankheiten zu infizieren um 1.250.000 Prozent gesenkt – im Vergleich zu Männern, die sich ‹gay› nennen!»


Ist das nur eine weitere verrückte Verschwörungstheorie, eine von vielen, die derzeit in Umlauf sind? Wie kommt diese Prozentzahl zustande? (Antwort: Man weiss es nicht genau, Quellen fehlen.) Und ist der Kampf gegen sexuell übertragbare Krankheiten das Hauptthema, wenn es um eine Gegenposition zu linken Queers und religiösen Hardlinern geht?

Begriff mit Geschichte und Bedeutung
Das Wort «G0y» soll jedenfalls aus dem Hebräischen stammen. Es werde aus verschiedenen Gründen mit einer «Null» geschrieben. Zuerst einmal wolle es eine Distanzierung von überholten schwulen Stereotypen sein, gegen die linke Queers und religiöse Fundamentalisten aus unterschiedlichen Gründen und mit nahezu gegensätzlicher Perspektive ebenfalls ankämpfen. «Ein Begriff wurde gesucht, hinter dem eine Geschichte und Bedeutung erkennbar ist, der einprägsam ist, damit ihn sich Menschen merken können, und es sollte ein Begriff sein, der Neugierde weckt.»

Und dann ist bei «Gay» natürlich der problematische Buchstabe «a» – der Anfangsbuchstabe des Wortes «Anal». Analsex wiederum sei «dreckig, gefährlich, und schlichtweg eine respektlose Verleugnung von Männlichkeit.»

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Analsex sei demnach zu «100 Prozent» immer ein gewaltsamer Akt. Denn «Fakt» sei, dass das menschliche Rektum (egal ob bei Männern oder Frauen) NICHT dafür gedacht sei, als «dick-dock» genutzt zu werden, also als «Schwanzstation». Jedes Mal, wenn das doch geschehe, werde «in irgendeiner Weise Schaden verursacht», ausserdem würden bei Analsex «über 5.000 Prozent» eher Krankheiten übertragen als bei Oralsex. (Noch so eine Zahl, die Rätsel aufgibt. Dazu eine Wortwahl, die man eigentlich aus feministischen Kontexten kennt, was hier verblüffen mag.)

Bromance bei den Griechen als Vorbild
Wer sich auf der Webseite durchklickt, wird verschiedene Texte finden, beispielsweise zu «Bromance» und zu geschichtlichen Aspekten, etwa über griechische Soldaten auf dem Balkankrieg 1912. Es wird dabei darauf hingewiesen, wie «entspannt» diese Infanteristen damals im körperlichen Umgang miteinander waren, ohne dass das Wort «Homosexualität» und «schwul» als Label benutzt worden wäre. Obwohl gleichgeschlechtliche Aktivitäten nicht ausgeschlossen werden bei diesen jungen Männern, die man auf einem Foto sieht.

Interessanterweise ist eine solche Ablehnung des vermeintlichen «westlichen» Konzepts von Homosexualität auch ein stetig wiederkehrendes Thema, wenn es um Sex zwischen Männern in traditionellen muslimischen Gesellschaften geht. Männer, die sich nicht als «homosexuell» identifizieren wollen und entsprechende Etikettierungen (verbunden mit einem «Lebensstil») ablehnen, als nicht zu ihrer Kultur und Geschichte gehörend. Das Schlagwort hier lautet oft: westlicher «Kulturimperialismus», gleichbedeutend mit einer Form von modernem «Kolonialismus». Und gegen letzteren wird ja momentan intensiv angekämpft. Auch und besonders von linken Queers sowie intersektionalen Queerfeminst*innen.

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Schon im frühen 20. Jahrhundert lehnten Aktivisten wie Adolf Brand – in scharfer Abgrenzung zu Magnus Hirschfeld – die Idee eines «Dritten Geschlechts» ab und jede Form von «sexuellen Zwischenstufen», stattdessen wollten sie Ideale der griechischen Antike wiederbeleben: virile Männlichkeit und Knabenliebe, die man heute unter dem Schlagwort Pädophilie problematisieren würde.

Auch Brands politisch stark rechtsnationale «Gemeinschaft der Eigenen» wollte damals nicht «anders sein als die anderen», sondern einem Männlichkeitsideal entsprechen, das sie als akzeptiert und bewundert von der Mehrheitsgesellschaft ansahen. Die in vielerlei Hinsicht queeren Theorien und progressiven Ideen Hirschfelds wiesen sie mit antisemitisch gefärbter Argumentation ab. (MANNSCHAFT berichtete über das 100-jährige Jubiläum von Hirschfelds Institut für Sexualwissenschaft und dessen Bedeutung.)

Tuntenstreit
Offensichtlich ist dieses Beharren auf traditionellen Männlichkeitsbildern ein stets wiederkehrendes Phänomen, denn auch im sogenannten «Tuntenstreit» der frühen 1970er-Jahre in Deutschland lehnte eine optisch «konservative» Gruppe von Männer die «schrillen» Tunten ab, die ihrer Meinung nach ein «falsches» (auch politisches) Bild homosexueller Männer in der Öffentlichkeit propagierten. Aber es waren dann die «Tunten», die die ersten CSD-Märsche in Deutschland organisierten und etablierten, auf die viele heute mit Stolz zurückblicken. Auch wenn die Diskussion um «falsche» Bilder der LGBTIQ-Community – über CSDs in die Medien und Öffentlichkeit getragen – 40 Jahre später wieder hochaktuell ist.

Tunten zwecklos? Von wegen!

Insofern könnte man die neuen «G0ys» als eine von vielen Gegenbewegungen sehen. Vermutlich muss man sie mit ihren leicht wirren Thesen und Idealen auch nicht sonderlich ernst nehmen, schliesslich bietet das Worldwide Web vielen einen Hafen zum Andocken – QAnon ist da nur das derzeit bekannteste Beispiel.

Das Herauslösen der Schwulen aus dem Queer-Bündnis
Aber die Herauslösung von «Gays» als G in der LGBTIQ-Buchstabenkette – also das mögliche Ausscheiden von schwulen Männern (gern als «alt, weiss und cis» gebrandmarkt, auch als privilegiert) aus einem neuen progressiven Queer-Bündnis – ist sicherlich ein Thema, das es lohnt weiter genau zu beobachten und kritisch zu verfolgen.

Nicht wegen dieser neuen Null-Nummer, sondern weil «G0ys» nur ein Einzelteil eines weitaus grösseren Puzzles sind. Bei dem noch nicht ersichtlich ist, was für ein Gesamtbild einmal entstehen wird.


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